Читать книгу Ein Engel auf der Couch - Kathleen Christochowitz - Страница 3
Das erstarrte Mädchen
ОглавлениеDass ich mal zu einer Psychologin gehen würde, hätte ich im Traum nicht gedacht. Da gehen doch nur Bekloppte hin. Bin ich etwa eine? Ich muss schmunzeln. Normal war ich eigentlich noch nie und mein Leben war in letzter Zeit alles andere als normal. Aber heißt nicht normal auch gleich bekloppt?
Im Moment habe ich für solche Gedanken keine Zeit. Ich stehe vor der großen, weißen Haustür mit der verschnörkelten Klinke und klingle. Die Tür gehört einer alten, im roten hanseatischen Stil gebauten, Rostocker Villa in der Friedensstraße Nummer 38.
Hoffentlich wird das nicht wieder ein Desaster. Wie bei den anderen zwei Psychologinnen, die ich »ausprobierte«. Als ich bei der ersten war, hatte ich 40 Minuten am Stück geredet und geredet und kurz vor Ende der Stunde sagte sie, dass sie Verhaltenstherapeutin wäre und dass ich mir lieber jemanden suchen sollte, der Tiefenpsychologe sei. Da war ich vielleicht sauer. So etwas aber auch! Eine Stunde verschenkt! Ich redete mir den Mund fusselig und dann durfte ich aufstehen und gehen und meine Geschichte gleich mitnehmen. Danke dafür, dass ich mich so benutzt und beschämt fühlte, dachte ich nach dem Termin verwirrt.
Eigentlich war mit dieser Erfahrung die ganze Psycho-Sache für mich gelaufen. Doch mein Leidensdruck war scheinbar so groß, dass ich mir trotzdem noch einen Termin bei einer anderen Therapeutin holte. Und auch dort war es nicht gerade ein Hit! Ich weiß noch, dass ich zur goldigen Morgenstunde um zehn Uhr meine Sitzung bei ihr hatte und die gute Frau gähnte mich in einer Tour an. War ich so langweilig oder hatte sie so eine kurze Nacht? Wie unhöflich war das denn! Mein Leben und ich schienen belanglos und öde zu sein, dachte ich irritiert. Die schlief mir ja fast ein. Ich hätte am liebsten »Aufwachen!« gerufen. Und dann nickte sie immer so mitleidsvoll, wenn ich erzählte. Das fand ich ganz daneben.
Jetzt bin ich kurz davor die dritte Dame zu besuchen. Was für eine Odyssee! Zum Glück bin ich nicht selbstmordgefährdet, sonst wäre ich schon drei Mal tot. Schon die langen Wartezeiten bis man einen Termin beim Psychologen erhält, sind höchst bedenklich.
Die Tür surrt und ich stoße sie gespannt auf. Aller guten Dinge sind drei. Im Treppenflur hängen alte Schwarz-Weiß-Fotografien von der Hansestadt Rostock. Es sind Großaufnahmen aus der Luft. Sie sehen ein bisschen trostlos aus. Auf dem einen Bild ist ein Schiff im Stadthafen zu sehen, auf dem anderen der historische Rathausplatz von früher und außerdem noch ein Foto von der Petrikirche in der östlichen Altstadt. Ich gehe das alte Treppengeländer bis in den ersten Stock hinauf.
Die Bürotür öffnet sich und da steht sie. Groß, lange rotbraune Haare, geschminkt, attraktiv gekleidet, kurvenreiche Figur. Was für ein Weibsbild! Und ich stiefle ihr auf den Stufen entgegen. Klein, halblange, dunkelblonde Haare, pummelig und angezogen wie eine aus dem Pfadfinderlager.
Ich fühle mich in ihrer Gegenwart wie eine Fritte, klein und fett. Sie streckt mir freundlich, lächelnd und offenen Blickes die Hand entgegen. Endlich eine, die richtig lächelt.
»Schön«, sage ich selbstbewusst.
»Wie?« Sie guckt irritiert.
»Ich heiße Elisa Schön.«
»Ach so.« Sie lacht laut auf. »Ich bin Frau Hirte.«
Beim Schütteln unserer Hände drücke ich fest zu. Sie soll schließlich nicht denken, dass ich schwach wäre. Ihr Parfüm riecht angenehm. Es war bestimmt kein Duftwässerchen aus dem gewöhnlichen Drogerie-Discounter. Sie bittet mich herein. Ich stehe im kahlen und dunklen Flur der Praxis. Von hier aus führen vier weitere Türen in verschiedene Zimmer. Sie zeigt in ihren Raum und bedeutet mir hineinzugehen. Das Zimmer ist klein und eng und wirkt etwas dunkel. Gleich rechts neben der Tür steht eine rote Couch.
Es gibt sie also wirklich, denke ich amüsiert, die Psycho-Couch von Sigmund Freud. Die große Couch, das große Unbewusste, die große Unbekannte. Ich möchte nicht wissen, wie viele Patienten jeden Tag darauf liegen oder schon darauf gelegen haben. Daneben steht ein runder Tisch mit zwei Korbstühlen direkt am Fenster. Frau Hirte kramt in einem Regal und zieht zwei Blätter hervor. Ich stehe etwas verloren herum.
