Читать книгу Die Tote hinter der Nightwood Bar - Katherine V. Forrest - Страница 7
Kapitel 1
ОглавлениеDetective Kate Delafield verließ die La Brea Avenue und bog in ein hufeisenförmiges Areal ein, das ein Motel sowie eine Anzahl kleinerer Geschäfte beherbergte.
»Erzähl mir von der Bar, Ed«, forderte sie ihren Kollegen Detective Ed Taylor auf, während sie den Plymouth an den drei schwarz-weißen Polizeiwagen vorbeibugsierte, die die Einfahrt zu dem von der Hauptstraße abzweigenden Weg versperrten. »So nah am Bahnhof, die gehört doch bestimmt zu deinen Stammkneipen.«
»Spinnst du?« Taylor öffnete die Wagentür und spähte eine steile Auffahrt hinauf, die zu einem von Büschen umgebenen Parkplatz führte. »Garantiert ein Privatclub. Wer hier ’ne Bar versteckt, der hat nicht alle Tassen im Schrank.« Taylor hievte seinen massigen Körper aus dem Wagen und glättete sein gelbgrün kariertes Jackett. »Nightwood Bar«, sagte er. »Klingt nicht gerade einladend.«
Kate stieg aus und heftete sich über der Brusttasche ihrer Jacke ihr Abzeichen an. Dann griff sie automatisch unter die Jacke, um den Riemen ihres Pistolenhalfters zurechtzurücken, und dachte sich dabei, dass ihr der Name der Bar gefiel. Er hörte sich irgendwie bedeutungsvoll an, vielsagend.
Sie sah sich diese für Los Angeles so typische Gegend genauer an – den Ort ihrer kommenden Ermittlungsarbeit.
Auf der anderen Seite der La Brea Avenue bot ein Schnellimbiss gegrillte Hähnchen mit Brot und Soße an. Das restliche Gelände war bis zur nächsten Seitenstraße mit Maschendraht umzäunt und wurde von einer Autowerkstatt eingenommen, einem niedrigen, langgestreckten Gebäude im mexikanischen Stil, so makellos weiß getüncht, dass es wie das Krankenhaus für die drumherum liegenden Autowracks wirkte. Auf der Straße selbst verringerte sich die Geschwindigkeit des Autostroms nur kurz beim Anblick der Polizeiwagen, die überall auf dem öden, unbebauten Gelände entlang der Avenue verstreut herumstanden.
Kate wandte ihre Aufmerksamkeit der eigenen Straßenseite zu und trat dazu ein paar Schritte zurück; die herumstehenden Gruppen von Schaulustigen hinter Wagenblockade und gelbem Absperrband ignorierte sie einfach. Vor einem der Polizeiwagen konnte sie Deems und Foster ausmachen, die ihr ihre blau uniformierten Rücken zuwandten und zwei dunkelhäutige junge Männer mit vermutlich mittelöstlicher Herkunft befragten, deren beredsame Gestik tiefe Bestürzung ausdrückte.
Auf der einen Seite der steilen Auffahrt befand sich eine Boutique, die an diesem frühen Sonntagabend geschlossen war, wie auch das Reisebüro daneben. Der Autoverleih und das private Postlagerbüro auf der gegenüberliegenden Seite unterhalb des Motels waren geöffnet, und in dem dunklen Fenster der angrenzenden Ladenfront prangte ein Schild: »Zu Vermieten«. Am Ende der beiden Häuserreihen waren zwei weitere Geschäfte dem Automobil gewidmet, das eine hatte sich auf Volkswagen und Audi spezialisiert, das andere verkaufte Bremsen und Stoßdämpfer. Ein für diese Gegend absolut typischer Häuserkomplex im Wilshire-Polizeidistrikt von Los Angeles – mit einer Ausnahme.
