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Kapitel 1

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Detective Kate Delafield bog vom Burton Way ab und fuhr in den Arnaz Drive. Sie lenkte ihren Plymouth über die Kreuzung Colgate Avenue und durch die schmale Fahrrinne, die von einem halben Dutzend beidseitig geparkter Polizeiautos freigelassen wurde. Die Lichtbalken auf den schwarz-weißen Streifenwagen pulsierten leuchtend in der Dunkelheit. Ihr Partner Ed Taylor war bereits eingetroffen. Sein Caprice stand eingeklemmt mit der Nase nach vorn zwischen zwei Übertragungswagen des Fernsehens. Kate fuhr an den grellen Kamerascheinwerfern vorbei, entlang an Dutzenden von Schaulustigen, die sich hinter Barrikaden und Absperrbändern drängten, und passierte das Schild am Ende des Arnaz Drive:

Beverly Hills Stadtgrenze

Das Abstellen von Fahrzeugen über Nacht ist verboten

Sie bog um die Ecke und parkte im Clifton Way, der südlichen Grenzlinie zwischen der City von Beverly Hills und dem nordwestlichsten Einzugsgebiet des Distrikts 701. In dieser noblen Gegend des Wilshire-Bezirks hatte sie noch nie in einem Mordfall ermittelt.

Kate vergrub die Hände in den Taschen ihres grauen Anoraks und warf einen flüchtigen Blick auf die massiven dunklen zwei- und dreigeschossigen Wohnblocks, die die Straße säumten. Entschlossen ging sie auf den misstönenden Lärm quäkender Polizeisprechfunkgeräte zu.

Unter dem Anorak trug Kate einen weißen kragenlosen Sweater, schwarze Cordhosen und Nike-Turnschuhe. Keine besonders passende Aufmachung, aber sie hatte keine Zeit mehr gehabt, nach Hause zu fahren und sich umzuziehen, als der Pieper sie zum Telefon und dann hierher, zum Arnaz Drive, beordert hatte.

Mitten in der Menschentraube, die sich um Lieutenant Bodwin geschart hatte, blieb sie stehen. In gleißendes Licht getaucht beantwortete Bodwin die Fragen einer Fernsehreporterin, einer jungen Frau, die Kate vage bekannt vorkam. Ringsherum drängelten sich bereits andere Radio- und Fernsehjournalisten, um Bodwin möglichst schnell vor ihre eigenen Mikrofone zu bekommen.

»… Maßnahmen eingeleitet«, sagte Bodwin gerade mit gedämpfter Stimme, während er sein zerfurchtes Spanielgesicht in gewichtige Falten legte. »Im Moment liegen uns noch keine weiteren Erkenntnisse vor.«

Eine Bandenschießerei an der Eastside, dachte Kate mürrisch, würde vielleicht gerade mal kurz in den Nachrichten erwähnt – aber ein Mordfall so dicht am Rodeo Drive löste natürlich einen riesigen Medienwirbel aus.

Sie drehte dem Spektakel den Rücken zu und inspizierte den Schauplatz des Verbrechens, ein zweigeschossiges, mit beigefarbenem Stuck verziertes Gebäude, auf dessen Vorderseite in riesigen, protzigen Goldbuchstaben der Name »Beverly Malibu« prangte. Die Eingangstür und die Frontfenster im ersten Stock waren von hell-türkisfarbenen Mosaikfliesen mit Goldsprenkeln eingerahmt. Das einzige Grün bestand aus zwei dichten Stauden Papageienblumen rechts und links vom Eingang.

Das Gebäude war eine Ausnahme im Block, ein krasser Gegensatz zu seinen neueren, eleganteren Nachbarn. Es füllte das bescheidene Grundstück fast vollständig aus, die schmalen Gehwege auf beiden Seiten endeten an Holzpforten, die mit Vorhängeschlössern versehen waren. Die sechs Parkplätze unter dem Mauervorsprung an der Frontseite reichten kaum für die Zahl der Mietparteien und bestätigten, dass das Beverly Malibu zu einer Zeit entstanden war, als die Baugesetze von Los Angeles noch keinen Nachweis über grundstückseigene Parkplätze verlangten.

