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Kapitel 2

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»Dieses Lokal war mein Leben«, schluchzte Francisco Caldera. »Jetzt ist alles sinnlos, ohne Teddie …«

Der bleistiftdünne Latino saß zusammengesunken auf dem Rücksitz eines Streifenwagens, die Füße hingen seitlich aus der offenen Tür. Er hielt die Arme verschränkt und umklammerte verzweifelt seinen eigenen Körper. Kate und Taylor standen neben der offenen Wagentür.

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, fragte Kate. Mit Mühe hielt sie dem verzweifelten Blick des jungen Mannes stand, der zu ihr hochsah. Nach einem einzigen Blick auf Taylor hatte er seine Augen nicht mehr von ihr abgewendet. Obwohl sie wusste, dass dieser junge Mann ein Verdächtiger war, dass Mörder oft genauso viel oder sogar noch mehr Kummer zeigten als jeder andere, verspürte sie den fast unbändigen Wunsch, ihm tröstend über sein feines, weiches Haar zu streichen.

»Gestern Abend«, sagte er und wischte sich die Tränen ab. »Wir haben das Lokal um elf geschlossen.«

»Schließen Sie immer um elf?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir hatten einen größeren Auftrag für eine Party heute Abend. Wir haben noch Marinaden und Saucen vorbereitet …« Er hob die Hand und ließ sie mit einer hoffnungslosen Geste wieder in den Schoß fallen. Er trug ein weißes Baumwolljackett über einem lindgrünen Hemd, dazu eine großzügig geschnittene graue Hose.

»Wer ging als Erster?«, fragte Kate.

Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Seine dunklen, feuchten Wimpern schimmerten im Sonnenlicht. »Teddie. Gloria hat ihn abgeholt.« Auf Kates fragenden Blick hin fügte er hinzu: »Gloria Gomez. Die beiden wohnen zusammen – drüben auf Crescent Heights.«

Teddie hatte also mit einer Frau zusammengewohnt. Trotzdem zweifelte Kate keinen Moment daran, dass Teddie Crawford schwul gewesen war. Ebenso wie Francisco Caldera. Vielleicht war die Frau, mit der Teddie Crawford zusammengelebt hatte, lesbisch. »Haben die beiden gesagt, wo sie hinwollten?«, fragte sie.

»Sie wollten ins Malone’s. Eine Bar in West Hollywood.« Mit bitterem Selbstvorwurf fügte er hinzu: »Teddie wollte, dass ich mitkomme. Aber ich war zu müde … wollte ja unbedingt ein bisschen Schlaf nachholen. Wenn ich nur mitgegangen wäre … vielleicht würde er jetzt noch …«

Kate dachte an Joe D’Amico vom kriminaltechnischen Labor, der dauernd irgendwelche Klatschgeschichten aus den Schwulenbars in West Hollywood und Silverlake zum Besten gab. Aber der Name dieses Lokals sagte ihr nichts. Vielleicht war es erst neu eröffnet worden? Oder vielleicht keine Schwulenbar? Beiläufig fragte sie: »Hat das Malone’s ein spezielles Publikum?«

»Gemischt. Es ist eine von Glorias Lieblingskneipen. Sie war da mit ihrem neuen Freund verabredet, um ihn Teddie vorzustellen.«

Gloria Gomez war also allem Anschein nach heterosexuell. Und das Malone’s zog eine bunte Mischung von Leuten ganz unterschiedlicher sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft an, wenn sie Gloria Gomez’ Vorliebe richtig deutete.

»Diese Gloria«, sagte Taylor. »Wie hat sie sich mit Teddie verstanden?«

»Er war wie ein Bruder für sie. Alle mochten Teddie.«

»Mit einer Ausnahme offenbar. Erzählen Sie uns, was gestern Abend passiert ist.«

Caldera riskierte einen vorsichtigen Blick auf Taylor und schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was geschehen ist, nachdem Teddie das Restaurant verlassen hatte.«

Kate beobachtete ihren Partner. Sobald Taylor einem Mann begegnete, der irgendwie anders war als er selbst, musste er sich sofort aufblasen und seine vermeintliche Überlegenheit zur Schau stellen. Das jähe Aufflammen von Zorn verdrängte jeden Anflug von Müdigkeit in ihr. Francisco Caldera mochte in einer durch und durch amerikanischen Mittelschichtsfamilie geboren und aufgewachsen sein – für Taylor war er ein Latino und sonst gar nichts.

»Haben Sie mit eigenen Augen gesehen, dass Gloria Gomez ihn abgeholt hat?«, fragte Taylor.

»Sie hupte von der Allee her. Sie fährt einen Honda Civic, ich kenne die Hupe.«

Kate zog ihr Hosenbein hoch, stellte einen Fuß auf den Boden des Streifenwagens und beugte sich so weit zu Caldera vor, dass sie ihn fast berühren konnte. »Bitte sagen Sie uns«, sagte sie freundlich, »wann Sie heute Morgen hierhergekommen sind und was Sie gesehen haben.«

»Ich bin so gegen sieben ins Lokal gekommen …« Er sah sie an, seine dunklen Augen feucht vor Tränen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und versuchte so das Zittern seines Körpers in den Griff zu kriegen – ein vergebliches Unterfangen.

»Durch welche Tür sind Sie gegangen?« Taylor machte sich eifrig Notizen.

»Durch die Küchentür, wie immer. Dann sah ich Teddie dort liegen. Ich musste sehen, ob er … ich bin zu ihm gerannt … bin immer wieder ausgerutscht …«

Er senkte weinend den Kopf. Mit zitterndem Finger deutete er auf seine weißen Nike-Turnschuhe. »Das ist Teddies Bl …, das ist Teddies Blu …« Der Rest ging in erstickten Schluchzern unter.

Taylor fragte: »Haben Sie ihn berührt?«

»Ich weiß es nicht mehr, Sir.« Seine Stimme klang wie unter Wasser.

»Haben Sie die Leiche umgedreht?«

Caldera schüttelte den gesenkten Kopf. »Ich hatte Angst. Ich bin zum Telefon gerannt, dann kam die Polizei.«

»Warum hatten Sie Angst?«

Taylor sprach mit sanfter Stimme, aber Calderas Kopf zuckte hoch. »Ich habe noch nie einen Toten gesehen. Es war Teddie. Mein Freund, der beste Freund, den ich je …« Er wurde erneut von einem Weinkrampf geschüttelt.

