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Kapitel 3

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Der Tag ging rasch zur Neige. Kate und Taylor fuhren auf dem prachtvollen Santa Monica Boulevard durch den Samstagnachmittagsverkehr, während sich die Stadt vor ihren Augen veränderte. Die untergehende Sonne tauchte Hollywood in ein warmes orange-goldenes Licht. Je weiter sie jedoch nach Osten gelangten, desto weniger vermochten die Sonnenstrahlen über die Trostlosigkeit hinter dem Schein hinwegzutäuschen. Die Anzahl der schäbigen Gebäude nahm drastisch zu, die Anzahl der hochziehbaren Eisentüren ebenso. Hier und da ein Lebensmittelladen, Imbissstuben, kleine Einkaufsmeilen, Gebrauchtwagenmärkte und vereinzelte Pornokinos.

Der schlanke junge Mann in der Notaufnahme des Hollywood Presbyterian Hospital trug einen grünen Arztkittel und einen Bart. Ungeduldig sah er zu, wie Kate und Taylor ihre Dienstmarken zeigten und sich vorstellten. »Ja, in Ordnung«, erklärte er. »Ich bin Dr. Mercer.«

»Sie haben einen Mann namens Kyle Jensen behandelt. Er hatte Schnittwunden an den Händen. Wir müssen Ihnen einige Fragen dazu stellen.«

»Ich darf Ihnen nichts sagen«, erwiderte der Chirurg unwirsch. »Es gibt eine ärztliche Schweigepflicht. Wie Sie sehr wohl wissen.«

»Klar wissen wir das«, sagte Taylor. Seine Stimme klang sachlich. »Sie können also entweder jetzt auf unsere Fragen antworten, oder wir beschlagnahmen die Krankenblätter. Dann sitzen Sie zwei Tage auf dem Gerichtsflur und warten darauf, in den Zeugenstand gerufen zu werden. Wie ist er zu den Schnittwunden an den Händen gekommen?«

Der Arzt zuckte resigniert die schmalen Schultern. »Ich habe nie mit Ihnen gesprochen, einverstanden? Er sagte, er hätte sich an einer offenen Schinkendose geschnitten.«

»Und – hat er?«, fragte Kate.

Mercer zuckte erneut die Achseln. »Schon möglich. Offene Schinkendosen sind derart lebensgefährlich, dass sie einen Warnhinweis tragen sollten.«

»Wie sehen die Verletzungen aus?«

»Tiefe Schnitte an beiden Händen. Laienhaft ausgedrückt, ist das Gewebe zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand«, er hielt demonstrierend die Hand hoch, »bis auf den Knochen durchtrennt. Dann hat er noch eine etwas kleinere Schnittwunde an der Außenseite der Handfläche. Die linke Hand ist weniger schwer verletzt – ein Schnitt in der Handfläche und einer an der Innenseite des Daumens. Kleinere Schnitte an allen Fingern.«

»Könnten die Verletzungen durch ein Messer verursacht worden sein?«

»Sicher.«

»Könnte er versucht haben, einen Angreifer abzuwehren, der ihn mit einem Messer bedrohte?«, fragte Taylor.

»Schon möglich. Allerdings sind die Wunden sehr tief. Wenn er tatsächlich in eine Messerstecherei geraten ist, muss es um Leben und Tod gegangen sein, so zerfetzt wie seine Hände waren. Der Schwachkopf hat die Schmerzschwelle eines Ochsen. Konnte partout nicht verstehen, warum wir nicht einfach einen Verband drumwickeln wollten. Wir mussten die Behandlung verweigern, solange er nicht in eine Operation einwilligte.«

»Hatte er sonst noch Schnittwunden außer an den Händen?«, fragte Kate.

»Nicht dass ich wüsste.«

»Hatte er Blut an der Kleidung?«

»Als er in die Notaufnahme kam, waren seine Hände in blutige Handtücher gewickelt. Seine Kleidung habe ich nicht gesehen.« Er verschränkte die Arme und sagte in abschließendem Ton: »Fragen Sie Schwester Donnelly.«

»Wir würden aber gern erfahren, was Sie uns über diese Handtücher sagen können«, sagte Kate.

»Fragen Sie Schwester Donnelly«, wiederholte er.