Kate zog ihr Notizbuch aus der Umhängetasche und notierte die Uhrzeit: 19 : 23 Uhr, das Datum: 24. November 1988, und ihren ersten Eintrag: nur drei Wagen parkten am Haus. Dann steckte sie ihr Dienstabzeichen an den Anorak und tauchte unter den gelben Absperrbändern durch.

Sergeant Fred Hansen, eine Hand am Pistolenhalfter, in der anderen sein Klemmbrett, bewachte breitbeinig den Eingang. Mit gleichmütiger Miene beobachtete er Lieutenant Bodwin und die zwei Streifenbeamten, die die Schaulustigen zurückhalten sollten. Als er Kate entdeckte, nickte er ihr zu und musterte trübselig ihre Aufmachung.

Er deutete auf die Scheinwerfer, und sein sanfter Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Die Hauseigentümerin hat einige dieser Medienfritzen verständigt. Sie hat ’n ziemlich großes Mundwerk.«

Kate zuckte die Achseln: »Worum geht’s, Fred?«

Er zog sein Klemmbrett zu Rate. »Das Opfer heißt Owen Sinclair, dreiundsiebzig, Rentner. War früher mal Filmregisseur, sagt die Hausbesitzerin. Laut Protokoll ist die Meldung um 18 : 04 Uhr eingegangen.« Er schaute auf. »Er hatte keinen leichten Tod, Kate. So wie der aussah …« Er schüttelte den Kopf. »Ed wartet in der Wohnung, erster Stock, nach hinten raus.«

Wenn Hansen nicht noch irgendeinen Geistesblitz anzubieten hatte – was selten der Fall war –, brauchte sie keine weiteren Einzelheiten, sie würde sich früh genug ein eigenes Bild machen können. Sie deutete mit dem Kopf auf das Gebäude. »Nehmen Ihre Leute die Personalien auf?«

Er nickte. »Vierzehn Mieter, außer Sinclair, im Moment sind aber nur neun da. Das ist alles, was ich bis jetzt sagen kann.«

»Danke, Fred«, sagte sie in mechanischer Anerkennung dieser ersten groben Fakten. Sie ging den Weg hoch, vorbei an den staubbedeckten Papageienblumen, und betrat das Beverly Malibu.

Die Eingangshalle mit ihrem grau gefliesten Fußboden war nicht viel größer als ein Stehklo. An einer der Wände hingen mehrere Briefkästen in einer Reihe. Kate überflog die Namensschilder, ohne sie sich bewusst einzuprägen. Neben einem der Namen prangte die stolze Bezeichnung MANAGER. Fünfzehn Wohnungen, belegt von fünfzehn einzelnen Personen …

Links von der Eingangshalle führte ein runder Türbogen in einen Raum mit grüner PVC-Auslegeware. Kate sah ein Waschbecken und eine resopalbeschichtete Theke, einen langen Tisch, Klappstühle und einen Fernseher. Auf der Theke waren Spuren von einer Feier übrig geblieben, die hier früher am Tag stattgefunden hatte: eine Punschschüssel und ein wildes Durcheinander von Plastikbechern, Papptellern, Servietten und anderen Utensilien.

Merkwürdig, dachte Kate, dass es in einem so alten und relativ kleinen Gebäude einen Gemeinschaftsraum gibt.

Sie sah den Korridor hinunter. Zwei Polizeibeamte standen vor einer der Wohnungstüren und sprachen mit einem Mieter. Kate konnte die Gesichter nicht erkennen, weil sie zu weit entfernt waren. Sie zählte fünf Türen auf der linken, vier auf der rechten Seite, einschließlich der des stolzen Managers. Offenbar Einzimmerwohnungen oder Wohnungen mit Schlafzimmer. Die anderen sechs Wohnungen im ersten Stock mussten ein Zimmer mehr haben. Sie ging zur Treppe und stieg über einen verschlissenem grauen Teppichbelag zum ersten Stock hoch.

Sie nickte Knapp zu, der den Korridor bewachte. Hollings, sein Partner, befand sich ohne Zweifel in einer der Wohnungen, um erste Informationen zu sammeln. Taylor, in brauner Hose und braunkariertem Jackett über einem gelben Polohemd, stand am Ende des Korridors lässig an die Wand gelehnt, die Arme über seinem Kugelbauch verschränkt. Er schwenkte grüßend sein Notizbuch und kam ihr entgegen.