Kate betrachtete das Casbah Motel und fragte sich, wieso ihr trotz der vielen Male, die sie durch diese Straßen gefahren war, niemals aufgefallen war, wie anormal dieses Motel inmitten dieser Anzahl kleiner Geschäfte und Schnellimbiss-Restaurants entlang der Avenue wirkte. Es war quer zum Hang gebaut, und sein exotischer Name widersprach seinem anspruchslosen Äußeren: ein einfaches Holzgebäude, dunkelbraun gestrichen mit einem breiten Querstreifen in hellerer Farbe, der sich unterhalb der Fensterreihe des zweiten Stockwerks entlangzog. Tropengewächse und Palmen schmückten mit ihrer mächtigen, verstaubten, abgeklärten Erscheinung ewigen Daseins die Straßenfront des Motels. Vis-à-vis befand sich ein kleines Café, auf dessen Fes-förmigem Schild »Türkische Spezialitäten« stand. Höchstens vierundzwanzig Zimmer, schätzte Kate, und nichts von der sonst fast greifbaren Schmuddeligkeit eines Stundenmotels. Soweit ihr bekannt war, zählte das Casbah Motel nicht gerade zu den wildesten Etablissements ihres Polizeibezirks.
Der Parkplatz oben auf dem Hügel schien gleichermaßen dem Motel, dem Café und der Nightwood Bar zu dienen. Kate kroch unter dem Absperrband durch und kletterte den steilen Hang hinauf. Sie presste ihre rutschigen Schuhsohlen fest gegen den rauen Asphalt, um besseren Halt zu haben, und grinste über Taylors erschöpftes Schnaufen.
Eine breite Fläche blendend weißer Kieselsteine grenzte ein kaffeebraunes Holzhaus mit einem Dach aus schwarz-braunen Schindeln vom Parkplatz ab. Niedrige Nadelbäumchen wuchsen gruppenweise aus den Steinen hervor, der braune Hintergrund ließ ihr Grün umso leuchtender erscheinen. Das einsame Vorderfenster wurde von lilafarbenen Neonbuchstaben erleuchtet: Nightwood Bar.
»Irre«, kommentierte Taylor, »aber nett und adrett.«
Der Parkplatz, auf dem vielleicht ein Dutzend Wagen geparkt waren, zog sich noch weiter um die Nightwood Bar herum, allerdings hatte Kate von ihrem Standort aus keinen Einblick in diesen Teil des Platzes. Einige Dutzend Schaulustige, vermutlich Kunden aus den Geschäften am Hang, standen zusammengedrängt hinter einem weiteren Absperrband auf der Motelseite dieses Teils. Kate bog um die Ecke des dunklen Holzhauses und blieb dann stehen.
Der Tatort war wie üblich eingezäunt. Weniger üblich war, dass es keinen gekennzeichneten Weg zur Leiche gab, einer weißen Gestalt, der Kate nur einen kurzen Blick zuwarf. Ein asphaltierter Parkplatz bot zwar nicht die gleichen Probleme der Spurensicherung wie ein unbebautes Grundstück oder eine öffentliche Straße, aber, dachte Kate missbilligend, derartige Vorsichtsmaßnahmen sind nun einmal unerlässlich. Sie trat bis zum Rand des hüfthohen Absperrbandes vor, das sich von der einen Ecke der Nightwood Bar bis zum Casbah Motel spannte, und sah sich das Gelände sorgfältig an.
Der Ort des Verbrechens bestand aus einer rechteckigen Fläche mit nur zwei Zugangsmöglichkeiten – dem vorderen Parkplatz und der Hintertür der Nightwood Bar. Vom dicht belaubten Abhang grenzte ihn seitlich und am hinteren Ende ein hoher Holzzaun ab. Innerhalb des Rechtecks befanden sich drei Dinge: ein Müllcontainer, ein beigefarbener VW-Bus Jahrgang sechzig mit zurückgeschobener Tür und eine weiß bekleidete Leiche.
»Sergeant Hansen«, rief Kate zu der Gruppe Polizisten hinüber, die sich vor der Hintertür der Nightwood Bar versammelt hatte. Hansen nickte Kate und Taylor zu und kam zu ihnen.