»Wir müssen mit Jensen sprechen«, erklärte Taylor. »Auf was für Schmerzmittel haben Sie ihn gesetzt?«

»Es war eine Lokalanästhesie, wir haben ihm Antibiotika gegeben und kodeinhaltiges Tylenol. Wenn er heute Abend entlassen wird, bekommt er noch ein Rezept mit.«

»Ist er nach Ihrer ärztlichen Einschätzung in der Verfassung für eine Vernehmung, oder ist er in irgendeiner Weise beeinträchtigt?«

Mercer schaute auf seine Uhr. »Er hat die Medikamente vor mehr als einer Stunde bekommen. Sie können ihn unbesorgt in die Mangel nehmen.« Er schlenderte auf den Ausgang zu. »Nicht vergessen, Sie schulden mir was. Ersparen Sie mir Ihren gottverdammten Gerichtsflur.«

»Alles klar«, sagte Kate. Doch wenn Kyle Jensen der Mörder von Teddie Crawford war, würde Dr. Henry Mercer der gottverdammte Gerichtsflur wohl nicht erspart bleiben.

Der junge Mann trug einen Krankenhauspyjama und saß aufrecht in seinem Bett. Er war allein in einem Zweibettzimmer. Mit ausdruckslosem Gesicht hörte er zu, als Kate und Taylor sich vorstellten, musterte ihre Dienstmarken und antwortete knapp auf Kates Frage: Sein voller Name lautete Kyle Thomas Jensen, er wohnte in Hollywood, North Western Avenue Nr. 1699.

Kate musterte ihn prüfend. Er war muskulös, mit dünnem sandfarbenem Haar, das ihm lang in den Nacken hing. Auf seinen Wangen sprossen helle Stoppeln, und ein dicker Schnurrbart betonte eher noch den sinnlichen Schwung seiner leicht bogenförmigen Lippen, als dass er ihn verbarg. Gloria Gomez’ Beschreibung würde auf ihn passen. Und sein Vorname war leicht mit Lyle oder Miles zu verwechseln – den beiden Namen, die sie genannt hatte. Aber bis jetzt konnte man seinen Anblick auch durchaus als Bild der Unschuld deuten: Er sah freundlich aus, ein bisschen verwirrt und ein bisschen verärgert.

Taylor stützte einen Fuß auf den Stuhl neben dem Bett und schlug sein Notizbuch auf. »Wie alt sind Sie, Kyle?«

»Siebenundzwanzig. Warum?«

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Kate.

Jensen sah auf seine bandagierten Hände, als ob das bloße Erscheinungsbild ihm etwas über ihren Zustand verraten könnte. »Ganz gut.« Seine hellblauen, rhombenförmigen Augen trafen Kates, sie waren völlig ausdruckslos. »Worum geht’s hier eigentlich?« Seine Stimme war hoch und heiser.

»Wir führen gerade eine Untersuchung über Leute durch, die mit schweren Verletzungen in die Notaufnahme kommen«, erklärte Taylor liebenswürdig. »Wie haben Sie sich die Schnittwunden an den Händen zugezogen, Kyle?«

»Das soll eine schwere Verletzung sein?« Er wedelte mit beiden Händen in der Luft herum. »Das war bloß ein saublöder kleiner Unfall.«

»Wenn eine Operation notwendig ist, müssen die Verletzungen schon ziemlich gravierend sein. Erzählen Sie uns, wie es dazu kam.«

Jensen zuckte die breiten Schultern. »Ich hab den Müll rausgebracht. Bin ausgerutscht, voll auf die Schnauze gefallen und hab mir die Hände an ’ner Dose aufgeschnitten.« Er verzog schmerzlich den Mund. »Die Dinger sind verdammt scharf. Ich hab geblutet wie ein Schwein.«

Kate nickte. Es klang sehr überzeugend. »Wo war das?«

»Bei meinem Wohnblock. Unten im Hof.«

»Hat Sie jemand gesehen?« Als Jensen den Kopf schüttelte, fuhr Kate fort: »Wann ist das passiert?«

»Heute Morgen … so gegen acht.«

»Wann sind Sie ins Krankenhaus gekommen?«

»So ungefähr um zehn.«

»Sie waren so schwer verletzt, dass eine Operation nötig war, Kyle. Warum haben Sie bis zehn Uhr gewartet?«