»Dann also auf ein fröhliches Thanksgiving«, knurrte er.

»Hast du wenigstens noch mit deiner Familie essen können?«, fragte sie teilnahmsvoll.

»Ja, das schon, Bert und seine Frau sind gegen zwölf aus Oceanside gekommen. Wir haben früh gegessen.« Bei der Erwähnung seines ältesten Sohnes war Taylors Gesicht weich geworden. Er warf einen Blick auf ihre Kleidung. »Und wie war’s bei dir, Kate? Grad unterwegs gewesen, was?«

Sie nickte. »Hab auf dem Weg hierher an einem Truthahnbein geknabbert.« Das entsprach buchstäblich der Wahrheit. Sie hatte sich mit Maggie Schaeffer und einigen Freundinnen in Maggies Haus im Tal getroffen. Nach dem Essen hatten sie zusammen in die Nightwood Bar gehen wollen.

»Der Kerl, der dir das Essen verdorben hat –« Taylor fuchtelte mit dem Daumen. »Sicher ist, dass ihm jemand seins verdorben hat.«

Kate sah durch die offene Tür von Apartment Nr. 13 in ein chaotisches Wohnzimmer, das unter einem Berg von Hifi-Geräten begraben war. Unzählige Plattenspieler, Tonbandgeräte, CD-Player, große und kleine Lautsprecher – alles auf Schränken gestapelt oder über den abgetretenen Plüschteppich verstreut. Zwei Lautsprecher hingen an der Wand über langen Sideboards, die mit Platten und Tonbändern vollgestopft waren. Die Wohnung roch stark nach kaltem, abgestandenem Zigarrenrauch.

Taylor ging ins Wohnzimmer. »Das andere Zimmer besteht vom Boden bis zur Decke nur aus Schallplatten, viele davon alte Fünfundvierziger und Achtundsiebziger.«

Kate warf einen flüchtigen Blick auf die Einrichtung: ein Sofa, das mit einem fransigen Baumwollüberwurf bedeckt war, billige helle Tische, unbeschreibliche Lampen und ein zerschlissener lederner Fernsehsessel. Taylor trottete den Flur hinunter. Sie ging ihm nach und runzelte bei seinem schweren Tritt unwillkürlich die Stirn, während sie sich all die kostbaren Beweisstücke vorstellte, die gerade von diesen dicken Ledersohlen vernichtet wurden.

Drei Räume gingen vom Flur ab – der mit den Schallplatten, den Taylor erwähnt hatte, ein Bad und schließlich das Mordzimmer. Taylor trat zur Seite und ließ sie eintreten.

Owen Sinclairs Leiche steckte in Boxer-Shorts und lag auf der Seite mit dem Gesicht zu ihr. Der Körper war unnatürlich verkrümmt, der Rücken stark durchgebogen, die Beine nach hinten gestreckt. Der Bauch wies Kratzspuren auf, die offenbar vom Opfer selbst stammten. Die Nägel der Hand, die sich Kate entgegenstreckte, waren blutverkrustet. Der andere Arm war mit Handschellen an den Kopfteil des Messingbetts gefesselt. Das bläulich angelaufene Gesicht war zu einem sardonischen Grinsen verzerrt. Die hervortretenden Augäpfel schwammen in Blut.

»Seine Augen«, sagte Taylor. »Wenn das kein Mordskater ist!«

Kate fragte sich, welcher Unglücksrabe wohl als Erster in diese grausige Todesszene gestolpert war. »Wer hat ihn gefunden, Ed?«

Taylor sah in sein Notizbuch: »Paula Grant und ihre Nichte, Aimee Grant, die bei ihr zu Besuch ist. Die Wohnung nebenan. Miss Grant und ihre Nichte wollten gerade essen gehen. Unsere hübsche Leiche hat ihnen glatt den Appetit verschlagen.«

Kate hatte das Gefühl, dass Owen Sinclairs Blutaugen sie anstarrten. Sie ging vorsichtig um den Stuhl herum, der neben dem Bett stand.