»Wie ist Ihr richtiger Name?«
»Elisa Schön«, wiederhole ich. »Wie ich anfangs schon erwähnte.« Hatte sie mir überhaupt zugehört? Sie schaut auf ihren Zettel.
»Da passt ja Lieschen. Kann ich Sie Lieschen nennen?« Sie guckt von ihrem Papier hoch und mich fragend an. Ich glaube mich verhört zu haben.
»Nein, so will ich nicht genannt werden. Ich heiße Elisa. Der Name steht nicht umsonst in meiner Geburtsurkunde.«
Das regt mich auf. So eine Frechheit. Ich überlege noch, ob ich sie gut finden soll oder nicht. Das gibt auf jeden Fall einen Punktabzug. Eindeutig. Sie merkt, dass ich ungeduldig werde.
»Was machen Sie hier?«, fragt sie neugierig.
Na, was wohl, denke ich amüsiert. Brot will ich bestimmt nicht bei ihr kaufen.
»Ich will in mein Leben endlich wieder Ordnung bringen. Es ist alles kompliziert.«
»Dann setzen Sie sich und erzählen Sie mal.«
Mit der Hand weist sie auf die Stühle. Ich entscheide mich für die linke Seite, stelle meine große beige Handtasche an das hintere Stuhlbein und setze mich.
»Wo soll ich anfangen? Ich habe so viel erlebt«, sage ich etwas überfordert.
»Was wollen Sie mir denn erzählen?«, fragt sie.
Hm, ich merke wie forschend wir uns beide ansehen und muss darüber fast lachen. Wir beschnuppern uns vorsichtig wie zwei Hunde. So, als wollten wir unser Revier abstecken. Die ist wirklich nicht ohne und jetzt muss ich auch noch antworten, denn Frau Hirte hatte mir mit ihrer Gegenfrage geschickt den Ball zugeworfen.
Tja, was soll ich jetzt sagen? Mir lag als Antwort »Alles« auf der Zunge. Und das »Alles« war mein Leben, mein ganzes Dasein.
»Was wollen Sie mir erzählen?«
Sie schaut mich gespannt und neugierig an. Ja, sie wirkt interessiert und hellhörig, und sie hat einen großen Notizblock vor sich auf dem Tisch liegen mit einem Stift. Auf dem weißen Blatt steht ganz oben das heutige Datum und mein Name unterstrichen darauf. Unterstrichen wohlgemerkt. Sie hat also vor mitzuschreiben. Sie wäre damit die erste, die sich etwas notiert. Bei den anderen zwei Berufskolleginnen vor ihr ging es in ein Ohr rein und aus dem anderen wieder raus. Und sie hier will alles festhalten. Das gefällt mir. Ich fühle mich gut aufgehoben.
»Ich habe so viel erlebt, dass ich es jemandem erzählen muss«, entgegne ich nur.
»Na, dann fangen Sie mal an.«
Sie stützt ihr Kinn auf ihren linken Arm und wirkt hoch konzentriert. Wo soll ich nur anfangen, denke ich angestrengt. Die Antwort steckt ja eigentlich schon drin: Am Anfang. Ich grüble dennoch.
»Es war ja ganz schön schwierig hier einen Parkplatz zu finden«, sage ich.
Mensch, dass interessiert sie ja wohl überhaupt nicht! Sie schaut mich prüfend an:
»Es hat Sie aber nicht abgeschreckt herzukommen, wie ich sehe. Oder was bedeutet das für Sie, dass Sie keinen Parkplatz gefunden haben?«
Wie bitte? Was soll denn diese Frage? Das habe ich doch nur so gesagt. Wird das etwa gleich analysiert? Da muss ich höllisch aufpassen, was ich erzähle, wenn jedes Wort sofort auf die Goldwaage gelegt wird. Ach, du meine Güte! Na gut, dann werde ich erstmal die seichten Fakten auf dem Tablett liefern.
»Ich bin 28 Jahre alt, wohne derzeit wieder bei meinen Eltern, weil ich vor über einem halben Jahr aus Frankfurt am Main zurückgekommen bin. Ursprünglich bin ich aus der hiesigen Gegend.« Ich mache eine kurze Pause. Sie guckt mich weiter an.
»Ich habe hier in Rostock mit meinem Umzug auch eine neue Arbeitsstelle angefangen.«
»Sind Sie wegen der Arbeit hier hergezogen?«, fragt sie mich. Schön, dass sie mir Fragen stellt, die anderen wollten nie etwas wissen.
»Nicht nur, ich bin hauptsächlich hergekommen, weil ich mich in Frankfurt nicht mehr wohlfühlte.«
»Was machen Sie denn beruflich?«
»Ich arbeite im Marketing und in der Werbung und bin jetzt hier in der QBits GmbH tätig. Das ist ein IT-Unternehmen. In Frankfurt habe ich in einer großen Werbeagentur gearbeitet.«
»Was macht man denn so im Marketing? Ich kann mir darunter gar nichts vorstellen. Es hört sich aber interessant an.«
Schon wieder so eine Frage zu meinem Job. Wie mich das nervt! Immer muss ich alles erklären. Alle denken, dass Marketing sonst wie interessant ist. Dabei ist das überhaupt nichts Besonderes. Ein Job wie jeder andere auch. Ich spule die übliche Antwort herunter.