»Hier muss eine Wegkennzeichnung hin.« Sie zeigte, wo. »Quer hinüber, von dieser Seite hier.«
Er nickte erneut. »Wir haben auf Ihre und Eds Anweisungen gewartet, Kate. Die Barinhaberin hat das Opfer gefunden, Deems und Foster waren zuerst hier, ich hab sie mir angesehen. Dann haben wir alles abgesperrt.«
»Gute Arbeit, Fred. Hervorragend.« Als Vorgesetzte war sie froh darüber, einen offenbar unversehrten Tatort vorzufinden und die Ermittlungen nicht mit einem Rüffel eröffnen zu müssen, selbst wenn die Liste der von Hansen falsch ausgeführten Untersuchungen einen solchen gerechtfertigt hätte.
Hansen sah auf sein Klemmbrett hinunter. »Viel haben wir noch nicht. Das Opfer heißt Dory Quillin.« Er buchstabierte den Namen. »Einundzwanzig, sagt die Besitzerin von der Bar. Sieht aber nicht so aus. Sie sieht aus …«
Hansens Stimme schien höher zu sein als sonst, und Kate sah von ihrem Notizbuch auf. Sein Blick war auf einen Punkt irgendwo hinter ihren Schultern gerichtet. »Ich weiß nicht«, sagte er, »mein Gott, ich weiß nicht, sie sieht aus wie … sie ist noch ein Kind.«
Der sauertöpfische Hansen, der bereits an unzähligen Ermittlungen zum Tod junger Opfer teilgenommen hatte, ließ sich gewöhnlich durch nichts so leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Offensichtlich hatte irgendetwas an diesem Mord die stählerne Schutzmauer seines vierzehnjährigen Polizeidienstes durchbrochen. Sie wusste, ihm war diese Betroffenheit nicht lieb, ihr wäre es genauso gegangen. »Was haben wir denn sonst noch?« fragte sie aufmunternd.
Hansen blickte wieder auf sein Klemmbrett. »Linke Schläfe zertrümmert.« Seine Stimme gewann wieder an Kraft. »Baseballschläger, liegt am Tatort. Aluminium.«
»Wann?«, fragte Taylor, ohne den Blick von seinem Notizbuch zu heben.
»Dem Aussehen nach zu schätzen höchstens vor einer Stunde. Sie war gerade vom Baseballspiel zurückgekommen. Sie …« Hansens Stimme brach ab.
»Also was?«, fragte Taylor ungeduldig. »Irgendwelche Verdächtigen? Zeugen?«
Hansens Augen richteten sich erneut auf einen Punkt hinter Kates Schulter. »Jede Menge möglicher Zeugen. Alles Frauen, alle aus dieser Bar da, Ed.« Er wartete, bis Taylor aufsah. Dann wies er zur Nightwood Bar hin. »Das ist ’ne … nur für Frauen.«
Kate drehte sich unwillkürlich um und starrte zur Nightwood Bar hinüber. Eine Lesbenbar. In so einer Bar war sie seit Ewigkeiten nicht mehr gewesen, nicht mehr seit …
Sie zwang sich in die Gegenwart zurück und konzentrierte sich wieder auf Hansens Worte. »Wir haben alle befragt, Namen und Führerscheinnummern notiert – hat nicht viel gebracht. Außer der Besitzerin verweigern alle die Zusammenarbeit.«
Taylor kratzte sich am Kopf und strich sich ein paar Strähnen seines schütteren blonden Haars über seine kahle Stelle. »Was ist mit Deems? Waren die bereit, mit Deems zu reden?«
»Bei ihr wurden sie erst recht feindselig.« Taylor stöhnte auf und verdrehte die Augen. »Ist mir doch egal, ob das Lesben sind. Von mir aus können sie vom Mars kommen. Warum müssen die alle immer so bescheuert sein, herrgottverdammtnochmal!«
»Jede verfolgte Minderheit«, dozierte Hansen, als zitiere er aus einer Abhandlung, »neigt dazu, sich gegenüber den Symbolen ihrer Verfolgung feindlich zu verhalten.«
»Ach Scheiße«, knurrte Taylor.