»Ey, ich hab nicht gewusst, wie mies ich dran war, bis ich hier gelandet bin. Ich hatte Handtücher drumgewickelt, es hatte aufgehört zu bluten. Aber meine Freundin, die is’ total ausgerastet – sie hat mich hierher verfrachtet.« Er stupste mit einer bandagierten Hand an seinen Krankenhauskittel. »Diese Clowns hier verpassen dir allen möglichen Scheiß. Zwingen dir ’ne Behandlung auf, bloß weil sie scharf auf dein Geld sind.«

»Wie heißt Ihre Freundin, Kyle?«

»Shirl. Shirley Johnson.«

»Lebt sie mit Ihnen zusammen?«

»Klar.«

»Wo arbeiten Sie?«

»Warum? Was zur Hölle hat das alles zu bedeuten?«

»Reine Routine«, sagte Taylor. »Wir müssen sichergehen, dass Sie uns keinen Bären aufbinden, dass Sie nicht einen Dritten schützen wollen, der Ihnen die Verletzungen zugefügt hat.«

»Ich schütz bestimmt keinen – und ich hab nicht die leiseste Ahnung, was dieser Quacksalber mit mir angestellt hat, aber ich brauch jetzt unbedingt ’ne Schmerztablette.«

Kate sagte beiläufig: »Wir würden Ihnen gern noch weitere Fragen stellen, Kyle. Wir haben gehört, dass Sie heute Abend entlassen werden. Was halten Sie davon, wenn wir Sie mit dem Auto abholen, kurz bei uns auf dem Revier vorbeifahren und Sie anschließend nach Hause bringen?«

Er zuckte mit den Achseln und legte sich in seine Kissen zurück. »Meinetwegen. Ich mach alles, um diesen Scheiß hinter mich zu bringen.«

Kate ging zu dem Polizisten, der vor Kyle Jensens Zimmer postiert war. »Hat er Sie gesehen, Dale?«, fragte sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf die geschlossene Tür des Krankenzimmers.

Der schmächtige junge Beamte schüttelte grinsend den Kopf. »Kein Stück.«

Kate grinste zurück und sagte: »Sorgen Sie dafür, dass es so bleibt.«

»Null problemo.«

»Und fragen Sie Schwester Donnelly, wie seine Kleidung aussah, als er herkam. Lassen Sie sich was über die Handtücher erzählen, mit denen er seine Hände bandagiert hatte.«

»Geht klar.«

Taylor folgte ihr kommentarlos über den Flur zu den Fahrstühlen. Er wusste so gut wie sie, dass sie trotz Gloria Gomez’ Beschreibung und den verdächtigen Schnittwunden an Jensens Händen keine hinreichende rechtliche Grundlage für eine Verhaftung oder auch nur für eine kurzfristige Festnahme hatten, ganz zu schweigen von einem Durchsuchungsbefehl, um an die schmutzigen Handtücher zu kommen.

Jensen hatte ihnen – wenn auch zweifellos unbeabsichtigt – einen großen Gefallen getan, als er sich spontan bereit erklärte, aufs Revier zu kommen, um weitere Fragen zu beantworten. Entweder glaubte er ihnen die Geschichte mit der routinemäßigen Befragung von Schwerverletzten, oder er war felsenfest davon überzeugt, dass er nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht werden konnte. Vielleicht glaubte er auch, dass er sich alle Türen offenhalten konnte, wenn er sich kooperationsbereit zeigte. Oder er war ganz einfach unschuldig. Sie und Taylor hatten eine Menge Arbeit vor sich. Beim nächsten Gespräch mit Kyle Jensen musste sie gut vorbereitet sein.

North Western Avenue Nr. 1699 lag ganz in der Nähe, ein fünfstöckiges Ziegelsteingebäude Ecke Hollywood Boulevard. Über die Fassade liefen verrostete Feuertreppen im Zickzackmuster. Die roten Ziegelsteine waren durch die jahrzehntelange Luftverschmutzung mit einer schmierigen Kohlenstaubschicht überzogen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erstrahlte ein ähnliches, stuckverziertes Gebäude in frischgetünchtem Rosa. Über eine Feuertreppe war ein Transparent gespannt: Se Rentan Apartamentos. Am müllübersäten Hollywood Boulevard befand sich ein schäbiger Laden mit der Aufschrift Schnäppchen, daneben eine Billardbar, ein Würstchenstand und eine Pfandleihe.

