Читать книгу Beverly Malibu - Katherine V. Forrest - Страница 8
Kapitel 2
ОглавлениеDie dunkelhaarige junge Frau, die die Tür von Apartment Nr. 14 öffnete, trug schwarze Hosen und eine weiße Seidenbluse mit Silberfäden. Kate stellte sich und Taylor vor, aber die junge Frau schien sie gar nicht zu hören und starrte nur unverwandt auf den Ausweis in Kates Hand. Langsam hob sie den Blick und schaute Kate ins Gesicht.
Ihre Augen waren von einem leuchtendem Veilchenblau mit so tiefen Schatten darunter, dass es fast aussah, als sei sie geschlagen worden, das Blau schien sich auf die weiche, ungeschminkte Haut ihrer Wangenknochen auszubreiten. Sie war jung – Kate schätzte sie auf etwa Mitte zwanzig. Und atemberaubend attraktiv in ihrer Festtagskleidung, obwohl sie sich ihres eleganten Aufzugs kaum bewusster zu sein schien, als wenn sie einen Bademantel getragen hätte.
Die blauen Augen verloren ihren leeren Blick und glitten forschend über Kates Gesicht. »Kommen Sie herein.« Ihre Stimme klang leise und sanft, fast atemlos.
Eine weißhaarige, gertenschlanke Frau schritt leichtfüßig über den grauen Teppich auf sie zu. Sie trug ein cremefarbenes Seidenhemd, das in einer locker geschnittenen beigefarbenen Hose steckte, und braune Halbschuhe mit Kordeln. »Ich bin Paula Grant. Das ist meine Nichte, Aimee Grant.« Die Schultern der älteren Frau waren straff, ihr Auftreten gebieterisch und ihre Stimme klang wie die von Lauren Bacall.
Kate zeigte erneut ihren Ausweis vor. »Ich bin Detective Delafield, dies ist mein Kollege, Detective Taylor. Es tut mir leid, Sie stören zu müssen, aber die Umstände zwingen uns leider dazu.«
Paula Grants klare haselnussbraune Augen ignorierten Kates Dienstausweis und glitten stattdessen über ihren Anorak und die Cordhose.
Aus einem plötzlichen unerträglichen Gefühl von Unzulänglichkeit heraus sagte Kate entschuldigend: »Ich war gerade bei Freundinnen zu Gast, als ich hierher gerufen wurde«, und wurde sich im selben Moment bewusst, dass sie so etwas noch nie zuvor in ihrer beruflichen Laufbahn getan hatte. Sie fühlte Taylors Blick auf sich.
»Natürlich«, sagte Paula Grant. »Bitte setzen Sie sich doch.«
Aber Kate wusste, dass sie im Ansehen dieser aristokratischen Frau gesunken war. Es gehörte sich einfach nicht, an Thanksgiving so herumzulaufen, ganz egal wo und mit wem.
»Wir müssen Ihnen und Ihrer Nichte einige Fragen stellen«, sagte sie zu Paula Grant, »und wir müssen Sie getrennt vernehmen.«
»Detective Delafield, ich verstehe Ihre Gründe für diese Vorgehensweise.« Der Blick der älteren Frau heftete sich auf Aimee. »Aber ist das wirklich absolut notwendig?«
Kate sah Aimee Grant an. Sie stand eindeutig unter Schock, und Paula Grant wollte nicht von ihr getrennt werden. Aber ebenso eindeutig fühlte Kate sich in erster Linie dem toten Mann in der Nachbarwohnung verpflichtet, und Einzelbefragungen gehörten zur vorgeschriebenen Routine, um ein Bild von der spezifischen Erinnerung jeder einzelnen Person zu bekommen. Taylor, der vor ihr am Tatort eingetroffen war und die Polizeibeamten bereits entsprechend instruiert hatte, zuckte fast unmerklich die Achseln. Kate nickte Paula Grant zu. Sie würde mit der Befragung beginnen und sehen, wie sich die Sache entwickelte.