Kate grinste ihn an. Es war, wenn auch auf unverschämte Weise, rasch und klar ausgesprochen worden, was das für Frauen waren, und sie war froh darüber. An Hansen gewandt sagte sie: »Aber die Besitzerin der Bar hat mit Ihnen gesprochen?«
Hansen sah auf seine Aufzeichnungen. »Magda Schaeffer.« Er buchstabierte den Namen. »Das habe ich von ihrem Gewerbeschein, nicht von ihr. Sie wurde etwas kooperativer, als ich ihr zu verstehen gab, dass es durchaus Anlass gäbe, ihr was anzuhängen.« Hansens Gesicht nahm wieder grimmigere Züge an. »Von wegen Alkoholausschank an Minderjährige. Kate, das Opfer, also wenn die einundzwanzig ist, dann bin ich …«
»Gefälschter Ausweis«, sagte Taylor gelangweilt. »Wetten, dass wir so was bei ihr finden? Gibt es sonst noch was? Wo hat sie gewohnt?«
»Exakt hier.« Hansen zeigte auf den Bus. »Die Schaeffer sagt, dass sie ihn meistens hier abgestellt hat oder am Strand.«
Kate sah sich das ramponierte Gefährt genauer an. »Wir werden ihn beschlagnahmen. Eltern? Verwandte?«
»Eltern – in West Hollywood, meint die Schaeffer. Die anderen Frauen hier behaupten, sie hätten das Opfer nur flüchtig gekannt. Das ist bislang alles.«
Kate sah zum Casbah Motel hinüber, dessen L-förmiger Grundriss die vierte Seite des Platzes bildete; sie blickte zu den blinden Vierecken der mit beigefarbenen Vorhängen verhangenen Fenster hoch und wies dorthin. »Wen haben Sie dort eingesetzt, Fred?«
»Davis und Ploski.«
»Nehmen Sie jeden verfügbaren Polizisten, den Sie entbehren können. Ich bin sicher, die lassen eine Durchsuchung zu. Sie sollen jeden, den sie finden können, befragen. Ein Motel und Sonntagabend – da reisen die Leute ab. Holen Sie sich ihre Adressen. Und vergessen Sie auf keinen Fall die Zulassung jedes einzelnen Wagens hier auf dem Parkplatz und unten in der La Brea Avenue festzustellen. Und die Gästeeintragungen vom Motel, die können wir auch brauchen.« Zu Taylor sagte sie: »Fangen wir an, bevor die vom Labor sich auf alles stürzen.«
Sie malte rasch eine Skizze von dem Rechteck in ihr Notizbuch, markierte die Position von Müllcontainer, Bus und Leiche. Dann notierte sie ihre und Taylors Ankunftszeit, 19.30 Uhr, und das Datum, 16. Juni 1985, und die ungefähre Temperatur, 23 Grad.
Kate und Taylor gingen an den Schaulustigen vorbei, die vor ihnen zurückwichen, als hätten sie Angst, sich anzustecken, und folgten dem gelben Band bis zum anderen Ende des Rechtecks. Kate betrat es zuerst, Taylor wartete auf ihr Zeichen. Sie bewegte sich in gerader Linie vorsichtig auf den VW-Bus zu und studierte bei jedem Schritt sorgfältig den Boden.
Der Parkplatz war ungewöhnlich sauber. Ein paar Fetzen Einwickelpapier vom Imbissstand klebten am Zaun, aber das meiste war vom Hang herabgeweht worden – Blätter, Tannennadeln, kleine Zweige, die die Windböen zu Mustern zusammengeweht hatten. Sie bückte sich mehrfach, um die Zigarettenstummel und Streichhölzer zu begutachten, die auf dem Asphalt festklebten und ihrem verrotteten Aussehen nach bereits mehrere Tage alt waren. Der oder die Mörder hatten irgendwo ihre Unterschrift hinterlassen – alle Mörder taten das; allerdings, dachte Kate, würde sie die kaum hier draußen frei herumliegend finden.
Als ihr Blick ein paar Flecken folgte, die wie gewöhnliche Ölspuren auf Asphalt aussahen, blieb er plötzlich an einem Paar starrer, silberblauer Augen hängen.