Owen Sinclair musste in seinem Todeskampf wild am Bettzeug gezerrt haben. Die Thermodecke und das obere Laken bildeten ein einziges wirres Knäuel, das Spannbetttuch war durch das Scheuern der Füße zerrissen.

»S und M«, schlug Taylor vor, indem er auf die Handschellen deutete. »Und dann eine Überdosis von irgendeiner verrückten neuen Droge.«

»Wir hatten noch nie jemanden mit einer Überdosis, der so ausgesehen hätte«, entgegnete Kate. »Aber möglich ist alles.« Vorsichtig ging sie etwas näher an die Leiche heran.

Die schlaffe, haarige Hautoberfläche war schwach purpurn gefleckt, aber Sinclairs Arme wiesen keine Einstiche auf. Sie berührte seine Schulter. Überrascht zog sie die Hand zurück. »Er ist noch ganz warm, Ed. Aber schau ihn dir an – völlige Leichenstarre.«

»Ja, so schnell habe ich das auch noch nie erlebt.« Taylor hatte seine Aufmerksamkeit auf den Nachttisch neben dem Bett gerichtet: Neben einem CD-Player befanden sich mehrere umgekippte Gläser und Tassen, einige davon mit Bodensatz, außerdem ein Schlüssel, der, wie Kate bemerkte, zu den Handschellen gehörte, und ein Telefon, dessen Schnur unübersehbar durchgeschnitten war.

»Dieser Stuhl …« Kate betrachtete den billigen Metallstuhl mit roter Plastiksitzfläche und Rückenlehne, der neben dem Bett stand.

»Ja, hab ich schon abgecheckt – der gehört in die Küche.« Taylor kratzte sich am Kopf, strich dann die dünnen blonden Haarsträhnen wieder in Form. »Also, Kate, ich denke, es war so: Jemand hat ihn ans Bett gehakt, für irgendwelche SM-Späße. Dann hat er ihm was eingegeben, die Telefonschnur gekappt, diesen Stuhl geholt, sich draufgesetzt und einfach zugesehen. Ich könnte wetten, dass wir es mit einem Perversen zu tun haben – jemand, der es geil findet, Leute zu foltern und zuzugucken, wie sie sich langsam zu Tode quälen …«

Kate sagte ruhig: »Im Moment kann ich deiner Theorie nichts entgegenhalten.«

»Bei dem Stuhl könnten wir Glück mit Fingerabdrücken haben.«

Kate nickte, während sie nachdenklich den Nachttisch betrachtete. Auf dem Handschellenschlüssel waren sicher keine Fingerabdrücke, dazu war er zu kantig. »Vielleicht auch beim Telefon. Wenn wir es mit so einem Perversen zu tun haben, wie du ihn beschrieben hast, hat er es vielleicht hochgehalten, um seinem Opfer die durchgeschnittene Schnur zu zeigen. Um ihn zu verhöhnen.«

»Ich würde sagen, Stuhl und Telefon wären ein Superglue wert.«

Als leitende Kommissarin in diesem Ermittlungsteam hatte sie die unmittelbare rechtliche Verfügungsgewalt über den Tatort und konnte die Art der Spurensicherung anordnen, die sie für notwendig hielt. Die herkömmliche Methode, um Fingerabdrücke abzunehmen, bestand in der Aufpinselung eines feinen Puders und brachte für gewöhnlich recht brauchbare Ergebnisse. Beim Superglue versprühte man einen feuchten, klebrigen Wirkstoff, der sich als dünner Film auf die Gegenstände legte und dann eingefärbt wurde, um die Fingerabdrücke sichtbar zu machen. Dieses Verfahren war äußerst effektiv, aber auch kostspielig: Fast alle derart behandelten Gegenstände waren hinterher praktisch unbrauchbar. Aber wenn es nötig war, ordnete Kate es an, so wie sie in anderen Fällen auch schon darauf bestanden hatte, dass Teile des Teppichbodens herausgeschnitten wurden, um sie auf Blutflecken untersuchen zu lassen, oder ganze Wände eingerissen wurden, um nach versteckten Waffen oder anderen Beweismitteln zu suchen. Sie war ein staatlich legitimierter Eindringling, ausgestattet mit der Macht, ungehindert im Privatleben anderer Menschen herumzustöbern.