Die kleine Eingangshalle des Wohnblocks starrte vor Schmutz und roch nach Zwiebeln und gekochtem Kohl. Auf dem gesprungenen grauen Fliesenboden unter den Briefkästen stapelten sich herrenlose Postwurfsendungen. Die Namensschilder an den Briefkästen bestanden aus abgerissenen Zetteln, die in Ritzen gestopft oder mit weißem Klebeband befestigt waren.

»Ein Palast«, murmelte Taylor.

»Wir haben schon Schlimmeres gesehen«, erwiderte Kate.

»Wie gesagt – ein Palast.«

Sein Ton war knapp – ein weiterer Hinweis für Kate, dass ihm dieser Fall zuwider war. Leck mich am Arsch, dachte sie. Sie würde schon dafür sorgen, dass er seine Arbeit tat.

Er inspizierte den Briefkasten von Wohnung 209. Das Namensschild bestand aus einem abgerissenen Stückchen Pappe und war mit Isolierband festgeklebt. Zwei Namen standen auf der Pappe: K. Jensen und B. Dayton. »Hieß die Freundin, mit der er angeblich zusammenlebt, nicht Shirley Johnson?«, fragte Taylor.

»Lass uns einen Blick auf den Hinterhof werfen«, sagte Kate. »Mal sehen, ob wir die ominöse Schinkendose finden.«

Der mit Rissen durchzogene Zementboden auf der Rückseite des Gebäudes war mit Zeitungen, Glasscherben und Verpackungen von Fertiggerichten übersät. Ein zerbeulter Müllcontainer stand am äußersten Ende des kleinen Fußwegs. Taylor schob den verbogenen Deckel hoch. »Verdammter Mist!«, fluchte er. Ein intensiver Gestank von vergammelten Abfällen und Alkoholdunst schlug ihnen entgegen. Der Müllcontainer war kaum zu einem Viertel voll.

»Fordere den Fotografen an«, sagte Kate. »Ich seh mich inzwischen ein bisschen um. Mach’s dringend. Außerdem brauchen wir Handschuhe«, fügte sie hinzu, während er davontrottete. »Und eine Inventarliste.«

»Verdammter Mist!«, wiederholte er.

Sie stützte sich auf ein Knie und untersuchte den Zementboden vor der Mülltonne. Sorgfältig inspizierte sie noch einmal den Weg, den sie und Taylor von der Hintertür des Gebäudes zurückgelegt hatten. Als Taylor einige Minuten später zurückkam, deutete sie auf den Zementboden, dessen Oberfläche durch den jahrelangen Witterungseinfluss glatt und abgeschliffen war. »Nach der Geschichte, die er uns aufgetischt hat, und nach der Schwere der Schnittwunden zu urteilen, müssten hier eigentlich Blutspuren zu finden sein.«

Taylor brummelte etwas Zustimmendes. »Lass uns mal die angebliche Freundin überprüfen. Ich wette, sie ist genau so ’n Phantasiegebilde wie die Schinkendose.«

Der junge Mann, der die Tür von Apartment 209 öffnete, trug nichts als eine hautenge stone-washed Jeans. Kate musterte den muskulösen Oberkörper, der abgesehen von einer dunklen Haarsäule, die sich vom Nabel aus abwärts zog, gänzlich unbehaart war. Sie dachte an Aimees weibliche Schönheit und fühlte sich erneut bestätigt. Abgesehen von objektiver Bewunderung löste eine Männerbrust keinerlei Reiz bei ihr aus.

»Ich bin Detective Delafield«, sagte sie. »Das ist mein Kollege, Detective Taylor.«

Der junge Mann warf einen Blick auf ihre Dienstmarken und zuckte ungeduldig die nackten Schultern. »Ja, und?«

»Ist Shirley Johnson da?«, fragte Kate.