Dory Quillins Gesicht war bleich wie Wachs, umrahmt von weißblondem, feinem Haar, das sich leicht im Abendwind bewegte. Das zart geformte Gesicht, der kleine, sanfte Mund erinnerten Kate an die zerbrechliche Vollkommenheit kindlicher Gesichtszüge. Aber es waren die weit aufgerissenen silberblauen Augen, die Kate gefangen nahmen; sie starrten zu ihr hoch, flehentlich und voller Bestürzung.
Kate riss sich von dem Anblick los. Sie fasste sich wieder, sagte sich, dass Gesichtszüge im Augenblick des Todes in jeder Form erstarren konnten, und führte die Untersuchung der Ölflecken zu Ende. Sie achtete sorgfältig darauf, wohin sie ihre Füße setzte – ein notwendiges Vorgehen zur Spurensicherung und Sammlung von Beweismaterial –, dann blieb sie vor der Leiche stehen.
Die weiße Kleidung bestand aus einem Baseballtrikot mit einem schwarzen Streifen entlang der Hosennähte; das Oberteil trug vorne keinerlei Beschriftung. Beide Arme waren ausgestreckt, die Beine angewinkelt, wobei die Spikes fest im Boden steckten; es sah aus, als wäre Dory Quillins letzte Tat der Versuch gewesen, sich aufzurichten und nach ihrem Mörder zu greifen. So, mit ausgestreckten Armen und diesem ungläubigen Ausdruck in ihrem Gesicht, war sie dann gestorben …
Ein Kind, hatte Hansen in seiner unbeholfenen, unfreiwilligen Trauer gesagt. Die weiße Kleidung fügte ihrer Jugend und Schönheit das Symbol der Unschuld hinzu. Und ihre ausdrucksvollen Augen sagten Kate, dass sie den an ihr begangenen Verrat nicht begreifen konnte.
In vorsichtigem Abstand ließ sich Kate auf ein Knie nieder. Dory Quillins Gesicht war zu drei viertel sichtbar, die Wunde an der linken Kopfseite war zum Teil verdeckt, aber die dunkle Lache unterhalb der zum Boden geneigten Stirnhälfte wies nur allzu deutlich auf sie hin. Kate brauchte nicht alles von der Wunde zu sehen, um zu wissen, wie sie aussah – die geschwollenen Ränder, das mit Blut vollgesogene, schwarze Gewebe drumherum.
Kate zwang sich dazu, den Körper zu untersuchen; alles in ihr drängte danach, sich vorzubeugen und diese ungläubigen silberblauen Augen zu schließen. Am Körper befanden sich, soweit sichtbar, keine weiteren Prellungen, und das Baseballtrikot war unbeschädigt; offensichtlich war gegen Dory Quillin keine zusätzliche Gewalt ausgeübt worden. Sie trug eine Digitaluhr mit Plastikarmband am Arm – höchstens ein paar Dollar wert, schätzte Kate – und einen Ring am kleinen Finger. Da beide Handflächen nach oben zeigten, konnte Kate nicht erkennen, ob der Ring einen wertvollen Stein hatte. Die kurze Halskette war aus Gold. Kiefer und Nacken, wo die Leichenstarre gewöhnlich als Erstes einsetzte, waren noch weich und biegsam. Die Hautoberfläche war zu wenig sichtbar, um verräterische bläuliche oder rötliche Stellen auszumachen, aber eine Leichenblässe schien unwahrscheinlich.
Hansen hatte recht – der Mord war erst vor kurzem passiert. Der Mörder dieser Kindfrau konnte nicht allzu weit entfernt sein. Vielleicht war er sogar hier, mitten in der Menge begierig starrender Gesichter auf der anderen Seite des Parkplatzes. Während sie die Gesichter studierte und in ihr Gedächtnis eingrub, gab sie Taylor ein Zeichen, zu ihr herüberzukommen. Sie würde Shapiro, der jeden Moment auftauchen musste, anweisen, einige Aufnahmen von ihnen zu machen, wenn er die Umgebung fotografierte.