Sie nahm sich einen Moment Zeit, um sich in der Wohnung umzuschauen. Die bumerangförmige Glasplatte eines Cocktailtischs ruhte scheinbar locker auf Chromstützen. Der Tisch war leer und aufgeräumt, abgesehen von einem großen Messingaschenbecher, einem Zigarettenetui sowie einem Drink auf einem Untersetzer und einer großen, schlanken, sehr stilisierten Zinnskulptur einer nackten Frau. Auf zwei Beistelltischchen mit Marmorplatten und einem Pflanzentisch stapelten sich Bücher und Zeitschriften. Drei Regiestühle aus edlem Leder und ein graues Tweedsofa waren um den Couchtisch gruppiert. Bei einem weiteren Regiestuhl aus Holz und Segeltuch handelte es sich anscheinend um ein authentisches Stück: In den Stoff der Rückenlehne war der Name DOROTHY ARZNER eingedruckt. Der Stuhl war offenbar nicht für den täglichen Gebrauch gedacht. Er nahm eine Art Ehrenplatz ein, abseits von den anderen unter dem schwarzgerahmten Poster eines Joan Crawford-Films, von dem Kate noch nie gehört hatte: The Bride Wore Red.
Mehr als ein Dutzend ähnlich gerahmter Poster und Filmplakate schmückten die Wände. Überrascht registrierte Kate die bekannten Gesichter: Shirley McLaine und Audrey Hepburn in Infam, Candice Bergen als Lakey in Die Clique. Susan Sarandon und Catherine Deneuve in Begierde. Ein Plakat von der Garbo, gemeißelte Androgynität in Schwarzweiß, als Königin Christine. Mariel Hemingway und Patrice Donnelly in Personal Best hoch zu Ross über ein Hindernis hinwegfliegend. Eine Barszene mit den beiden weiblichen Stars aus Lianna. Und an der Wand des Esszimmers Helen Shaver, den Blick verträumt in die Ferne gerichtet, während Patricia Charbonneau sich lässig-selbstbewusst an ein Chevy-Cabriolet lehnte – ein Plakat von Desert Hearts.
Kate sah zu Taylor hinüber, um festzustellen, ob er wohl bemerkt hatte, was die meisten dieser Bilder miteinander verband. Doch sein Blick hing noch immer wie gebannt an dem Poster von Joan Crawford.
An Paula Grant gewandt, fragte er: »Haben Sie persönlich mit all diesen Filmen zu tun gehabt?«
»Mit einigen«, entgegnete sie mit ihrer heiseren Stimme. »Dorothy Arzner hat 1937 bei diesem Film mit Joan Crawford Regie geführt. Meine Mutter arbeitete als Kostümbildnerin bei MGM und hatte das Glück, für ihren Film eingesetzt zu werden – ich war damals vierzehn.«
Paula Grants Ausführungen erklärten nicht ganz ihre offensichtliche Bewunderung für Arzner. Aber Kate konnte sich den Rest zusammenreimen: Sie selbst war auch vierzehn gewesen, als sie sich das erste Mal von einer Frau sexuell angezogen gefühlt hatte, von einer Lehrerin …
Paula Grant deutete mit ihrer feingliedrigen, durchscheinenden Hand auf die anderen Poster. »Die meisten sind nach meiner Zeit in der Filmbranche entstanden. Ich finde sie einfach schön … aus den verschiedensten Gründen.«
Sie richtete ihren Blick wieder auf Kate und sah sie eindringlich an – Kate wurde klar, dass Paula Grant nichts entgangen war von ihrer eigenen Betrachtung der Bilder.
Kate setzte sich in einen der lederbespannten Regiestühle, Taylor ließ sich neben ihr nieder. Paula und Aimee Grant nahmen auf dem Sofa Platz. Kate glättete ihren Anorak, so gut es ging, und zog ihr Notizbuch heraus. Sie befahl sich selbst, sich jetzt auf ihre Notizen und die Einzelheiten der Befragung zu konzentrieren.
»Ich weiß, dies ist sehr schwer für Sie«, setzte sie an. Ein schwacher Lavendelduft stieg ihr in die Nase, aber sie konnte nicht genau ausmachen, ob er von einer der Grant-Frauen oder von der Wohnung ausging. »Aber mein Partner und ich müssen Sie bitten, die Ereignisse dieses Tages noch einmal mit uns durchzugehen.«
Sie sah von ihrem Notizbuch hoch. Aimee Grants veilchenblaue Augen waren auf sie gerichtet, ihr Blick wirkte leer und sehr verletzbar.