»Shirl?« Er starrte sie an, seine Feindseligkeit schlug in Überraschung um. »Was zum Teufel wollen Sie von Shirl?«

»Ein paar Routinefragen«, antwortete sie. »Ist sie da?«

»Nee.« Er lehnte sich gegen den Türrahmen. »Vielleicht später.«

Kates Intuition sagte ihr, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. Ihr scheinbares Desinteresse an seiner Person hatte ihn allzu sichtbar entspannt. »Wohnt Shirl hier?«, fragte sie.

»Nee.«

»Hat sie früher mal hier gewohnt?«

»Nee.«

»Wo können wir sie finden?«

Er zuckte mit den Achseln.

»Dürften wir Ihren Namen erfahren, Sir?«, fragte sie.

»Sir? Jesus, was für ’n niedlicher Bulle. Dayton, Burt Dayton. Was wollen Sie von Shirl?«

»Könnten wir vielleicht woanders miteinander sprechen als auf dem Flur, Mr. Dayton?«, entgegnete Kate.

»Sie nennt mich immer noch Mr. Dayton! Okay. Aber wie gesagt, Shirl ist nicht da.« Er trat einen Schritt zurück, um sie einzulassen.

Auf einem schmutziggrauen, ausgefransten Teppich standen ein durchgesessenes Sofa und ein Sessel, beide senffarben. Der Schirm einer einsamen Tischlampe leuchtete in einem fleckigen Gelbbraun.

»Machen Sie’s sich bequem«, forderte Dayton sie auf und warf sich aufs Sofa.

Taylor lehnte sich gegen die nächste Wand, Kate blieb stehen. »Wohnt hier ein Kyle Jensen?«, fragte sie.

Daytons dunkle Augen blitzten zu ihr hinüber. Langsam nickte er mit dem Kopf.

»Hat Shirley Johnson ihn heute Morgen ins Krankenhaus gebracht?«

Er musterte sie misstrauisch und umkreiste dabei seine Lippen mit dem Zeigefinger. Die Lippen waren dick, fleischig und wirkten in dem sonst eher scharfkantigen Gesicht fast sinnlich. »Und was, wenn es so wäre?«

Taylor sagte: »Wie hat sich Kyle die Schnittwunden an seinen Händen zugezogen?«

»Keine Ahnung. Oh, Scheiße.« Dayton stellte verärgert fest, dass er bereits zu viel gesagt hatte. »Scheiße«, sagte er noch einmal.

»Wir müssen das wissen«, sagte Taylor, der Stift schwebte über seinem Notizbuch. »Wie hat er sich in die Hände geschnitten?«

»Scheiße, Mann, woher soll ich das wissen.«

»Wann ist es passiert?«

»Keine Ahnung.«

»Burt«, sagte Taylor mit mühsamer Geduld, »müssen wir Sie erst vorladen, um so eine Lappalie wie die Ursache von Kyles Schnittwunden herauszufinden?«

Dayton deutete auf Kate. »Die mag ich lieber. Sie nennt mich Mr. Dayton.«

»Mr. Dayton«, fuhr Taylor ungerührt fort, »wann haben Sie bemerkt, dass Kyle sich verletzt hatte?«

Dayton kreuzte die Arme vor der Brust, rutschte tiefer ins Sofa und spreizte die Beine weit auseinander. Kate hatte diese Haltung noch nie gemocht, weder bei Männern noch bei Frauen, diese aufdringliche Zurschaustellung der Genitalien. Widerstrebend sagte er: »Heute Morgen.«

»Wann genau.«

»Ziemlich früh. Warum? Worum geht’s?«

»Um welche Uhrzeit, Mr. Dayton?«

»Früh. Keine Ahnung, wie spät es war.« Mit einem Blick auf Taylor räumte er ein: »Es war noch dunkel draußen.«

»Mr. Dayton«, unterbrach ihn Kate. »Warum erzählen Sie uns nicht einfach, was passiert ist?«

»Was gibt’s da zu erzählen? Ich hab geschlafen, okay? Er kommt ins Schlafzimmer, weckt mich, sagt, er hat sich an den Händen verletzt. Beide waren total in irgendwas eingewickelt. Ich sollte ihm beim Ausziehen helfen. Also hab ich’s gemacht, okay? Heute Morgen sollte ich bei Shirl anrufen, sie herbestellen. Sie ist gekommen, hat sich Kyles Hände angesehen und ihn ins Krankenhaus gebracht, und das ist alles, was ich weiß.«