Sie sah, wie Taylor ihrem Weg folgte, seine großen, plumpen Füße vorsichtig platzierte und das Gelände, das sie bereits untersucht hatte, pflichtgemäß einer zweiten Prüfung unterzog. Dann beobachtete sie ihn dabei, wie er auf Dory Quillin hinabsah, und wie er seine wulstigen Lippen aus- und einstülpte. Normalerweise fühlte sie sich von Taylors Galgenhumor angesichts des Todes nicht übermäßig abgestoßen; er lenkte ab, milderte etwas die Grausamkeit und Anspannung. Hätte er jedoch jetzt einen seiner schaurigen Witze zum Besten gegeben, sie hätte ihn, so schwor sie sich, für immer gehasst.
Er sah wortlos zu ihr auf, und in seinen milden braunen Augen spiegelte sich Trauer wider.
Leise sagte sie: »Wir sollen alle Gottes Kinder sein. Sie zumindest sieht aus wie eins.«
»Wir sind alle Gottes Arschlöcher«, sagte er knurrend. »Sonst würden wir nicht solche Scheiße bauen.«
Sie wandte sich dem Bus zu. In seinem Schatten lag ein Aluminiumschläger. Sie betrachtete den glatten Metallgriff. Auf einer solchen Oberfläche könnten sich Fingerabdrücke einprägen. An diesem Mord waren möglicherweise mehrere Personen beteiligt gewesen, aber nur eine Person hatte den Schlag ausgeführt. Andererseits war dieser Schläger durch viele Hände gegangen, bevor er zu einer Mordwaffe wurde. Trotzdem, es war nicht hoffnungslos.
Die beiden Detectives machten sich mehrere Minuten lang Notizen; Kate hielt in allen Einzelheiten Lage und Aussehen des Körpers fest, den Zustand der Kleidung, Größe und Form der Blutlache, den Gerinnungsgrad des Blutes sowie ihren Gesamteindruck.
Sie näherte sich vorsichtig dem Schläger und blieb in einem zweckmäßigen Abstand vor ihm stehen; Taylor hockte sich breit neben sie. Der blanke Schläger war an einem Ende dunkel befleckt; an den verschmutzten Stellen klebte etwas Dreck.
Taylor wies mit dem Finger darauf. »Sieht aus, als sei er fallen gelassen worden, vielleicht genau hier – das da könnte die Aufschlagstelle am Boden sein, ein Blutfleck. Dann ist er hierhin gerollt.«
Kate sah sich den Schläger, den Bus und die Lage der Leiche genau an. »Möglich. Vielleicht wurde er aber auch geworfen. Und ist dann vom Bus abgeprallt und hierher zurück.«
»Dann müsste es eine Delle im Bus geben – nicht, dass die weiter auffallen würde. Aber das hätte einen höllischen Lärm gemacht, und das hätte jemand hören müssen.«
»Vielleicht hat das ja jemand.« Aber ihr Instinkt sagte ihr, dass der Mörder den Schläger einfach fallen gelassen hatte und geflohen war. Sie sah sich den Tatort erneut genau an. »Sie muss wie ein Stein hingefallen sein bei einem solchen Schlag. Nach den Blutspuren zu urteilen, hat sie sich kaum bewegt.« Kate holte mit dem Arm aus. »Ich würde sagen, der Mörder stand ungefähr hier.«
Taylor stand auf. »Angesichts der Wunde links haben wir es mit einem rechtshändigen Schläger zu tun.«
Sie hätte ihm vergeben, wenn er zur Demonstration nicht ein paarmal mit einem unsichtbaren Schläger ausgeholt hätte, wenn er nicht gegrinst hätte. Fünf Minuten, Taylor konnte Dory Quillin nicht mehr als fünf Minuten ihre Würde lassen. Sie ging hinüber zum Bus und war zu sehr mit ihrer Verachtung beschäftigt, um ihm eine Antwort zu geben.