Taylor sagte: »Sie wussten, warum er ermordet wurde, deshalb hatten Sie Angst, richtig?«

Caldera starrte ihn an, während er versuchte, die Tränen von seinen Wangen zu wischen. »Mann, wovon reden Sie?«

Kate musste eingestehen, dass Taylor gute Fragen stellte. Dennoch mischte sie sich ein. »Was können Sie uns über Teddies Bekanntenkreis sagen?«

»Er kannte Gott und die Welt. Er kannte die ganze Straße hier, alle Nachbarn, da, wo er gewohnt hat. Er kannte einfach jeden.«

»Seine Familie«, sagte Kate. »Wissen Sie etwas über seine Familie?«

Er sackte noch weiter in sich zusammen, eine Hand über den Augen. »Joe und Margaret werden einfach …« Er schüttelte den Kopf.

»Joe und Margaret?«, wiederholte Taylor, während er sich eine Notiz machte.

»Sein Onkel und seine Tante. Sie haben ihn aufgezogen. Sie wohnen in einem Wohnwagenpark in Lancaster, aber Teddie besucht sie – ich meine, besuchte sie, sooft er … konnte. Oh mein Gott … er ist tot.« Seine Tränen waren nicht mehr aufzuhalten.

Kate, die Francisco Caldera eingehend betrachtete, musste wie so oft in solchen Situationen daran denken, wie unterschiedlich Menschen – sie selbst eingeschlossen – auf einen Verlust reagierten. Die Leute waren entweder starr vor Schock und verhielten sich ruhig, fast normal, so wie sie es getan hatte, oder sie wurden vom Schmerz überwältigt. So schwierig es sein mochte, diese Qual mitanzusehen – den Schmerz herauslassen zu können hatte zumindest den Vorteil, dass der Trauerprozess in Gang und Heilung in Aussicht war.

»Es tut mir leid«, sagte Kate. »Ich weiß, dass dies sehr schwer für Sie ist. Aber um den Täter zu fassen, müssen wir so schnell wie möglich mit unseren Ermittlungen beginnen.« Sie fragte: »Hatte Teddie irgendwelche Feinde? Fällt Ihnen jemand ein?«

»Nein, niemand. Ich versichere Ihnen, Teddie war überall beliebt.«

»Jeder hat Feinde«, konstatierte Taylor.

»Teddie nicht«, beharrte Caldera mit ruhiger Überzeugung.

»Kennen Sie seine Freundin?«

»Freundin?« Caldera sah ihn an. »Teddie war schwul. Wie ich.«

Da war es. Kate staunte, mit welcher Selbstverständlichkeit Francisco Caldera darüber sprach. Sie fragte: »Wie sind Sie beide miteinander ausgekommen?« Bevor Caldera antworten konnte, formulierte sie ihre Frage direkter: »War er Ihr Geliebter?«

»Nein. Da lief nichts.« Kate hatte den Eindruck, dass ein stark bedauernder Ton in der Antwort mitschwang. »Er war mehr als ein Partner, er war wie ein Bruder für mich. Wir beide haben alles, was wir besaßen, in dieses Lokal gesteckt. Aber er war die Seele des Ganzen. Ohne ihn bin ich verloren.«

Taylor sagte fast gelangweilt: »Sie sind beide noch sehr jung. Woher hatten Sie das Startkapital?«

»Das war mein Geld. Aber er hatte die Ideen. Teddie war der geborene Restaurantbesitzer. Und er hat die Gäste bezaubert, das Geschäft fing gerade an –«

»Okay«, sagte Taylor, »woher hatten Sie das Geld?«

»Versicherung.«

Obwohl Kate ahnte, was kommen würde, wartete sie gemeinsam mit Taylor auf eine weitere Erklärung.

»Ein Freund ist gestorben, okay?«

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

»Es tut mir leid, Mr. Caldera«, sagte Kate.

Caldera zuckte die Achseln. »Nennen Sie mich Francisco. Und ich habe schon viele Freunde verloren … sehr viele.«

»Francisco«, sagte sie und lächelte. »Hatte Teddie einen festen Freund?«

Seine Züge entspannten sich, als er sie ansah. »Nichts Ernstes. Nicht seit Carl.«

»Erzählen Sie uns von Carl.«

Er zuckte die Achseln. »Da gibt’s nichts zu erzählen. Er ist Geschichte, seit über einem Jahr schon.«

Taylor fragte: »Wo können wir ihn erreichen?«

»Er steht im Telefonbuch. Carl Jacoby, Silverlake. Aber er hat mit dieser Sache nichts zu tun. Er hat die Beziehung zu Teddie abgebrochen, als sich herausstellte, dass er positiv war.«

»Teddie war HIV-positiv?« Taylors Stimme war plötzlich lebhaft geworden.

»Nein, nicht Teddie. Carl.«

»Ihr Freund Teddie hat ihn angesteckt«, kombinierte Taylor. »Stimmt’s?« Er gestikulierte so gebieterisch in Richtung Tradition, dass Kate sich beinahe umgedreht hätte. Sie stand mit dem Rücken zum Restaurant, um das unschöne Bild der blutgetränkten Küche abzuwehren.

»Nein, Teddies Test war negativ.«

Taylor schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«

»Die Vorstellung, Teddie angesteckt zu haben, machte Carl große Angst. Er war so außer sich, dass er aus Teddies Leben verschwand.« Er sah Kate an, während er sprach. »Das passiert. Wenn du positiv bist, siehst du alles mit anderen Augen. Alles.«

Der Kriminaltechniker Napoleon Carter und sein Team waren am Tatort eingetroffen, außerdem die Expertin für Blutspuren, Charlotte Mead, der Fotograf Ted Carlton sowie Shapiro, der Fotograf vom Wilshire-Revier.

Kate sagte: »Wir werden später noch einmal mit Ihnen sprechen müssen, Francisco.« Leise fragte sie: »Wie alt war Teddie?«

»Dreiundzwanzig«, sagte er und brach in Tränen aus.

Das Tradition war aus allen Ecken und Winkeln fotografiert worden. Der Leichnam von Teddie Crawford stand zwar nicht mehr unter Blitzlichtbeschuss, würde aber trotzdem noch eine geraume Weile auf dem Boden liegen bleiben müssen. Charlotte Mead und Ted Carlton hatten gerade erst mit ihrer Arbeit begonnen. Am Ort des Verbrechens breitete sich in der erwachenden Tageshitze allmählich der starke Kupfergeruch des Blutes aus.