»Vielleicht könnten wir damit beginnen«, ließ sich Taylor vernehmen, »wann Sie das Opfer gefunden haben.« Kate hörte die Ungeduld in seiner Stimme und hatte Verständnis dafür. Sie mussten zu viel zu schnell erledigen und konnten sich diesen ganzen überflüssigen Gefühlsaufwand nicht leisten.
»Um fünf vor sechs«, antwortete Paula Grant mit königlicher Ruhe. »Aimee war schon eine Weile hier, und wir wollten gerade essen gehen.«
Aimee Grant sagte leise: »Tante Paula wollte unbedingt hineingehen und nachsehen, was los war.«
»Warum sind Sie in die Wohnung gegangen?«, hakte Taylor sofort nach. »Haben Sie irgendwelche Geräusche gehört?«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Paula Grant. »Und ich fürchte, das ist eben nur schwer zu erklären – es waren eher die Geräusche, die ich nicht gehört habe.« Sie schüttelte den Kopf, als ob der Gedanke an die Aussichtslosigkeit eines solchen Erklärungsversuchs sie erschöpfte.
»Miss Grant«, sagte Kate. »Detective Taylor und ich werden diese Untersuchung leiten –«
»Tatsächlich?« Paula Grants Augen musterten Kate mit scharfem Interesse.
»– und wir müssen Sie bitten, die Ereignisse noch einmal sehr genau durchzugehen und sich an so viele Einzelheiten wie möglich zu erinnern.«
»Da meine Nichte und ich beide als Miss Grant gelten«, bemerkte Paula Grant, »scheint es mir einfacher, Sie würden uns Paula und Aimee nennen.« Sie fuhr fort: »Ich ging in Owen Sinclairs Wohnung, weil die Tür offen stand – aber vor allem, weil das Walla sich verändert hatte.«
Kate und Taylor tauschten einen verständnislosen Blick. Aimee Grants Gesichtszüge entspannten sich langsam zu einem schwachen Lächeln.
Paula beugte sich zum Couchtisch vor und holte eine lange, schlanke Zigarette aus ihrem schwarzledernen Etui. »Um zu erklären, was Walla bedeutet, muss ich hinzufügen, dass ich als Script-Supervisorin gearbeitet habe, bevor ich aus der Filmbranche ausgestiegen bin.« Sie sah zu Taylor hinüber. »Wissen Sie, was eine Script-Supervisorin macht?«
Taylor schlug die Beine übereinander und stützte sein Notizbuch in seinen Schoß. »Sachen wie sicherzustellen, dass ein Schauspieler nicht ein blaues Hemd in einer Szene trägt, wo er ein weißes anhaben sollte«, erklärte er behaglich.
»Das ist zwar richtig, aber genauso, als würde ich die Arbeit der Polizei damit beschreiben, dass sie Strafzettel an Parksünder verteilt«, entgegnete Paula in demselben lockeren Ton. »Eine Script-Supervisorin muss alles Erdenkliche kontrollieren – die Dialoge, das Make-up, die Frisuren, die Requisiten, die Szenenkostüme – ganz zu schweigen von Kameraeinstellungen und Drehabfolgen – bis alles so ist, wie es der Filmproduzent gerne haben will.«
»Eine Unmenge von Details«, kommentierte Kate beeindruckt.
»Das kann man wohl sagen. Eine Script-Supervisorin muss so viele Utensilien bei sich tragen, dass sie aussieht wie ein tibetanischer Packesel.« Paula zündete ihre Zigarette mit einem kleinen goldenen Feuerzeug an. Während sie das Feuerzeug wieder ins Etui steckte, fuhr sie fort: »Wenn eine Szene nicht gerade ohne Ton gedreht wird, muss sie auch für das sorgen, was wir Präsenz oder Raumton nennen – wie zum Beispiel die Hintergrundgeräusche in einem Restaurant. Und dann gibt es konstante Geräuschkulissen, die nicht im Drehbuch stehen und auf Tonband aufgenommen werden, um einer bestimmten Szene einen realistischen Touch zu geben. Wie Verkehrslärm oder Vogelgezwitscher oder Nachtinsekten. Das ist das sogenannte Walla.«
Der Rauch von Paulas Zigarette geriet in heftige Bewegung, als sie in Richtung von Owen Sinclairs Wohnung deutete. »In jeder wachen Minute seines Lebens spielte er da drüben seine Musik ab. Ich habe ein Extra-Schlafzimmer zwischen diesem Zimmer und seiner Wohnung, aber ich höre – hörte – es trotzdem. Es war das Walla meines täglichen Lebens.«
»Heute war es wirklich unheimlich laut«, warf Aimee dazwischen. »Der Mann war ein bulliges, lautes, rücksichtsloses Arschloch. Ein Kotzbrocken.«
»Kurz bevor Aimee und ich zum Essen gehen wollten«, fuhr Paula ungerührt fort, »hörte die Musik auf. Und es gab keinen plausiblen Grund dafür.«
Taylor schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
Kate verstand es auch nicht. Sie fragte: »Konnte er nicht einfach weggegangen sein? Stellte er die Musik nicht ab, wenn er seine Wohnung verließ?«
»Natürlich. Aber ich habe immer gehört, wie die Tür ins Schloss fiel, sogar wenn ich unter der Dusche war. Er hat seine Wohnung nie verlassen, ohne die Tür derart zuzuknallen, dass sie fast aus den Angeln flog.«
»Nie?«, fragte Taylor skeptisch.