»Das denke ich auch«, bestätigte sie mit einem kritischen Blick auf die Metall- und Plastikteile des Stuhls. Vielleicht ergab das Superglue ja einen gut aufgelösten Fingerabdruck.

Sie wandte sich vom Bett ab, um den übrigen Raum zu untersuchen: ein einfacher Toilettentisch ohne Spiegel, ein tragbarer Fernseher auf einem Ständer, zwei Pappkartons, einer randvoll gefüllt mit Sportzeitschriften, der andere mit zerlesenen Taschenbüchern, deren Einbände zerknickt und eingerissen waren.

Vor dem Fußende des Betts lagen die Kleidungsstücke, die Owen Sinclair ausgezogen hatte: Baumwollhose, ein bedrucktes Sporthemd, Segeltuchschuhe.

Kate ging zum Toilettentisch und begutachtete etwa ein halbes Dutzend Fläschchen mit Männer-Toilettenartikeln, alle ungeöffnet, wahrscheinlich Geschenke. Daneben lag ein offenbar viel benutztes Set von altmodischen silberverzierten Bürsten mit dem Monogramm OCS, ferner ein Schlüsselbund, eine goldene Seiko-Armbanduhr und einige verstreute Münzen neben einer abgewetzten Lederbrieftasche. Dazwischen zwei gerahmte Fotografien, ungefähr fünf mal sieben Zentimeter groß, und zahllose weitere an der Wand.

Mit Hilfe ihres Kugelschreibers klappte Kate die Brieftasche auf. Unter einer vergilbten Klarsichtfolie steckte ein Führerschein. Das Foto war nicht zu erkennen, aber sie konnte den Namen und das Geburtsdatum entziffern: Owen Charles Sinclair, geboren am 12. 10. 1915. Aus dem Fach für Papiergeld guckte ein Packen Rechnungen hervor.

Sie warf einen erneuten Blick auf das Opfer. Zwischen dem gekräuselten Brusthaar schimmerten matt die Glieder einer schweren Goldkette. An der verkrampften Hand, mit der Sinclair ans Bett gefesselt war, steckte ein schwerer goldgefasster Smaragdring. Ein Raubmörder war hier offenbar nicht am Werk gewesen, was für Taylors Theorie sprechen würde.

Eines der Fotos auf dem Toilettentisch, eine vergilbte Schwarzweißaufnahme, zeigte einen Mann Anfang dreißig mit einer steif gebügelten Hose, einem Hawaiihemd und einem Halstuch. Er stand gegen ein Automodell der Fünfzigerjahre gelehnt, die Arme über der breiten Brust verschränkt. Das lächelnde Gesicht war jungenhaft hübsch, das Haar ungewöhnlich dick und wellig. Kate sah vom Foto zu der Gestalt auf dem Bett und wieder zurück. Die blutüberströmten Augen des Opfers und das starre, verzerrte Grinsen machten einen Vergleich ziemlich schwer, aber der Körperbau war ähnlich und die Cesar Romero-Tolle des welligen grauen Haars unverwechselbar.

Das andere Bild, ein Farbfoto, zeigte einen dunkelhaarigen jungen Mann in militärischem Tarnanzug mit zwei Patronengürteln über den schmalen Schultern und einer Feldflasche an der Hüfte. Mit dem Gewehr in der Hand, einen matschverkrusteten Stiefel auf das Trittbrett eines schlammbespritzten Wagens gestützt, grinste er über die Schulter in die Kamera. Kate sah sich die Waffe genauer an: eine M-16. Sie hatte viele solcher Waffen und viele junge Männer wie diesen gesehen, als sie für ein Jahr auf der Flugzeugbasis von Tan Son Nhut und in Da Nang stationiert gewesen war. Vielleicht war dieser vor Selbstsicherheit fast platzende junge Kampfhahn der Sohn des Opfers – wenn nicht selbst ein Opfer, einer der fünfzigtausend toten Amerikaner in Vietnam.