»Ed, Kate«, bellte Charlotte Mead von der Spüle aus.

Kate lächelte der großen, hageren Frau im blauen Kittel zu. Sie hatte schon in mehreren Mordfällen, in denen eine Blutspurenanalyse nötig gewesen war, mit ihr zusammengearbeitet. Charlotte Mead war brillant in ihrem ebenso komplizierten wie mühevollen und ausgefallenen Beruf.

»Kommen Sie hier herüber – alle beide«, befahl Mead. »Stecken Sie die Hände in die Taschen! Wehe, Sie fassen was an! Ed, passen Sie auf, wo Sie Ihre Elefantenfüße hinsetzen.« Sie deutete auf eine Kreideroute, die um das Blutbad auf dem Boden herumführte.

Taylor schritt über die Türschwelle. »Keine Sorge, ich geh auf Zehenspitzen – wie eine Elfe.« Er stopfte die Hände in die Jackentaschen, Kate tat es ihm gleich – eine routinemäßige Vorsichtsmaßnahme, um nicht einmal versehentlich einen Gegenstand zu berühren. Kate war allerdings überzeugt, dass es für Taylors Vorsicht diesmal noch einen tieferen Grund gab: Der Tote war schwul gewesen, und dieser Raum schwamm in Blut.

»Euer Messerstecher hat sich geschnitten«, verkündete Mead. »Sehen Sie diesen hübschen runden Blutstropfen?« Sie deutete mit ihrem Stift auf einen kreisrunden roten Fleck auf der Abstellfläche neben der Spüle. »Wir haben einen Swimmingpool auf dem Boden, aber dieser Tropfen hier ist mutterseelenallein. Also kann er kaum vom Toten stammen. Und hier drüben auf einem der Wasserhähne ist auch Blut. Und hier an der Seife. Im Abfluss werden wir zweifellos ebenfalls Blut finden. Der Täter hat versucht, sich zu säubern.«

Meads verwitterte Gesichtszüge traten vor Eifer noch schärfer hervor. Ihr berufsmäßiges Interesse an diesem frischen Mordschauplatz schien noch relativ ungetrübt. Meads Aufgabe war es, den Tathergang für die Geschworenen zu rekonstruieren. Nur zu oft erschwerte die Polizeipräsenz – vielmehr deren Hände und Füße – diese Aufgabe.

Kate sah mit Respekt und ein wenig Neid auf Charlotte Mead. Ihr Fachwissen – und das der anderen Kriminaltechniker – war der einzig wirklich unparteiische Aspekt einer Mordermittlung. Mead stand nur auf der Seite ihrer wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse, und ihre Zeugenaussage vor Gericht konnte ebenso gut die Staatsanwaltschaft wie die Verteidigung zur Verzweiflung treiben. Egal, um was es gehen mochte, sie hielt sich strikt an die Fakten.

Kate sagte: »Gibt es sonst noch etwas, das Sie uns jetzt schon sagen können?«

Mead zeigte auf die Wand und die Schränke hinter der Leiche von Teddie Crawford. »Da sind ausgeprägte Schleuderspuren.« Mit ihrem Stift beschrieb sie einen Bogen in der Luft und zeichnete die schwachroten Blutspritzer nach, die sich auf den weißen Oberflächen weit nach oben zogen. »Euer Mann hat beim Zustechen Blut abgeschleudert. Sein eigenes Blut. Er hat zweifellos Schnittwunden. Überprüfen Sie die Krankenhäuser und Kliniken.«

»Wir werden das sofort veranlassen, Charlotte. Von der Waffe keine Spur, oder?«

»Sie wissen doch, Kate – die meisten schieben ihren Schniedel wieder in den Stall.«

»Ich frag ja nur.« Kate grinste sie an. Nach einer verbreiteten Ansicht unter Kriminalern deutete das mehrfache Zustechen mit einem Messer auf sexuelle Pathologie hin.

Meads blaue Augen fixierten die Leiche auf dem Boden. Sie schüttelte den Kopf. »Schauen Sie sich das bloß an. So ein schöner Mann. Es ist wirklich ein Jammer.«

Einen Moment lang betrachteten sie beide schweigend Teddie Crawford. Dreiundzwanzig Jahre waren alles, was er erlebt hatte. Um den Rest hatte man ihn betrogen.

»Seien Sie vorsichtig, Charlotte«, warnte Taylor. »Der Typ war schwul, wissen Sie.«

Kate warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

Charlottes Stimme blieb ebenso ausdruckslos wie ihr Gesicht. »Ich bin die Vorsicht in Person, Ed.«

Hansen informierte Kate und Taylor, dass Gloria Gomez im Tradition eingetroffen war.

»Bringen Sie sie aufs Revier«, ordnete Kate an. »Ed und ich werden gleich da sein. Fred«, fügte sie hinzu, »sagen Sie uns umgehend Bescheid, wenn der Gerichtsmediziner da ist.« Sie wollte dabei sein, wenn Teddie Crawfords Leiche abtransportiert wurde. Charlotte Mead hatte ihr nützliche Informationen gegeben. Zu wissen, dass der Mörder verletzt war, grenzte die Zahl der Verdächtigen schon erheblich ein.

Vor den gelben Absperrbändern, die das Tradition abschirmten, hatten sich zahlreiche Schaulustige und Zeitungs- sowie Fernsehreporter versammelt. In trauter Eintracht warteten Menge und Fernsehkameras auf die gerechte Entlohnung für das lange Ausharren: einen kurzen Blick auf die Bahre mit der Leiche Teddie Crawfords, die zum bereitstehenden Wagen der Gerichtsmedizin gerollt wurde.

Inzwischen war auch Lieutenant Bodwin eingetroffen und betrat in Begleitung von Kate und Taylor das Tradition. Taylor informierte ihn über das Nötigste. Ohne eine Regung in den tiefen Furchen seines Gesichts musterte Bodwin von der Türschwelle aus die Küche, kein Wort kam über seine Lippen. Seine Aufgabe würde es sein, mit der Presse zu sprechen.

