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Kapitel 6 Annabell

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Beaufort House, London, Anfang Dezember 1797

Unrasiert und noch immer in seiner vier Tage alten Reisekleidung schob er den Butler seines verfluchten Schwagers zur Seite und stürmte in den Salon. Da er ihn verlassen vorfand, drehte er sich siedend vor Zorn um und bedrohte den Bediensteten, ihm unverzüglich den Aufenthaltsort seiner Gattin preiszugeben.

»Ihrer Gattin, euer Gnaden?«, erkundigte sich der Butler ruhig, und in seinem stoischen Gesicht hob sich nervenaufreibend langsam eine graue Braue. »Ich kenne den Aufenthaltsort ihrer Gnaden nicht, vermute aber, dass sie sein wird, wo euer Gnaden sie zurückließ.«

Nathan ballte die Hände, um sie nicht um den Hals des unverschämten Faktotums zu legen.

»Miss Beaufort«, knurrte er und bekam wieder eine nichtssagende Antwort.

»Euer Gnaden, ich sehe mich außerstande, den Aufenthaltsort einer Miss Beaufort …«

»Suffolk!«, bellte Nathan mittlerweile am Ende seiner Geduld. Der Butler hüstelte verlegen. »Lord Suffolk weilt nicht in London.«

»Wo ist er?«

»Euer Gnaden, zu meinem Bedauern kann ich dazu keine Angabe machen.«

Nathan glaubte, sich verhört zu haben. Aber keine Drohung, keine Bitte, kein Wort brachte die Standhaftigkeit des getreuen Butlers ins Wanken.

Nathans nächster Weg führte ihn zu Lord Windermere, der schnell unter dem Verdruss des Dukes zusammenbrach, und gestand, von seiner Nichte genötigt worden zu sein, den Mund zu halten. Windermere hatte aber keine Ahnung, wo sich die Duchess gerade aufhielt, genauso wenig wie seine Frau und Kinder, die alle antreten mussten. Nathan glaubte den beiden jungen Mädchen kein Wort, da Ninette ihn spöttisch und Marie ihn herausfordernd beobachtete. Wütend fuhr Nathan die Kinder an und erntete ein verächtliches Schnauben der vierzehnjährigen Marie: »Was wollen euer Gnaden tun? Uns schlagen? Nur zu!«

Nathan starrte das Mädchen empört an. Marie hatte kämpferisch das Kinn hervor geschoben und ihre kleinen Hände waren zu Fäusten geballt. Ninette hingegen war ganz Dame und hielt ihre verkrampften Hände verschränkt und zeigte ihm lediglich mit ihrer abweisenden Miene ihre mangelnde Bereitschaft zur Kooperation. Anscheinend hielten Annabells Verwandte tatsächlich gar nichts von ihm. Schwer atmend trat er den Rückzug an. Er hatte noch nie eine Frau geschlagen, und er würde auch nicht mit der impertinenten Marie anfangen!

Ohne ein weiteres Wort verließ er die angeheirateten Verwandten und fuhr in sein Stadthaus. Ohne große Verwunderung nahm er zur Kenntnis, dass die Dowager Duchess of Kent, die Witwe seines Bruders, sich nicht die Mühe gemacht hatte, eine Nachricht mit ihrem Aufenthaltsort zurückzulassen. Sie würde unweigerlich da sein, wo sich seine reizende, unverschämte Frau aufhielt. Nach einem Bad, einem ausgedehnten Dinner sowie einer ganzen Nacht im einsamen Bett suchte er seinen alten Freund auf und erfuhr endlich, dass sich der suffolksche Haushalt auf einer Hausparty in Wiltshire aufhielt. Stöhnend machte sich der Duke dieses Mal in einer Kutsche auf den Weg nach Belvedere Castle.


Gasthof „Queen Anne“, Nahe Rhy, Hochzeitsnacht 1789

Nathan lauschte ihren unterdrückten Schluchzern. Gerade erst hatten sie ihre Ehe vollzogen, und er war sich sicher, dass es nicht wesentlich besser verlaufen war als ihre letzte Zusammenkunft. Sein Herz schlug zum Zerspringen, aber sie bebte vor unterdrückten Tränen. Von Beginn an war sie ausweichend gewesen, zwar nachgiebig, aber eigentlich nicht willig. Sie hatte sich nicht ausziehen lassen wollen. Erduldete seine Berührung lediglich, obwohl seine Küsse zaghaft erwidert wurden. Nun drückten ihre zittrigen Finger gegen seine Brust, um ihn von sich zu stoßen. Überdeutlich erinnerte ihn diese Szene an ihr letztes Zusammentreffen. Verwirrt sah er auf sie herab. Ihr bleiches Antlitz war schmerzverzerrt, und in ihrer Stimme schwang Erschöpfung, als sie ihn flehentlich bat: »Sie sind doch fertig, oder? Bitte gehen Sie runter von mir!«

Nathan löste sich von ihr und beobachtete den Anflug von Erleichterung auf ihrem Gesicht, als er von ihr runterrutschte. Seines Gewichts ledig, rollte sie sich zur Seite und zog die Knie an die Brust. Nathan starrte sie an. Noch nie, seit er Interesse am weiblichen Geschlecht entwickelt hatte, war eine Zusammenkunft so fatal gelaufen wie diese, und er verstand den Grund dafür nicht. Er verstand nicht, was sie so anders machte und warum ausgerechnet Annabell keinen Gefallen an ihm fand. Oder verloren hatte? Er hatte es sich doch nicht eingebildet! Sie hatte ihn gemocht. Da war etwas zwischen ihnen gewesen. In der Bibliothek, am Strand! Und doch brachte sie es kaum über sich, ihn anzusehen.

Ihre Hochzeit hatte ihr den Appetit genommen und mehr noch. Sie war kaum wiederzuerkennen. Ängstlich, ausweichend, in Tränen aufgelöst und stumm. Kein keckes Wort, kein vorsichtiger Blick unter diesen dunklen Wimpern hervor, kein scheues Grinsen. Er hatte sich wahrlich nie ein Bild von seiner möglichen Gattin gemacht, aber sicherlich hätte er nie geglaubt, ausgerechnet ein Mädchen zum Altar zu führen, das es kaum über sich brachte, mit ihm zu schlafen. Und von Annabell, seiner süßen, kleinen Annabell, hatte er etwas ganz anderes erwartet. Verheißung. Versuchung. Beglückung. Vielleicht wäre es so gekommen, wenn er gewartet hätte. Wenn er sie durch seinen Übergriff vor zwei Wochen nicht so schockiert hätte, dass sie gar in Ohnmacht fiel, weil sie ihn heiraten sollte. Selbst wenn sie ihn nicht hasste, würde sie je anders für ihn empfinden? Würde sie ihm seine überstürzte Dummheit je verzeihen? Über sich selbst verärgert rutschte er aus den Laken. Ihre leisen Schluchzer begleiteten ihn aus dem Raum und verließen ihn nicht einmal, als Kanonendonner alles andere aus seinem bisherigen Leben verstummen ließ.


Kein Duke zum Verlieben!

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