Sie betrachtete das erste der Schwarzweißfotos an der Wand. Sechs Männer und zwei Frauen, die meisten davon in Westernkostümen, lachten fröhlich in die Kamera. Im Hintergrund war ein Saloon zu sehen – offenbar eine Film- oder Bühnendekoration. Sinclair stand in der vorderen Reihe, je einen Arm um eine der beiden Frauen. Kate erkannte ihn sofort an der Haartolle und weil er genauso gekleidet war wie auf dem anderen Foto.

Es hingen noch mindestens zwei Dutzend solcher Gruppenfotos an der Wand. Die Zusammensetzung wechselte von Bild zu Bild, nur Owen Sinclair war überall dabei. Kates Blick blieb gelegentlich am Gesicht eines Schauspielers oder einer Schauspielerin hängen, das ihr vage bekannt vorkam, ohne dass sie es genau hätte einordnen können. Sie erinnerte sich an Hansens Bemerkung, dass Sinclair früher Filmregisseur gewesen war. Allem Anschein nach hatte er vor allem B-Filme gedreht, mit Darstellern, denen der Starruhm für immer versagt geblieben war.

Abgesondert von dieser Fotosammlung hingen einige Porträtaufnahmen, die mit Vornamen signiert und mit den üblichen Widmungs-Plattitüden versehen waren: Mit den besten Wünschen. Für einen feinen Menschen. Zwei Fotos waren mit vollem Namen unterschrieben, das eine zeigte Jack Warner, der sein Bild Einem guten Amerikaner gewidmet hatte. Kate, die das Foto interessiert betrachtete, sah einen Mann mit schütterem Haar, buschigen Augenbrauen und bleistiftdünnem Schnurrbart. Das andere Foto zeigte einen großväterlich wirkenden Typ mit Doppelkinn und spärlichem weißem Haarkranz, der einen dunklen Nadelstreifenanzug trug und einem ebenso dunkel angezogenen Owen Sinclair die Hand schüttelte. Das Bild war schlicht mit J. Parnell Thomas signiert.

Kate schrieb den Namen in ihr Notizbuch. Wenn diese Fotos die Höhepunkte von Sinclairs beruflicher Laufbahn symbolisierten, warum hatten sie dann keinen Ehrenplatz im Wohnzimmer erhalten? Warum hingen die Bilder so versteckt im Schlafzimmer, wo man sie nur mit Extra-Einladung zu Gesicht bekommen würde?

Sie wandte sich zu Taylor um, der mit dem Rücken zum Opfer stand und sie beobachtete. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben – ein guter Trick, um nicht versehentlich einen Gegenstand zu berühren, aber bei Taylor, das wusste sie, war es reine Gewohnheit.

Die Leute von der Spurensicherung waren eingetroffen – Baker, der Mann für die Fingerabdrücke, und Shapiro, der Fotograf. Pete Johnson fertigte eine Skizze vom Tatort an, und auch der Gerichtsmediziner würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Kate überließ es Taylor, mit Baker über die Fingerabdrucktechniken zu sprechen, und verließ Owen Sinclairs Wohnung, um sich ein Bild von den Örtlichkeiten zu machen. Die Polizeipräsenz im ersten Stock hatte zugenommen. Foster und Deems eskortierten eine blasse Frau mittleren Alters, die sichtlich unter Schock stand, in die schräg gegenüberliegende Wohnung. Die beiden Polizisten würden die Personalien aufnehmen und eine erste Befragung durchführen.