»Nie.«
»Paula«, hakte Kate ein, »bitte sagen Sie uns genau, was sich abgespielt hat, als sie zum Essen gehen wollten.« Sie hatte weitere Fragen zu Paula Grants Walla, aber Taylor legte eine etwas verfrühte Streitlust an den Tag.
»Es war rein instinktiv – ich kann nicht sagen, was es war, ich hatte einfach nur das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte – irgendetwas zog mich zu seiner Wohnung. Ich spürte … also, die Tür stand offen, und Aimee und ich warfen einen Blick hinein –«
»Die Tür«, unterbrach Kate, während sie sich hastig Notizen machte, »wie weit stand sie offen?«
»Ungefähr so viel«, Aimee zeigte mit den Händen einen Abstand von ungefähr sechzig Zentimetern.
»Ja, das stimmt«, sagte Paula. »Dann rief ich nach ihm.«
»Was haben Sie gerufen?«
Paula sah sie ärgerlich an. »Was jeder rufen würde: ›Owen, sind Sie da?‹ Dann ging ich hinein.«
»Ich wollte nicht, dass sie reingeht«, sagte Aimee.
»Ich musste es einfach tun«, meinte Paula. »Ich wusste, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.« Sie pflückte einen unsichtbaren Fussel von ihrer makellosen beigefarbenen Hose.
»Wenn Sie der Ansicht waren, dass etwas nicht in Ordnung war«, fragte Taylor, »ist Ihnen gar nicht in den Sinn gekommen, dass sich ein Verbrecher in der Wohnung befinden könnte?«
»Ich habe das gedacht«, warf Aimee ein, »und gesagt.«
Der Rauch von Paulas Zigarette geriet erneut in heftige Bewegung, als sie diesen Gedanken mit einer energischen Handbewegung verscheuchte. »Seine Tür war nicht beschädigt, und das ist die einzige Möglichkeit, wie man in diesem Stock in eine Wohnung einbrechen kann. Ich lebe seit fünfundzwanzig Jahren hier, und es hat noch nie ein Verbrechen gegeben. Ich habe einfach gedacht, dass er Probleme hat.«
»Was für Probleme?«, erkundigte sich Taylor.
Mit kaum verhohlener Ungeduld entgegnete Paula: »Gesundheitliche, natürlich. Es ging ihm in letzter Zeit nicht besonders gut. Also ging ich hinein.«
»Und ich folgte ihr«, sagte Aimee. Sie saß vollkommen reglos da. Ihr Blick ging wieder ins Leere.
»Ich ging den Flur hinunter zu seinem Schlafzimmer …« Die heisere, dunkle Stimme war noch einen Ton tiefer geworden.
»Ich weiß, dass es sehr schwer für Sie ist«, ermutigte Kate sie.
»Als ich sah, was im Schlafzimmer war, wollte ich Aimee den Blick versperren …«
»Seine Augen«, flüsterte Aimee. »Er war tot, ich wollte nur noch weg, raus da –«
Kate beobachtete, wie die ältere Frau sich zu der jüngeren hinüberbeugte und tröstend ihre Hand drückte. Paulas Hand war ebenso schlank und feingliedrig wie Aimees. Aber die viel größere Vielfalt der Gefühle, die sich im Gesicht der älteren Frau spiegelten, machte den Altersunterschied plötzlich deutlich sichtbar – es war ein schönes, ausdrucksvolles Gesicht, ein Gesicht, in das die Erfahrung ihre Spuren gezeichnet hatte wie die vielen Sommersonnen und Winterregen in eine Felsküste.