»Charlotte sagt, der Täter hat sich verletzt, Lieutenant«, berichtete Taylor. »Wir brauchen jemanden, der sofort alle Krankenhäuser und Ärzte überprüft.«

Ein kaum wahrnehmbares Zucken ging durch Bodwins Körper. Ohne den Blick vom Küchenboden abzuwenden, antwortete er: »Er müsste schon ein verdammter Volltrottel sein, um in ein Krankenhaus zu gehen, oder?« Damit kehrte er der Küche und dem arbeitenden Laborteam den Rücken zu.

»Gut für uns, dass es so viele Volltrottel unter den Verbrechern gibt«, entgegnete Kate freundlich.

Bodwin wusste so gut wie sie, dass kriminelles Verhalten wenig mit Intelligenz zu tun hatte. Seine spontane Bemerkung hing eher mit seiner unversöhnlichen Abneigung gegen Charlotte Mead zusammen. Mead, die alle Statusfeinheiten grundsätzlich ignorierte, würde selbst Chiefinspector Daryl Gates zur Schnecke machen, sollte er sich je erdreisten, die Unberührbarkeit eines Tatorts zu verletzen. Lieutenant Bodwin jedenfalls hatte es bitter bereut, dass er einmal unbedarft in einen Verbrechensschauplatz hineinmarschiert war. Charlotte Mead hatte seine Fingerabdrücke auf einem Beweisgegenstand gefunden und dafür gesorgt, dass der Bericht in der ganzen Abteilung die Runde machte.

»Ich werde jemanden damit beauftragen«, sagte Bodwin und ging hinaus, um sich den Fernsehkameras zu stellen.

Gloria Gomez trug schwarze Jeans und einen weißen Baumwollpullover. Mit ihrem dunklen Haar, das ihr offen auf die Schultern fiel, wirkte sie weit jünger als zwanzig Jahre. Ihre schmalen Kinderhände lagen eng gefaltet auf dem resopalbeschichteten Tisch des Verhörraums.

»Ich muss Teddie sehen«, flüsterte sie, die dunklen Augen stumpf vor Schock. »Ich … kann es einfach nicht begreifen, bevor ich Teddie nicht gesehen habe.«

Kate nickte. »Ich verstehe«, sagte sie. Niemand hätte Kate damals davon abhalten können, in jenes ausgebrannte Autowrack auf dem Hollywood Freeway zu schauen. Ihr Bedürfnis, Anne zu sehen, war übermächtig gewesen. »Aber es wird noch eine Weile dauern, bis das möglich ist«, fügte sie hinzu.

Gloria Gomez würde Teddie frühestens in ein paar Tagen zu sehen bekommen – wenn überhaupt. Vielleicht wäre es gar nicht das Schlechteste, dachte Kate, wenn sich der Abschied von Teddie noch ein wenig hinauszögert, der Anblick der entstellten Leiche könnte unmittelbar nach der Obduktion ein noch schrecklicherer sein. Im Anschluss müssten seine nächsten Verwandten – wahrscheinlich Joe und Margaret Crawford – erst einmal darüber entscheiden, was mit der Leiche geschehen sollte. Je nachdem, welche Begräbniszeremonie die Familie Crawford für angemessen hielt, würde Gloria Gomez vielleicht noch einmal einen Blick in den offenen Sarg werfen können. Teddies Gesicht schien nur geringfügig verletzt zu sein, und die Kleidung würde den zerschundenen Körper verbergen, so dass Gloria sich ihren Wunsch erfüllen und von ihrem Freund in Frieden Abschied nehmen könnte.

»Gloria«, sagte Taylor, »wir wissen, wie schwer das Ganze für Sie ist. Aber bitte versuchen Sie, mit uns zu sprechen. Wann haben Sie Teddie das letzte Mal gesehen?«

Kate warf ihm einen schnellen Blick zu. Sein Verhalten gegenüber Gloria Gomez war so rücksichtsvoll, wie es Francisco Caldera gegenüber unpersönlich gewesen war.

»Gestern Abend …« Die junge Frau stockte.

»Gestern Abend …«, wiederholte Taylor ermutigend. Er lehnte sich zurück, kreuzte einen Fuß über das Knie und versuchte mit seiner lässigen Körperhaltung Gloria Gomez die Anspannung zu nehmen. »Erzählen Sie uns, was gestern passiert ist.«

»Ich habe ihn wie versprochen vom Tradition abgeholt –«

»Wo war Teddies Auto?«

»Er hat … hatte kein Auto.«

»Wann haben Sie ihn abgeholt, Gloria?«

»Punkt elf. Wir sind dann wie geplant ins Malone’s gefahren.«

»War sonst noch jemand dabei?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte mich mit Paul verabredet. Ich wollte, dass Teddie ihn kennenlernt.«

»Wie heißt Paul mit Nachnamen?«

»Lopez … Paul Lopez. Teddie mochte ihn – er hat uns Bier geholt …« Ihr Blick schien ins Leere zu gehen.

Kate musste an Aimee denken, an die Mordermittlung vor knapp zwei Monaten, wie sich das Entsetzen über Owen Sinclairs Tod in Aimees leeren Augen widergespiegelt hatte. Sie musste sie unbedingt anrufen und ihr sagen, dass noch nicht abzusehen war, wann sie nach Hause kommen würde. Und vor allem, ermahnte sie sich selbst, musste sie unbedingt alle überflüssigen Gedanken ausschalten und sich auf den brutalen Mord an einem Schwulen konzentrieren, auf die Arbeit, die hier in diesem Augenblick anstand.

»Er kann nicht tot sein«, sagte Gloria Gomez an Kate gewandt. »Es gibt einfach keinen Grund …«

»Nein, es gibt wirklich keinen Grund«, sagte Kate ruhig. »Es tut mir sehr leid.«

»Der Mann, den er kennengelernt hat … hat er …?«

Kate tauschte rasch einen Blick mit Taylor. »Was können Sie uns darüber sagen?«

»Nicht viel. Teddie hat einen Typ kennengelernt. Sie sind zusammen weggegangen.«

An dem nüchternen Ton, in dem Gloria antwortete, merkte Kate, dass sie noch immer unter Schock stand. »Wie war sein Name?«

»Lyle … Miles … irgendwas in der Art. Ich habe kein gutes Namensgedächtnis … Ich habe kaum ein Wort mit dem Kerl gewechselt.«

»Ich entnehme Ihren Worten, dass Sie diesen Kerl nicht besonders mochten«, spekulierte Kate.