Direkt neben Sinclairs Wohnung befand sich eine nicht abschließbare Feuertür. Kate drückte sie vorsichtig mit dem Fuß auf. Nachdem sie hindurchgegangen war, behielt sie einen Fuß in der Tür, holte ihre Taschenlampe aus der Umhängetasche und steckte sie als Stopper zwischen Tür und Rahmen. Langsam ging sie die Treppe hinunter und warf einen prüfenden Blick auf die Stufen und Wände. Das geschlossene Treppenhaus führte über eineinhalb Stockwerke nach unten und endete im Keller unter den Erdgeschosswohnungen vor einer offenen Waschküche, in der mehrere Münzwaschmaschinen und Trockner standen. Ein enger Korridor mit plastikumwundenen Rohrleitungen an der Decke führte zur Vorderseite des Gebäudes. Kate untersuchte den Hinterausgang – offenbar eine Sicherheitstür mit einem von außen angebrachten Schloss, aber das konnte sie später noch genauer überprüfen. Erst mal musste Baker so schnell wie möglich diese und alle anderen Treppenhaustüren auf Fingerabdrücke untersuchen, bevor irgendein unachtsamer Polizeibeamter oder Mieter jede potenzielle Spur verwischt hatte – wenn es nicht bereits zu spät war. Sie ging in die Waschküche und sah durch das vergitterte Fenster nach draußen. Die Rückseite des Beverly Malibu wurde von einer schwach orange glimmenden Glühbirne über der Hintertür erleuchtet. Kate sah einen hohen, efeubewachsenen Zaun, der nur durch einen schmalen Gehweg vom Haus getrennt war.

Sie machte sich eine Notiz über diesen möglichen Zugang und ging dann unter der Röhrendecke des engen Korridors rasch zur Vorderseite des Gebäudes. Sie sah sich noch mal die Briefkästen in der Eingangshalle an und notierte die Namen der Mieter, die im ersten Stock die Apartments Nr. 10 bis 15 belegten: D. Kincaid, L. Rothberg, M. Marlowe, C. Crane und P. Grant – das war die Frau, die die Leiche entdeckt hatte. Bei der Frau, die von Foster und Deems in Apartment Nr. 11 geleitet worden war, handelte es sich wahrscheinlich um L. Rothberg. Sinclair hatte in Apartment Nr. 13 gewohnt.

Everson, der stellvertretende Gerichtsmediziner, kam mit seiner Arzttasche unterm Arm zur Vordertür herein. »Was macht ein nettes Mädchen wie Sie an einem Ort wie diesem?«, fragte er statt einer Begrüßung.

Schmunzelnd bedeutete sie ihm, ihr nach oben zu folgen.

In Owen Sinclairs Wohnung streifte Everson sich ein Paar chirurgische Handschuhe über, verschränkte dann ordentlich die Arme vor der Brust und nahm eine abwartende Haltung ein, während er beobachtete, wie die Blitzlichter von Shapiros Kamera über Owen Sinclairs Leiche zuckten.

»Hier bin ich fertig«, verkündete Shapiro an Kate gewandt. »Ich schätze, Sie wollen das Übliche – ein Foto von jedem Quadratmillimeter der Wohnung?«

Weder der bärtige Fotograf noch Kate verzogen eine Miene bei diesen Worten. Kate duldete weder Witzeleien noch Schlampigkeit, wenn es um die Gründlichkeit ihrer Untersuchungsmethoden ging, egal wie pedantisch sie erscheinen mochten. »Das Übliche wird reichen«, bestätigte sie gelassen. Sie deutete auf die Fotowand. »Ich hätte gern eine Aufnahme von jedem der Bilder.«

Shapiro zuckte gleichmütig die Achseln und wandte seine Aufmerksamkeit der Wand zu. Everson, der den Wortwechsel schmunzelnd verfolgt hatte, holte ein Skalpell aus seiner Arzttasche und ging zum Bett hinüber.

»Es tut überhaupt nicht weh«, tröstete er die Leiche, machte einen Schnitt in Sinclairs rechte obere Bauchhälfte und tauchte ein Thermometer hinein. Kate, die mit dem Verfahren schon vertraut war, wusste, dass er es in die Leber gesteckt hatte.

An Kate und Taylor gewandt erklärte Everson in höchst vergnügtem Ton: »Manchmal ist die Medizin mindestens so hübsch exakt wie die Mathematik. Euer Typ hier hatte eine Prise Strychnin in seinem Thanksgiving-Truthahn.«

Taylor, der sich Notizen machte, fragte: »Wie schreibt man das Zeug?«

»T-R-U-T-H-A-H-N«, buchstabierte Everson.

»Woher weißt du das, Walt?«, fragte Kate.