»Ich glaube, ich habe geschrien«, sagte Aimee. »Die Hausbesitzerin und einige andere Mieter kamen angerannt, und ich wollte, dass jemand zu Tante Paula ging, aber dann kam sie heraus –«
»Wissen Sie, ob sonst noch jemand die Wohnung betreten hat, bevor die Polizei eingetroffen ist?«, fragte Kate.
»Nein«, entgegnete Paula. »Ich habe es nicht zugelassen. Nicht aus irgendeiner Art Pflichtgefühl gegenüber der Polizei. Ich wollte den anderen diesen Anblick ersparen. Ich schloss die Tür und veranlasste die anderen, mir ins Erdgeschoss zu folgen und auf das Eintreffen der Polizei zu warten.«
An beide Frauen gerichtet fragte Kate ruhig: »Sie waren zu jenem Zeitpunkt überzeugt, dass das Opfer tot war?«
Aimee sah bestürzt aus: »Ich habe keinen Augenblick –«
Wieder drückte Paula beruhigend ihre Hand. »Er war zweifellos tot. Ich habe es überprüft. Ich –« Sie legte ihre Zigarette in den Aschenbecher, griff nach ihrem Drink und nippte daran. »Ich ging zu ihm, fühlte nach dem Puls an der Halsschlagader.« Ihre schmalen Schultern waren energisch gestrafft, die Hand, mit der sie das Glas hielt, zitterte fast unmerklich.
Kate dachte an die blutäugige Horrorgestalt in der angrenzenden Wohnung und betrachtete Paula mit wachsendem Respekt. Die Kraft dieser Frau war mindestens so sehr das Resultat ungeheurer Selbstbeherrschung wie eine Charaktereigenschaft.
Mit ruhiger Stimme sagte Paula: »Ich sah die Handschellen. Ich ging dann gleich zum Telefon, um die Polizei zu rufen, und bemerkte die durchgeschnittene Schnur. Ich habe nichts angerührt, nichts weiter gemacht – ich bin einfach hinausgegangen. Inzwischen hatte ich große Angst.«
»Das wäre wohl jedem so gegangen«, murmelte Kate. Sie fragte: »Was Sie gesehen haben – haben Sie einem der anderen Mieter gegenüber irgendwelche Einzelheiten erwähnt?«
»Nur dass er tot war, dass jemand ihm etwas Furchtbares angetan hat. Mehr nicht.«
»Paula«, meldete Taylor sich zu Wort, »haben Sie einen Blick in die anderen Räume geworfen, während Sie in der Wohnung waren?«
»Nein«, antwortete sie. Ihre Augen weiteten sich, ein fast unmerkliches Zittern durchlief ihren zierlichen Körper. »Meinen Sie damit, dass vielleicht noch jemand … dass jemand …«
»Nicht sehr wahrscheinlich«, beruhigte Kate. »Die Tür stand offen. Ein Verbrecher, der sich noch in der Wohnung aufgehalten hätte, hätte normalerweise die Tür geschlossen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.« Sie fragte: »Sind Sie früher schon mal in Mr. Sinclairs Wohnung gewesen?«
»Selten. Am Vierten Juli hat er für alle eine Party gegeben – ich fühlte mich verpflichtet, kurz vorbeizuschauen. Ich glaube, das war das letzte Mal.«
Kate machte sich eine Notiz über die Feindseligkeit, die in der Antwort angeklungen war, und probierte ihr Glück mit einer Frage, die alle Möglichkeiten offen ließ: »Was können Sie uns über Mr. Sinclair erzählen?«
»Was wollen Sie wissen?«
Kate unterdrückte ein Lächeln. So viel zu Paula Grants Bereitschaft, freiwillig mit Informationen herauszurücken. »Wie lange haben Sie ihn gekannt?«
Paula nippte an ihrem Drink und sah nachdenklich zu Aimee, die offenbar gerade entschieden hatte, dass sie genug zu dieser Befragung beigetragen hatte. Sie erhob sich vom Sofa und begann im Zimmer herumzuwandern, die Hände in den Taschen ihrer schwarzen Hose vergraben. Paula sagte: »Ich lebe hier seit Anfang 1963. Owen ist später eingezogen – ich weiß nicht mehr genau wann, vielleicht ein oder zwei Jahre später. Nach so vielen Jahren ist es schwer, sich genau zu erinnern.«
»Haben Sie immer Tür an Tür mit ihm gewohnt?«, fragte Taylor.