»Teddie steht auf ganz andere Typen als ich. Machos.« Ihr Versuch zu lächeln missglückte zu einer traurigen Grimasse. »Stimmt, ich mochte ihn nicht. Ich kann nicht genau sagen, warum.«

»Wie hat er ausgesehen?«

»So ’n Ramboverschnitt. Sie wissen schon, Typ Gockel – Brust raus und hautenges T-Shirt.«

Kate nickte ihr aufmunternd zu. »Hat er das angehabt? Ein T-Shirt?«

»Ja, genau. Ein schwarzes. Und ’ne Fliegerjacke.«

»Welche Farbe hatte die Jacke?«

»Dunkel … dunkelbraun. Vielleicht schwarz.«

»Erinnern Sie sich, was für eine Hose er getragen hat?«

»Jeans.«

»Normale Jeans?«

»Ach ja, jetzt fällt’s mir wieder ein. Das war einer der Gründe, warum ich ihn nicht mochte. Seine Jeans. Total zerschlissen. Flicken auf den Knien. Leute, die sich extra Klamotten kaufen, in denen sie arm aussehen, machen mich krank.«

Ihre Stimme bebte vor Empörung – für Kate ein deutliches Zeichen fehlgeleiteter Emotionen. Sie versuchte, ihre eigene Stimme ruhig klingen zu lassen, und fragte: »War er dunkelhaarig? Blond?«

»Blond. Fisselig. Kurz vorm Kahlschlag.«

Kate nickte. »Erinnern Sie sich an seine Augenfarbe?«

Sie überlegte. »Blau, glaube ich.«

»Was schätzen Sie, wie alt er war?«

Gloria zuckte die Achseln. »Älter als Teddie. Vielleicht dreißig. Er hatte einen Schnurrbart. Ich kann Männer mit Fusseln im Gesicht nie so richtig einschätzen.«

»Ich auch nicht«, bestätigte Kate lächelnd und machte sich eine weitere Notiz auf ihrem Block. Gloria Gomez erwies sich allem Anschein nach als sehr gute Zeugin. »Der Schnurrbart. War er dünn? Mittel? Dick?«

»Dick. Je dünner die Haare, desto dicker der Schnurrbart. Ist doch so, oder?«

Kate lächelte erneut. »Würden Sie ihn wiedererkennen?«

»Klar.«

Kate schlug eine neue Seite in ihrem Notizbuch auf. »Gloria, bitte erzählen Sie uns genau, was gestern Abend im Malone’s passiert ist.«

Seufzend setzte die junge Frau sich auf dem Metallstuhl gerade hin. »Wir sind reingegangen, es war voll. Paul saß an einem Tisch. Ich habe die beiden einander vorgestellt. Teddie ist an die Bar gegangen, um uns eine Runde Bier zu holen. An der Theke hat er dann gleich mit diesem Typ gesprochen. Dann hat er sich ’ne Weile zu uns gesetzt, aber ich hab gesehen, dass er die ganze Zeit zur Bar rüberstarrte. Ich hab ihn ein bisschen damit aufgezogen.«

Taylor hielt im Schreiben inne und sah von seinem Notizbuch hoch. »Paul wusste, dass Teddie schwul war?«

»Sicher. Paul hat ihn auch geneckt. Sagte, er würde die nächste Runde ausgeben, aber Teddie könne gern das Bier von der Theke holen, wenn er Lust hätte.«

»Und hat er?«, fragte Taylor.

»Ja, das hat er. Er hat sich dann wieder mit dem Typ unterhalten.« Sie lehnte sich vor, die Arme gekreuzt. Die kleinen Hände krampften sich in die Innenseiten der Arme. »Er brachte das Bier an den Tisch, sagte, er käme später noch mal zu uns. Ich hab dann nicht weiter auf ihn geachtet, Paul und ich haben uns unterhalten, aber plötzlich steht Teddie mit dem Kerl an unserem Tisch und verabschiedet sich.« Die Hände krampften sich erneut ineinander, die Knöchel und Fingerspitzen traten weiß hervor. »Teddie hat Paul die Hand gegeben, er … hat mir einen Gutenachtkuss gegeben. Ich hab noch zu ihm gesagt, er soll vorsichtig sein. Aber ich meinte … ich hatte nicht gedacht, dass …«

Kate fragte: »Hat der Mann sich auch mit Ihnen unterhalten?«

»Ja, aber ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat.«

»Hatte er vielleicht einen Akzent? Gab es irgendetwas Auffälliges an seiner Sprechweise?«

»Hmm.« Gloria zupfte an ihren Haarspitzen und grübelte.

»Würden Sie uns helfen und gemeinsam mit einem Polizeizeichner ein Bild von diesem Mann zusammensetzen?«

»Natürlich. Klar. Alles, was Sie wollen.«

Kate sagte: »Erzählen Sie uns ein bisschen von Teddie. Wie haben Sie sich kennengelernt? Wie kam es, dass Sie zusammengezogen sind?«

»Wir waren an der Uni vor ein paar Jahren zusammen in einem Psychologieseminar. Wir haben uns gegenseitig geholfen, uns gut verstanden. Wir blieben Freunde. Er und Carl haben sich getrennt, ich verlor meine Untermieterin, Teddie ist bei mir eingezogen. Ich bin noch in der Ausbildung und bei der Miete auf jeden Cent angewiesen, den ich kriegen kann.«

»Wovon leben Sie?«, fragte Kate.

»Ich arbeite nachts im Cineplex am Beverly Center. Manchmal helfe ich auch im Tradition aus, wenn sie im Stress sind, aber ich mag diese Art von Arbeit nicht besonders. Meine Brüder unterstützen mich ein bisschen, um mich durchs Studium zu bringen. Ich studiere Chemie. Noch drei Semester, dann hab ich’s geschafft.« Ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, dass dies der unumstößliche Lauf der Dinge sein würde.

Taylor fragte: »Wann haben Sie erfahren, dass Teddie schwul ist?«

»Auf den ersten Blick.« Sie lächelte kurz. »So viele schwule Männer sind einfach atemberaubend, es ist das Erste, was man denkt, wenn man einen wirklich gutaussehenden Mann sieht. Nachdem ich ein paar Worte mit Teddie gewechselt hatte, wusste ich es – und er hat sowieso nie ein Geheimnis daraus gemacht. Teddie war stolz darauf, schwul zu sein.«

»Stolz?« Taylor sah von seinem Notizbuch auf.