»Lassen Sie uns das noch mal Schritt für Schritt durchgehen«, sagte Kate. Sie ging zum Sessel und ließ sich vorsichtig auf die abgewetzte Lehne. Noch vor Ende des Tages, dachte sie grimmig, war ihre Hose wahrscheinlich jenseits von Gut und Böse und auch durch eine chemische Reinigung nicht mehr zu retten. Sie stützte ihr Notizbuch auf ihrem Bein ab und sagte: »Er kam ins Schlafzimmer. Wie viele Schlafzimmer haben Sie?«

»Ist das hier das Weiße Haus, oder was? Ein Schlafzimmer«, er deutete hinter sich, »aber zwei Betten.«

Das musstest du natürlich dazusagen, dachte Kate. Gott bewahre, dass irgendjemand auf die Idee kommen könnte, du wärst schwul. »Kyle hat Ihnen erzählt, dass er sich die Hände verletzt hat. Hat er gesagt, wie es passiert ist?«

Er sah sie an, sein Blick war wachsam. »Hier geht’s um was Ernstes, oder?«

Sie erwiderte seinen Blick. Sie und Taylor mussten äußerst vorsichtig agieren. Sollte Kyle Jensen tatsächlich der Täter sein, war es durchaus möglich, dass er die Tat nicht allein begangen hatte und dieser Mann sein Komplize gewesen war. »Mr. Jensen ist ziemlich schwer verletzt«, sagte sie. »Wir führen eine Routineuntersuchung durch. Wie hat er sich die Verletzungen zugezogen?«

»Er sagte, er wär hingefallen, hätte sich an ’ner Dose geschnitten.« Er verzog verächtlich seine dicken Lippen. »Ich hab ihn nicht um ein schriftliches Protokoll gebeten, wissen Sie.«

Ach, hast du also nicht, dachte Kate bei sich. »Ist Ihnen etwas an seinem Äußeren aufgefallen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nix. Ich hab nich’ drauf geachtet, nich’ hingeguckt. Jedenfalls nicht zu dem Zeitpunkt. Er sagte, ich soll kein Licht machen, weil ich sonst kotzen müsste.« Er rutschte unbehaglich auf dem Sofa hin und her. »Er weiß, dass ich kein Blut sehen kann, okay? Aber er war so nass und klebrig vom Blut, dass es mir trotzdem hochkam. Und als ich ins Badezimmer ging, um mir die Hände zu waschen, und meine Hände sah … huuh, heiliger Strohsack!« Er setzte sich aufrecht hin, verschränkte die Arme vor der Brust, schloss die Augen und presste die Beine zusammen.

Kate war sich ziemlich sicher, dass Burt Dayton nichts mit dem Mord an Teddie Crawford zu tun hatte. »Sie sagten, Sie hätten Mr. Jensen geholfen, die blutigen Sachen auszuziehen. Wo sind diese Kleidungsstücke jetzt?«

Burt Dayton hob die Hand und deutete, ohne hinzusehen, links neben Kate. Ein Adrenalinstoß jagte durch ihren Körper, als sie auf eine schwarze Mülltüte starrte, die oben mit einem gelben Band zusammengebunden war und etwas abseits der geschlossenen Apartmenttür stand.

»Kyle sagte, ich soll’s wegschmeißen«, fuhr Dayton fort. »Ich für meinen Teil würde den Kram nicht mal anrühren, wenn der Müllwagen direkt in unserem Flur halten würde. Stellen Sie sich bloß mal vor, die Tüte reißt.«

Kate dachte an Charlotte Mead und an die Tests, die sie mit diesen vielleicht entscheidenden Beweisstücken durchführen konnte. Sie atmete tief durch.

»Kate?«, fragte Taylor.

Sie sah ihn an, ihre Gedanken rasten – sie wusste, dass er Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens hatte, wusste, dass sie jetzt keinen Fehler machen durfte.