»Ich hatte für kurze Zeit eine Wohnung im ersten Stock. Dann habe ich die nächsten neunzehn Jahre gemeinsam mit Alice Goldstein in dieser größeren Wohnung gelebt. Bis zu Alices Tod vor fünf Jahren.« Sie hatte sich bei ihrer Antwort an Kate gewandt und mit flacher, ausdrucksloser Stimme gesprochen, die weitere Fragen verbot.
Kate war sicher, dass Taylor Paulas verschlossene Miene, ihren distanzierten Ton und die Vermeidung beschönigender Bezeichnungen wie Freundin oder Mitbewohnerin für Alice Goldstein bemerkt hatte. Sie lenkte das Gespräch in andere Bahnen. »Sie haben von dem Walla gesprochen, das Mr. Sinclair mit seiner Musik geschaffen hat. Hat der Lärm Sie nicht gestört? Haben Sie sich nie darüber beschwert?«
Paula richtete sich auf, deutlich provoziert durch die Frage. »Natürlich hat es mich gestört, und natürlich habe ich mich darüber beschwert. Glauben Sie, ich verbringe mein Leben im Koma? Beschwerden waren nutzlos – egal ob bei ihm oder bei Hazel. Hazel Turner«, erklärte sie mit eisiger Stimme, »die Hausbesitzerin.«
»Sie meinen, Sie haben die laute Musik vierundzwanzig Jahre lang ertragen?«, fragte Taylor ungläubig.
»Natürlich nicht. Erst seit Einführung der Mietpreisbindung. Zu jenem Zeitpunkt hat Owen Sinclair erkannt, dass er beruhigt jede Form von Rücksichtnahme aufgeben konnte.«
In beißendem Ton fuhr Paula fort: »Ich selbst, Maxine in der Wohnung gegenüber, Mildred unter uns – er wusste, dass es für uns alle eine enorme finanzielle Belastung bedeuten würde, hier auszuziehen. Und was Hazel angeht – sie weiß, dass sie wesentlich höhere Mieten für die Wohnungen verlangen kann, wenn wir ausziehen.«
Noch so ein Menschenschinder, dachte Kate. Offenbar war Sinclair einer von diesen despotischen Typen gewesen, die jedes bisschen Macht, das sie in die Finger bekamen, missbrauchten. »Haben Sie je daran gedacht, die Polizei zu rufen?«, fragte sie.
»Mildred hat es getan. Einmal. Deren Kommentar war sinngemäß, wir seien einfach ein Haufen überdrehte alte Jungfern.«
Kate war so empört, dass es ihr die Sprache verschlug. Taylor meinte: »Sie sagten, Sie sind um fünf vor sechs aufgebrochen, um essen zu gehen.«
»Nicht direkt zum Essen. Wir wollten erst noch Verwandte besuchen.«
Kate, die sich wieder gefasst hatte, sagte: »Wenn Sie Ihre Wohnung verlassen, benutzen Sie dann normalerweise die Vorder- oder die Hintertreppe?«
»Die Vordertreppe natürlich. Ich benutze die Hintertreppe lediglich, um in die Waschküche hinunterzugehen.«
»Als Sie in Mr. Sinclairs Apartment kamen, haben Sie vielleicht irgendeinen besonderen Geruch wahrgenommen?«
Paula dachte nach. »Nichts Ungewöhnliches.«
»Nur seinen stinkigen Zigarrenrauch«, warf Aimee ein.
»Paula«, sagte Kate, »können Sie uns irgendetwas über Mr. Sinclair sagen, das dazu beitragen könnte, seinen Mörder zu finden?«
»Ich schätze, Sie meinen, ob ich Ihnen etwas über seine Feinde sagen kann.« Sie zuckte die Achseln. »Er hatte eine ganze Menge davon – einfach weil er der Mann war, der er war.« Wieder zuckte sie die Achseln. »Ich selbst habe ihm sehnlichst den Tod gewünscht. Aber ich kenne niemanden, der … oder die so etwas tun würde. Ich glaube, wir alle denken manchmal, dass wir jemanden umbringen könnten. Aber wir tun es nicht.«
»Einige tun es«, sagte Taylor trocken und machte sich Notizen.