»Ja, stolz.« Die dunklen Augen verloren etwas von ihrer Stumpfheit und richteten sich herausfordernd auf Taylor. »Irgendwelche Probleme damit?«

Taylor zuckte die Achseln. »Manche Männer haben Probleme damit. Hat er häufig neue Männer aufgegabelt?«

»Andersrum. Teddie war …« Gloria fixierte Taylor. »Okay, er war sehr feminin, eine Tunte. Er war wunderschön, zog sich flippig an, war klug und geistreich und konnte sich vor Verehrern kaum retten. Aber er war auch vorsichtig. Ich meine, ich habe ihm dauernd in den Ohren gelegen. Heutzutage hat man Angst um jeden schwulen Mann.«

Taylor lehnte sich vor. »Hat er viel getrunken?«

»Ein Bier ab und zu. Manchmal ein Glas Wein. Er hat mir jedes Mal die Hölle heiß gemacht, wenn ich in seiner Gegenwart Alkohol getrunken habe.«

»Hat er sonst was genommen?«

Kate wusste, dass er an die Glasplatte in der Restaurantküche dachte. Eine Party, die außer Kontrolle geraten ist, hatte Taylor gesagt. Ziemlich außer Kontrolle.

»Sie meinen Drogen?«, fragte Gloria entrüstet. »Machen Sie mal halblang.«

»Viele Leute nehmen hin und wieder eine Prise Koks«, sagte Taylor harmlos.

»Stimmt. Und ich verstehe nicht, warum Leute wie Sie deshalb einen solchen Zwergenaufstand veranstalten. Aber Teddie nicht. Nicht mal ’nen Joint.«

»Das kann man nie mit Sicherheit sagen«, erklärte Taylor mit deutlicher Skepsis.

»Bei Teddie schon«, entgegnete Gloria Gomez. »Basta.«

»Gloria«, sagte Kate, »erzählen Sie uns von Teddie.« Wenn sie an Teddie Crawford dachte, sah sie immer nur das Blutbad in der Küche des Tradition vor sich. Sie musste sich unbedingt ein anderes Bild von ihm machen.

»Der liebenswerteste Mensch … mein bester Freund. Francisco ist so ein fabelhafter Koch, ein wahrer Zauberkünstler. Teddie hat immer was zu essen aus dem Restaurant mitgebracht.« Glorias Stimme wurde sanft. »Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam oder aus der Uni, immer war was zu essen da. Er hat meine Wäsche gemacht, mir geholfen, wo er konnte. Teddie hat sich immer viel mehr um andere Leute gekümmert als um sich selbst.«

»Was für andere Leute?«, fragte Taylor. »Außer Ihnen und Francisco?«

»Einfach alle. Bei mir kommen und gehen die Kerle wie Pingpongbälle. Aber Teddie, er blieb irgendwie mit allen befreundet, die er kennenlernte. Sogar mit Ex-Liebhabern. Seine Freunde starben, aber Teddie hat sich vom Tod nicht unterkriegen lassen. Teddie – er war einfach unglaublich. Ich hab ihm das immer wieder gesagt, jeden Tag …« Sie lächelte zärtlich, in Erinnerungen versunken, und Kate sah in ihren dunklen Augen die Tiefe des kommenden Schmerzes. »Mrs. Sheffield, unsere Nachbarin am Ende des Flurs«, sagte Gloria. »Sie ist achtundsiebzig. Teddie hat jeden Tag bei ihr vorbeigeschaut, den Müll für sie rausgetragen – sie vergöttert ihn. Und Joe und Margaret – er hat sich rührend um sie gekümmert. Teddie war … Teddie war …«

»Ein Heiliger?«, schlug Taylor vor.

Gloria Gomez sah ihn an und schwieg. Ihre Lippen wurden schmal.

Als das Schweigen sich vertiefte, beschloss Kate, das Gespräch zu beenden, und sei es nur, um mit anderen Zeugen zu sprechen. »Paul Lopez«, sagte sie. »Wo können wir ihn erreichen?«

Gloria Gomez zog ein Adressbuch aus ihrer Umhängetasche, schlug eine Seite auf und reichte es Kate, die sich die Adresse, Hobart Avenue in Hollywood, und die Telefonnummer notierte.

Es klopfte an der Tür des Vernehmungszimmers. Taylor stemmte sich aus seinem Sessel und bat um Entschuldigung. Einen Moment später gab er Kate von der Türschwelle aus ein Zeichen und verschwand.

Sie erhob sich. »Gloria, wir bringen Sie jetzt zu unserem Polizeizeichner. Und Sie müssen Ihre Aussage unterschreiben.«

Als sie den Verhörraum in Begleitung von Gloria Gomez verließ, sah sie aus den Augenwinkeln, dass Taylor in der Mordkommission mit dem Staatsanwalt Bud Sterling sprach. Silber-Sterling, diesen Spitznamen hatte man ihm wegen seiner Erfolge vor Gericht gegeben. War es möglich, dass dieser hochkarätige Staatsanwalt sich für den Fall interessierte?

»Detective Delafield«, sagte Gloria Gomez, als sie beim Erkennungsdienst vorbeikamen. Kate wandte sich ihr zu. Die Augen der jungen Frau wirkten tiefschwarz in einem Gesicht, das alle Farbe verloren hatte. »Sie müssen dieses Schwein erwischen.«

Kate nickte. »Ich kriege ihn.«

»Zwei Nachrichten«, verkündete Taylor, als Kate an ihren Schreibtisch kam. »Ein Verdächtiger …« Er schaute in sein Notizbuch. »Kyle Jensen, ein Weißer, blond. Im Hollywood Presbyterian Hospital. Wird gerade erkennungsdienstlich überprüft. Hat Schnittwunden an den Händen. Sie halten ihn fest, zwei Beamte sind auf dem Weg. Und Hansen hat Bescheid gesagt, dass Everson jetzt im Tradition ist.«

»Gut«, sagte Kate. »Da fahren wir zuerst hin. Was wollte Bud Sterling?«

»Hat von dem Fall gehört.«

»Das habe ich mir fast gedacht. Hast du ihm erzählt, dass wir vielleicht einen Verdächtigen haben?«

»Klar, ich habe ihm alles erzählt, was wir wissen.«

»Was hat er gesagt?« Taylors phlegmatische Antworten töteten ihr den letzten Nerv.