Sie hatten keinen Durchsuchungsbefehl. In jedem Totschlagprozess, ganz zu schweigen von einem Mordprozess, konnte jede Verletzung des vierten Zusatzartikels zur Einstellung des Verfahrens führen, ganz gleichgültig, wie eindeutig die Beweislage für die Schuld des Verdächtigen sprechen mochte. Sie und Taylor hatten sich ordnungsgemäß ausgewiesen, und man hatte ihnen Einlass in diese Wohnung gewährt. Ohne einen Durchsuchungsbefehl konnten sie nur mit Burt Daytons Erlaubnis die anderen Zimmer untersuchen, in keinem Fall durften sie irgendetwas aus dem Schlafzimmer, das Kyle Jensen mit Burt Dayton teilte, entfernen. Doch das Wohnzimmer war quasi ein öffentlicher Raum, zu dem man ihnen offiziell Zugang gewährt hatte, und man hatte sie auf einen potenziellen, deutlich sichtbaren Beweis hingewiesen. Mit ruhiger Stimme sagte sie zu Taylor: »Hol eine Beweistüte. Und mach diesem Fotografen Beine.«

»Was für ein Riesenmist«, murmelte Dayton vor sich hin, als Taylor die Wohnung verließ.

»Wir müssen oft wesentlich mehr tun, als nötig ist, um den Vorschriften Genüge zu tun«, sagte Kate beruhigend.

»Erzählen Sie bloß Kyle nicht, dass ich was gesagt hab. Der bringt mich glatt um.«

»Wenn’s kein Problem gibt, gibt’s kein Problem, richtig?«, sagte Kate. Während Dayton noch verwirrt versuchte, hinter den tieferen Sinn dieser Plattitüde zu kommen, fragte sie beiläufig: »Ist er ein solcher Hitzkopf?«

»Er ist ganz in Ordnung. Wenn man ihn nicht zu sehr reizt.«

»Ist er leicht reizbar?«

Er sah sie stumm an. Sie hatte das Gefühl, dass sie nicht länger auf seine Kooperationsbereitschaft zählen konnte.

»Wo können wir Shirl erreichen? Wir müssen mit ihr reden.«

»Keine Ahnung.«

»Wo arbeitet sie?«

»Keine Ahnung.«

»Wie ist ihre Telefonnummer?«

»Fragen Sie Kyle.«

»Wie lange kennen Sie Kyle schon?«

Er sah sie durchdringend an und umkreiste wieder mit dem Zeigefinger seine Lippen. »Lange. Wir sind zusammen hierher gezogen.«

»Von wo, Mr. Dayton?«

»Pittsburgh.«

»Tatsächlich?« Sie wählte einen leichten Plauderton. »Das soll eine nette Stadt sein.«

»Eine tote Stadt. Tot und begraben. Los Angeles – da tobt der Bär.«

Sie betrachtete ihn und fragte sich, wie diese Flohkiste von Wohnung besser sein konnte als das, was er verlassen hatte. »Sie und Mr. Jensen kennen sich also von klein auf?«

Er schien angestrengt darüber nachzudenken, ob diese Frage eine neue Falle darstellte. »Sozusagen. Mal mehr, mal weniger. Wir machen beide unser eigenes Ding. Aber er ist in Ordnung, klar? Was das hier auch für ’ne Sache ist, er hat keinen Dreck am Stecken.«

Als Taylor mit einem großen Beweisbeutel in die Wohnung zurückkam, fragte Kate: »Wie steht’s mit Ihnen, Mr. Dayton? Haben Sie Dreck am Stecken?«

»Ich hab keine Probleme«, sagte er, während er Taylor beobachtete, der die schwarze Plastikmülltüte einpackte und das Beweissiegel ausfüllte.

Kate fragte beiläufig: »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns ein bisschen umsehen, Mr. Dayton?«

»Nichts da. Und lassen Sie den Mr.-Dayton-Scheiß. Nichts da, Lady. Wenn Sie mich weiter löchern wollen, hol ich mir erst mal ’nen Rechtsverdreher.«

»Das ist natürlich Ihr gutes Recht, Burt.« Sie erhob sich und zog eine Karte aus ihrem Notizbuch. »Kyle muss ja nicht unbedingt erfahren, wie wir an den Kleiderbeutel gekommen sind. Sie sollten die Sachen doch in den Müll werfen, nicht wahr? Falls Sie Shirl sehen, sagen Sie ihr, dass sie uns anrufen soll, ja?«

Er stand auf, nahm die Karte und stopfte sie in die Gesäßtasche seiner Jeans. »Klar, mach ich«, sagte er und auf seinem Gesicht erschien fast so etwas wie ein Lächeln.