Everson betrachtete die Leiche und zitierte: »Tetanisch verkrümmter Rücken, sardonisches Grinsen, starrer Blick, Zyanose, das heißt Blaufärbung der Haut, verursacht durch einen extremen Blutdruckanstieg, sofortige Totenstarre – die klassischen Symptome. Im Studium habe ich eine Leiche gesehen, die haargenau so aussah.«

»Die Giftopfer, die ich gesehen habe«, überlegte Kate, »waren größtenteils Selbstmörder. Die meisten hatten sich vorher noch übergeben und …« Sie verdrängte die Bilder, die Erinnerung an den Geruch.

Everson nickte. »Manchmal ist das auch bei Strychnin so. Aber nicht immer. Es greift das Nervensystem an – Rückenmark und Gehirn.« Er deutete auf den gekrümmten Leichnam mit den blutroten Augen. »Schwerste Krämpfe – eine Reihe gleichzeitiger Muskelkontraktionen, so stark, dass sogar die Blutgefäße in den Augen geplatzt sind.«

Everson zog das Thermometer heraus, wischte es energisch mit einem Stück Watte sauber und hielt es hoch. »Vor zwei Stunden«, sagte er. Er warf einen Blick auf seine elegante Armbanduhr. »Todeszeit nicht früher als 17 Uhr 30.«

Kate betrachtete den Küchenstuhl neben dem Bett. Mit ruhiger Stimme fragte sie: »Was schätzen Sie, wie lange es gedauert hat, bis er tot war?«

Everson zuckte mit den Achseln. »Hängt von vielen Faktoren ab, wie zum Beispiel der Dosis. Eine tödliche Dosis fängt bei etwa zehn bis fünfzehn Gramm an. Erste Symptome treten nach vielleicht fünfzehn oder zwanzig Minuten bis zu einer Stunde auf, je nachdem, wie das Gift dem Körper zugeführt wird. Und er ist ein kräftiger Mann, schweres Körpergewicht. Zunächst wird er ein Engegefühl in der Brust bekommen haben, dann Schüttelfrost … Tja, wie lange bis zum Exitus? Über den Daumen geschätzt, eine bis drei Stunden nach Auftreten der ersten Symptome, aber ich habe auch schon von einem Fall gehört, wo es mehr als zehn Stunden gedauert hat.«

»Armes Schwein«, murmelte Taylor.

Everson schüttelte den Kopf. »Wenn dieser Raum nicht schalldicht ist, hätte ihn eigentlich jemand hören müssen. Strychninopfer verlieren nicht sofort das Bewusstsein, höchstens zeitweise – die einsetzenden Panikzustände beschleunigen den Tod. Es ist ein so qualvolles Sterben, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass irgendein Mensch es schweigend erträgt.«

Kate erinnerte sich, dass die Frau in der gegenüberliegenden Wohnung gerade nach Hause gekommen war. Aber was war mit den beiden Frauen, die die Leiche entdeckt hatten? Wahrscheinlich hatten sie sich in der angrenzenden Wohnung aufgehalten, während Owen Sinclair mit dem Tod rang …

»Was ist das für ein Gift, Walt?«, fragte Taylor. »Was für eine Art?«

»Organisch. Ich glaube, es wird meistens zur Schädlingsbekämpfung benutzt. Ein Alkaloid. Extrem bitter im Geschmack.«

Kate musterte mit wachsendem Interesse die leeren Gläser und Tassen auf dem Nachttisch.

Taylor hatte denselben Tisch ins Auge gefasst. »Wir sollten die Gläser lieber einsammeln.«

»Auf jeden Fall.« Sie würde das ganze Sortiment für einen Laserabdruck und eine toxikologische Untersuchung ins Labor schaffen lassen. »Wir sollten auch den Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss versiegeln lassen. Vielleicht war das Essen von der Feier heute nicht in Ordnung. Wir müssen eben sehen, was wir herausfinden können – und wie schnell wir es herausfinden.«

Everson zog ein Diktiergerät aus der Tasche. »Ich schätze, ihr habt einige Verdächtige, die ihr einschüchtern wollt. Ich habe noch meinen Bericht zu diktieren und würde gern irgendwann heute Nacht zu Heim und Herd zurückkehren.«

Kate wandte sich an Taylor: »Lass uns mit Paula Grant und ihrer Nichte sprechen.«

Beverly Malibu

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