Die beiden Detectives spähten durch die offene Tür hinein. Vor dem Rückfenster hing ein Vorhang aus dunkelblauem Stoff mit leuchtend weißen Punkten; der gleiche Stoff trennte auch den Fahrersitz vom übrigen Bus ab. Der Rücksitz war entfernt worden, und über den Boden verstreut lagen Dory Quillins Habseligkeiten: ein zusammengerollter Schlafsack, ein Korbkasten, der wahrscheinlich als Kleiderkiste diente, verschiedene ordentlich zusammengelegte T-Shirts lagen obendrauf. In der hinteren Ecke waren auf einem wackeligen Regal Lebensmittel aufgereiht: Brot, Zwieback, Müsliriegel, Konserven, ein paar Plastikteller und Plastikbecher. Unter dem untersten Regalbrett konnte Kate eine Packung Katzenfutter ausmachen, direkt neben einem winzigen Fernseher, einem kleinen Tischgrill und einem Sack Holzkohle. Einige Dutzend Taschenbücher lagen aufgestapelt neben einem kleinen Metalltisch, der offenbar als Schreibtisch gedient hatte; ein gelber Schreibblock lag umgedreht obenauf. Unmittelbar neben der Tür lag ein Baseballhandschuh gegen die Wand gelehnt.
»Sieht nicht so aus, als hätte das jemand durchwühlt«, sagte Taylor.
Kate nickte zustimmend. Sie dachte an ihre eigene Wohnung in Santa Monica – Wohnzimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer, ganz zu schweigen vom Badezimmer. Alles in allem so an die fünfundsiebzig Quadratmeter. Dory Quillin hatte in weniger als vier Quadratmetern gelebt.
»Die Jungs sind jetzt alle da«, verkündete Taylor und wies mit dem Kopf zur Nightwood Bar und der Gruppe, die davor am gelben Absperrband stand. Die beiden Detectives gingen auf demselben Weg, den sie zuvor genommen hatten, zurück und auf das Team zu, das bald mit seiner Arbeit auf dem Gelände beginnen würde.
Shapiro wies zum Abhang hin und sagte mit ernster Stimme zu Kate: »Ich nehme an, Sie wollen Fotos von jedem Blatt und jedem Baum hier.«
Kate antwortete dem dürren, bärtigen Fotografen gelassen: »Ich hätte nichts dagegen, wenn sie ein paar Schnappschüsse von den Zuschauern in Ihre Hintergrundaufnahmen einbauen könnten.«
»Klar doch.« Shapiro zuckte mit den Schultern und grinste, dann stellte er seinen Koffer ab.
»Tun Sie uns noch einen Gefallen, ja«, sagte Taylor, »versuchen Sie möglichst nicht über das Opfer zu stolpern, bevor der Gerichtsmediziner kommt.«
Kate nickte Hansen zu. »Ihr Job, Fred.« Sie wusste, er würde den Tatort aufteilen und seine Leute anweisen, das Gelände systematisch und sorgfältig zu durchkämmen, während Shapiro seine Aufnahmen machte. »Wir werden wieder hier sein, wenn Everson …« Zu ihrem Ärger versagte ihr die Stimme.
Ihr war die Autopsie eingefallen. Sie wandte der Leiche von Dory Quillin den Rücken zu, als könne sie dadurch diese silberblauen Augen aus ihrem Kopf verbannen. Sie würde nicht nur diesen unauslöschlichen Anblick ihres Gesichtes weiter mit sich herumschleppen, sie würde auch das entsetzliche Bild dieses zarten Körpers auf dem Autopsietisch im Gedächtnis behalten … »Wir sind wieder da, wenn Everson sie untersucht«, sagte Kate bestimmt.
Sie ließ ihr Notizbuch zuschnappen und steckte es in ihre Jackentasche. Sie würde das oberste Prinzip der Polizeiarbeit – Objektivität – nicht verletzen! Sie würde Dory Quillin nicht erlauben, sie gefangen zu nehmen …
Sie hob ihren Blick und sah, wie Hansen sie anstarrte. Kate sah in seine dunklen Augen und lächelte leicht.
»Na los, Kate«, sagte Taylor. Er grinste und wies mit dem Daumen zur Nightwood Bar. »Lass uns reingehen und diese unfreundlichen Frauen mit unserem Charme überwältigen.«