Er zuckte die Achseln. »Er meinte, er wird sich drum kümmern.«

»Ich wollte schon immer gern mit ihm zusammenarbeiten.« Sie warf sich ihre Umhängetasche über die Schulter und versuchte, etwas von ihrem Eifer auf ihn zu übertragen. »Lass uns dafür sorgen, dass es ein leichter Fall für ihn wird, Ed.«

Als Taylor in den Plymouth kletterte, brummte er: »Warum zum Teufel müssen wir jetzt noch mal zur Leiche zurück. Wir haben einen lebendigen Verdächtigen.«

»Er läuft uns nicht weg«, antwortete sie und rutschte hinters Steuer. »Ich möchte hören, was Everson zu sagen hat. Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns den Tatort genauer anzusehen. Oder die Leiche.«

»Die Obduktion ist Montag.«

»Da musst du hin, Ed. Ich habe einen Termin bei Gericht, die Vorverhandlung im Fall Weldon. Trotzdem müssen wir uns den Tatort noch mal ganz genau ansehen – bevor wir diesen Verdächtigen befragen.«

»Willst du die Messerstiche in der Leiche zählen oder was? Was gibt’s da zu sehen?«

»Seine Hände«, sagte Kate, während sie den Wagen durch die Polizeiautos auf dem Revierparkplatz bugsierte.

»Warum? Was bringt’s, wenn er Abwehrwunden hat? Oder keine? Wir wissen, was passiert ist.«

Sie verlor allmählich die Geduld. »Okay«, sagte sie. »Was wissen wir also?«

»Den üblichen öden Scheiß. Teddie baggert diesen Typ an, sie fahren ins Tradition, schnupfen Koks. Teddie geht ihm an die Wäsche, und der Typ macht ihn zu seiner persönlichen Dartscheibe.«

»Der übliche öde Scheiß«, wiederholte Kate verächtlich.

»Komm schon, Kate. So wie die leben, fordern die das doch heraus.«

Kate raste den Venice Boulevard hinunter. Bleib cool, bleib ganz ruhig, befahl sie sich selbst. Aber es hatte etwas Befreiendes, den Zorn herauszulassen. »Wenn Teddie Crawford jemanden in einer Bar kennenlernt und dafür sterben muss, ist das also der übliche öde Scheiß. Wenn Florence Delgado nachts die La Brea Street entlanggeht und dafür sterben muss, ist das der übliche öde Scheiß. An dem Tag, wo ich das Gefühl habe, dass es der übliche öde Scheiß ist, einen Mörder hinter Schloss und Riegel zu bringen, schmeiß ich den Job hin.«

»Was ist das jetzt für ein Scheiß? Ich bin Polizist, du bist Polizist. Wieso diskutieren wir über so was überhaupt?«

»Weil du glaubst, dass Teddie Crawford den Tod verdient hat«, sagte sie mit schneidender Stimme.

»Himmelherrgott, niemand hat den Tod verdient. Aber einige Leute fordern es verdammt noch mal heraus. Das weißt du ganz genau, Kate.«

»Richtig«, schnappte sie. »Der entschuldbare Mord. Wenn die Opfer öde Scheißer sind und so weiter.«

»Die Opfer sind blöde Scheißer«, sagte Taylor hitzig. »Die Opfer –«

»Kriegen, was sie verdient haben – das wolltest du doch sagen. Du hast die Fragen dieser Welt gelöst.«

»Mein Gott noch mal, Kate. Ich habe die Welt nicht gemacht. Ich habe nicht den Eindruck, dass du irgendwelche klugen Antworten auf die Probleme hast.«

»Ich habe keine.« Die Abruptheit, mit der sie das Thema abbrach, war gegen sich selbst gerichtet. Das Brett vor Taylors Kopf war heute nicht dicker als irgendwann sonst in den sieben Jahren ihrer Zusammenarbeit. Was für einen Sinn hatte es, mit ihm herumzustreiten?

Die Menschenmenge vor dem Tradition war weiter angewachsen. Bald würden sie ihr Schauspiel bekommen: Der Wagen der Gerichtsmedizin parkte bereits vor dem Gebäude.

Kate stellte den Plymouth auf demselben Parkplatz ab, den sie am Morgen benutzt hatte. Innerlich kochte sie noch immer vor Wut über das Gespräch mit Taylor. Sie ging zum Block zurück und bahnte sich ihren Weg durch die Menge. Taylor folgte ihr, hielt jedoch einige Schritte Sicherheitsabstand.

Everson, die Arme ordentlich vor seinem Tweedjackett verschränkt, stand in der Küche neben der Spüle und unterhielt sich mit Charlotte Mead.

»Mein Gott, hier stinkt’s wie im Schlachthof«, beschwerte sich Taylor von der Türschwelle aus.

»Charlottes Parfüm«, sagte Everson.

»Genau«, knurrte Mead und sah von ihrem Klemmbrett hoch. »Eau de Schlachthof.«

Grinsend betrat Kate die Küche. Sie mochte diesen Gerichtspathologen, seine anspruchsvolle Aufmachung wirkte immer ein bisschen absurd angesichts der Blutbäder, die er aufsuchte, aber sie spiegelte seine Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt wider. »Wie geht’s Ihnen, Walt?«

Everson deutete auf den Fußboden. »Besser als ihm.«

»Wann ist es passiert?«, fragte Taylor.

»Nicht vor ein Uhr gestern Nacht«, antwortete Everson. »Ich schätze, zwischen ein und drei Uhr.«

»Hat er Abwehrwunden?«, fragte Kate.

Everson nickte. »Die Leichenstarre ist zwar fast vollständig eingetreten, aber ich kann Ihnen was zeigen.«

Er zog ein Paar frische Gummihandschuhe aus seiner Arzttasche, streifte sie über und kniete sich neben die Leiche von Teddie Crawford. Kate und Charlotte Mead hockten sich neben ihn, Taylor beugte sich vorsichtig von hinten über sie. Everson griff mit beiden Händen nach Teddie Crawfords linkem Arm und drehte ihn unter sichtlicher Anstrengung ein Stück herum. Die blutige Handfläche wies einen deutlichen Schnitt auf. Everson wiederholte die Prozedur mit der rechten Hand. Die Handfläche wies ebenfalls tiefe Schnittwunden auf, der kleine Finger war fast völlig abgetrennt.

»Klassische Abwehrwunden«, erläuterte Everson.

»Seine Hände müssen eingetütet werden«, sagte Taylor.