Ted Carlson fotografierte das Innere und Äußere des Müllcontainers und den Boden drum herum. Als er fertig war, streiften Kate und Taylor sich Plastikhandschuhe über.

Kate zog ihr Jackett aus und drückte es Carlson in die Hand. Sie wappnete sich und sagte dann zu Taylor: »Hilf mir hoch.«

»Oh Gott«, grummelte Taylor. »Er allein weiß, was da drin ist. Und heutzutage kann man sich Gott weiß was fangen.«

»Es könnte schlimmer sein«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Taylor, der seine Finger zu einem Steigbügel ineinanderhakte. »Die Müllabfuhr muss gestern, höchstens vorgestern hier gewesen sein …«

Kate stemmte sich hoch und sprang in den Container. Sie landete auf glitschigem, nachgiebigem Moder und griff haltsuchend zur Containerwand. Entschlossen ignorierte sie den Gestank. Die Bazillen in diesem Container würden schon nicht lebensbedrohlich sein – oder vielleicht doch? Sie warf einen prüfenden Blick auf den Abfall, in dem sie bis zu den Waden versunken war. Sie sah etwas Silbernes aufblitzen, fischte den Gegenstand heraus und reichte ihn zu Taylor hoch.

»Was zum Teufel …«, sagte er. »Ein Rad … von einem gottverdammten Rollstuhl

»Sieht so aus«, sagte sie. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie so ein Gegenstand in einer Mülltonne landen konnte.

Dankbar erspähte Kate die Annehmlichkeit einiger geschlossener Mülltüten, die sie einzeln zu Taylor hinausreichte, bevor sie ihm methodisch jeden festen Gegenstand aushändigte, den ihre behandschuhten Finger zu fassen bekamen. Taylor legte die Fundstücke säuberlich auf dem Zement vor dem Müllcontainer aus: leere Flaschen, Bierdosen, Aluminiumverpackungen, Pappkartons und Zeitungen. Schließlich wurden ihre Füße nur noch von einer knapp knöcheltiefen morastigen Brühe umspült, die sich aus Hähnchenknochen, Tomatenhäuten, Eierschalen, Filtertüten, verschimmeltem Obst und anderen unidentifizierbaren Essensresten zusammensetzte. Kate stemmte sich mit den Händen an der Containerwand hoch und kletterte unbeholfen hinaus.

Während Carlson die leeren Eingeweide des Containers fotografierte, packten sie und Taylor die Mülltüten aus. Kate übernahm es, mehrere Zellstoffartikel zu inspizieren, deren rostfarbene Flecken sich als eingetrocknetes Menstruationsblut entpuppten. Überrascht entdeckte sie, dass jemand vier zerbrochene Spritzen weggeworfen hatte. Das hohe Aidsrisiko bei Drogenabhängigen hatte mindestens ebenso viel mit der Wiederverwendung gebrauchter Spritzen wie mit Unwissenheit zu tun – viele Junkies schreckten nicht davor zurück, sich den Stoff mit zerbrochenen Spritzen zu injizieren.

»Wundervolle Motive«, kommentierte Carlson, während er auf dem Boden kniete, um die Abfallsammlung zu fotografieren. »Ich sollte die Aufnahmen bei einem Wettbewerb einreichen.«

»Erster Preis«, murmelte Taylor.

Während Carlson seine Sachen zusammenpackte, warfen Kate und Taylor den Abfall zurück in den Container. Bei der ganzen Unternehmung waren sie weder leise noch heimlich vorgegangen. Mehrere Bewohner hatten sie von den Fenstern aus beobachtet, aber niemand hatte auch nur gefragt, was sie da trieben.

Taylor streifte seine Handschuhe ab und warf sie in den Container. »So viel zu der imaginären Blechbüchse«, knurrte er. »Oder auch ›Deine Konserve – das unbekannte Wesen‹.«

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