»Ich kenne niemanden, dem ich es zutrauen würde«, sagte Paula. »Aber offensichtlich hat ihm das jemand angetan, den er gut kannte.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Taylor fast gelangweilt, aber Kate wusste es besser. Sie wusste genau, dass er bei dieser Befragung eine ganz bestimmte Fährte verfolgte.
»Irgendjemand muss ihm die Handschellen angelegt und das Telefonkabel durchgeschnitten haben. Aber es wurde nicht eingebrochen. Also muss Owen jemandem die Tür geöffnet haben, den er kannte.«
Weder Taylor noch Kate antworteten darauf. Es gab genügend Einbruchsmethoden, bei denen man nicht unbedingt mit roher Gewalt vorgehen musste, aber derlei Erwägungen mussten in diesem frühen Ermittlungsstadium zwischen ihr und Taylor bleiben.
»Haben Sie gehört, ob jemand an seine Tür geklopft hat?«, fragte Kate.
»Nein, aber er hat eine Klingel. Und mein Fernseher lief, Aimee hat sich heute Nachmittag ein ziemlich lautes Footballspiel angesehen.«
»Wann haben Sie Mr. Sinclair das letzte Mal lebend gesehen?«, fragte Taylor.
»Wie alle anderen – auf der Feier.«
»Feier?«, wiederholte Kate, die sich an die Hinweise auf eine Festivität im Gemeinschaftsraum erinnerte.
»Hazels Thanksgiving-Treffen. Die meisten Mieter, die heute zu Hause waren, haben zumindest kurz reingeschaut. Auch Owen.«
»Wie lange waren Sie auf der Feier?«, erkundigte sich Taylor.
»Ich bin mir nicht sicher. Ich habe mich eine Weile mit Dorothy Brennan unterhalten – sie wohnt erst seit knapp einem Jahr hier.« Paula sah zu Aimee hinüber. »Was schätzt du, wie lange wir unten waren, Liebes?«
Aimee lehnte an der gegenüberliegenden Wand, die Arme über der Brust verschränkt. »Ich habe fast die ganze erste Halbzeit des Spiels unten gesehen. Ich würde sagen, ungefähr eineinhalb Stunden.«
»War Mr. Sinclair während dieser Zeit auch anwesend?«, fragte Kate.
»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, sagte Aimee. »Ich habe versucht, ihn zu ignorieren.«
Paula schloss die Augen und konzentrierte sich. »Er kam, als wir schon da waren. Und er verließ die Feier vor uns. Ich erinnere mich jetzt – er fühlte sich wieder nicht wohl.«
Kate wechselte einen Blick mit Taylor. Es gab jetzt noch mehr zwingende Gründe, die Abfälle jener Feier einzusammeln. Sie schlug eine neue Seite in ihrem Notizbuch auf. »Könnten Sie uns sagen, wer alles auf der Feier gewesen ist?«
»Ich habe als Script-Supervisorin gearbeitet, erinnern Sie sich?«, entgegnete Paula in leicht gereiztem Ton. »Ich habe ein Gedächtnis wie ein Elefant.« Außer ihrem eigenen und Aimees Namen zählte sie acht weitere auf.
Paula Grants Gesicht wirkte plötzlich klein und erschöpft, und Kate beschloss, die Befragung zu beenden. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Paula sagte müde: »Das war nur der Anfang, nicht wahr?«
»Es tut mir leid«, entgegnete Kate sanft. »Aber ich fürchte, Sie haben recht – ich bin sicher, dass sich weitere Fragen ergeben werden, wenn die Ermittlungen voranschreiten. Wir müssen Ihre Aussage protokollieren und brauchen dann noch Ihre Unterschrift.«
Paula nickte und Kate fügte hinzu: »Es ist sehr wichtig, dass Sie das, was Sie in Mr. Sinclairs Wohnung gesehen haben, für sich behalten, wie auch alles, was wir hier besprochen haben. Das würde uns wirklich helfen.«
Paula Grant nickte abermals. Sie erhob sich, als die zwei Kriminalbeamten aufstanden. Aimee Grant, die neben dem Poster von Infam an der Wand lehnte, betrachtete Kate mit aufmerksamem Blick.