»Danke, Ed«, flötete Charlotte Mead. »Da wären wir allein nie drauf gekommen.«

Kate erlaubte sich, Taylors Unbehagen einen Moment lang zu genießen. »Keine Uhr, kein Schmuck«, überlegte sie laut, während sie Teddie Crawfords Hände und Handgelenke betrachtete. »Walt«, fragte sie im Aufstehen, »haben Sie eine Brieftasche gefunden?«

»Nein, aber da ich wusste, dass Sie noch kommen, habe ich ihn nicht umgedreht.« Er beugte sich über die Leiche. »Gehen Sie ein Stück zurück, bitte.«

Er griff nach den Schultern von Teddie Crawford und drehte ihn auf die Seite. Die Hände und Arme, steif durch die Leichenstarre, bewegten sich nicht, aber aus mehreren Wunden im Rücken strömte Blut in leuchtend roten Kaskaden auf den Boden. Kate starrte verwirrt auf die roten Rinnsale. Wenn Teddie Crawford noch immer blutete, wie konnte er da tot sein? Ihre Gedanken wanderten zu einer Ermittlung, die sie vor fünf Monaten durchgeführt hatte. Ein drei Monate altes Baby war an einem heißen Septembertag mehrere Stunden lang im Auto zurückgelassen worden, während die Eltern in Seelenruhe einen Einkaufsbummel machten. Sie selbst hatte das Baby aus dem Wagen gehoben, ein kleines blondes Mädchen, das sich noch ganz warm anfühlte; aus dem kleinen rosigen Mund waren Speichelblasen gekommen. Eine Sekunde lang hatte sich die wilde Hoffnung in ihr geregt, das Mädchen könne noch am Leben sein. Irgendwer hätte einfach die Uhr zurückgedreht, das Unglück war nie geschehen. Später klärte sie der Gerichtsmediziner auf, dass die scheinbaren Lebenszeichen damit zusammenhingen, dass der kleine Körper innerlich noch am Kochen war. Und das Blut, das jetzt aus Teddie Crawfords Körper strömte, hatte sich in den offenen Stichwunden angesammelt, weil er mit dem Rücken auf dem Boden lag und es vorher nicht abfließen konnte. Es gab kein Zurück – weder jetzt noch damals.

»Der Täter muss einen neuen Rekord aufgestellt haben«, murmelte Everson. Er kniete sich hin und studierte die Stichwunden, während sich frische Blutlachen auf dem Boden bildeten. »Alles in allem an die vierzig Stiche.« Er betastete die Gesäßtaschen der blutgetränkten Hose, fuhr mit der Hand in jede hinein. »Nichts«, sagte er. Vorsichtig drehte er den Körper in die ursprüngliche Position zurück, stand auf, streifte die nassen roten Handschuhe ab und ließ sie in einen Plastikbeutel fallen. »Können wir ihn mitnehmen?«, fragte er Kate.

»Er gehört euch.« Der Kupfergeruch im Raum war unerträglich, drang ihr in dir Nase, heftete sich an ihre Kleidung. Ihre Kordsamtjacke und ihre Gabardinehose waren frisch aus der Reinigung gekommen. Sie würden gleich wieder retour gehen müssen.

Als Everson sein Diktiergerät herausholte und hineinzusprechen begann, wandte sich Kate an Charlotte Mead. »Können Sie uns noch etwas sagen?«

Mead packte ihr Klemmbrett in die Kiste mit den Beweismitteln. »Nichts, was Sie nicht sehen könnten. Die Blutspritzer sind nicht mehr als 94 Zentimeter vom Boden entfernt, mit Ausnahme der Schleuderspuren. Der Täter hat das Opfer zu Boden geworfen, und das war’s.«

Kate deutete auf die Wand, auf ein Muster von vertikalen Wellenlinien dicht über dem Boden. »Das sieht merkwürdig aus.«

»Nicht, wenn Sie wissen, was es ist«, sagte Mead mit einer winzigen Spur von Sarkasmus. »Das Opfer ist nicht mehr hochgekommen, aber er muss sich mit seinen blutgetränkten Haaren einmal quer durch den Raum gewälzt haben, während man auf ihn eingestochen hat. Dann ist er mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen.«

Der Kriminaltechniker Napoleon Carter von der Spurensicherung kam herein, um die Hände des Opfers mit Plastiktüten zu umbinden. Zwei Mitarbeiter der Gerichtsmedizin begannen die Leiche in ein frisches weißes Laken zu wickeln, das für eine gesonderte Analyse im kriminaltechnischen Labor vorgesehen war. Die Männer packten den Körper von Teddie Crawford in einen Leichensack, schlossen den Reißverschluss und hoben ihn auf eine Bahre. Schließlich rollten sie ihn nach draußen – zur Erbauung der wartenden Menge und der Fernsehkameras.

Kate inspizierte den Raum. Alle Oberflächen waren mit Fingerabdruckstaub bedeckt. Das Stückchen Glas auf der Theke war vom Laborteam mitgenommen worden, um die puderartige Substanz darauf zu analysieren.

»Hier ist unsere Waffe«, verkündete Taylor und deutete auf einen hölzernen Messerblock, der auf der Arbeitsfläche zwischen Herd und Mikrowelle stand. »Das heißt, hier war sie, wenn mich nicht alles täuscht.«

Kate untersuchte den Holzblock. In sieben der acht Schlitze steckten Messer. Die Griffe waren nicht auf Fingerabdrücke untersucht worden, weil sie aus grobrilligem Plastik bestanden, auf dem keine Fingerabdrücke haften blieben. Mit Daumen und Zeigefinger zog Kate vorsichtig ein Messer nach dem anderen heraus. Ein Tranchiermesser und ein Messer mit sägeförmiger Klinge steckten ganz oben im Gestell. Die restlichen, offenbar häufiger gebrauchten Messer, waren der Größe nach geordnet, alle blitzsauber. Der leere Schlitz befand sich zwischen einer fünfzehn und einer fünfundzwanzig Zentimeter langen Klinge.

»Wir müssen den Messerblock untersuchen lassen«, sagte sie.

Gemeinsam mit Taylor inspizierte sie den Inhalt von sämtlichen Schubladen, Fächern, Regalen und auch des Kühlschranks. Die Nahrungsmittel waren alle säuberlich geordnet, und auch aus dem Sortiment der Küchengeräte schien nichts zu fehlen oder irgendwie in Unordnung gebracht worden zu sein.

»Lass uns mit unserem Verdächtigen sprechen«, sagte Kate.

Tradition

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