»Flyer und Internetseiten erstellen, Veranstaltungen bewerben, Konzepte entwickeln, Broschüren gestalten, Werbeaktivitäten planen. Alles, was mit der Produktdarstellung eines Unternehmens zu tun hat.«
»Das hört sich für mich spannend an«, sagt Frau Hirte. »Da müssen Sie ja auch sehr kommunikativ sein, nicht wahr?«
Ich nicke nur. So viel zum Thema kommunikativ. Der Job ist mir doch piepegal, um ihn geht es doch gar nicht.
»Haben Sie Probleme in der Arbeit? Werden Sie gemobbt?«
Sonst noch was, denke ich verwundert.
»Nein, überhaupt nicht«, sage ich deshalb. »Meine Arbeit hat gar nichts damit zu tun.«
»Worum geht es Ihnen dann?«
»Um mich, um mein Privatleben. Mein Leben ist außer Kontrolle geraten. Ich weiß selbst nicht mehr, wo hinten und vorne ist. Es ist so, als müsste ich eine Bestandsaufnahme machen, sonst geht es nicht weiter. Wie eine Inventur, verstehen Sie. Ich schaffe das nicht alleine, ich brauche dabei Hilfe.«
Habe ich das gerade gesagt? Noch nie habe ich jemanden um Hilfe gebeten und schon gar nicht eine völlig fremde Person. Bisher machte ich alles mit mir alleine aus.
»Haben Sie keine Freunde, denen Sie das erzählen können?«, fragt sie mich doch glatt.
»Ich habe viele Freunde, sehr viele Freunde. Doch es gibt keinen Menschen, der mich wirklich kennt. Noch nie habe ich mich jemandem anvertraut. Ich meine richtig anvertraut. Ich treffe mich mit Freunden, um Spaß zu haben, eine nette Zeit zu verbringen. Probleme wälzen wir in der gemeinsamen Zeit eher weniger.« Ich benutze meine Hände beim Sprechen, damit sie mich besser versteht.
»Ah.« Sie blickt mich kurz an und schreibt sofort etwas auf. Mit diesen Aussagen habe ich vielleicht ihr Interesse geweckt. Das Gespräch strengt mich an, ich schwitze.
»Dann ist in Ihrem Leben also alles nur oberflächlich und Sie vermissen die Tiefe?«, fragt sie weiter.
»Ja. Vieles ist oberflächlich.« Was soll das jetzt wieder, denke ich. Kommen wir hier bald mal auf den Punkt?
»Wissen Sie, ich weiß noch immer nicht richtig, was Ihr Problem ist. Sie machen auf mich nicht den Eindruck, als wenn Sie überhaupt eins hätten. Sie wirken ganz souverän und erfolgreich, ehrlich gesagt. Sie haben einen guten Job, Freunde, also ein soziales Umfeld.«
»Ich habe auch kein Problem, rein äußerlich betrachtet«, rede ich dazwischen. »Also es ist nicht so, dass ich mich nicht auf die Straße traue oder dass ich Angst habe, anderen Menschen zu begegnen von wegen Sozialphobie oder Ähnliches. Ich werde auch nicht gemobbt oder sonst was. Ich komme äußerlich gesehen sehr gut klar im Leben. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll«, seufze ich. Es ist wirklich anstrengend für mich. Soll ich mir jetzt irgendeine psychische Krankheit ausdenken?
»Für mich ist es auch schwierig«, sagt Frau Hirte distanziert. »Ich muss schauen, ob wir beide überhaupt miteinander arbeiten können. Doch dafür muss ich natürlich erst einmal wissen, was Ihr Problem ist. Und dann muss ich einen Bericht schreiben und bei der Krankenkasse einen Antrag einreichen. Die genehmigen einen Therapieplatz oder nicht. So läuft das Ganze ab. Das bedeutet natürlich, dass ich ungefähr wissen muss, woran Sie leiden. Vielleicht fangen wir damit an, dass Sie mir sagen, was Sie sich von einer Therapie überhaupt erhoffen.«
So läuft also der Hase. Ich muss zuerst in eine Psycho-Schublade passen, für sie und für die Krankenkasse. Dann wird mir erst geholfen. Soll sie doch irgendwas schreiben, geht es durch meinen Kopf. Die wollen was ganz Bestimmtes hören und ich soll was ganz Bestimmtes sagen. Was sind denn hier bitte schön für Oberflächlichkeiten in diesem Raum? Ich komme mir vor wie bei einem Bewerbungsgespräch. Ich sage ihr, was sie hören will, was in ihr Schema passt und dann kriege ich den Job, beziehungsweise den Therapieplatz.
»Es dauert in der Regel vier bis sechs Wochen, bis die Krankenkassen eine Psychotherapie genehmigen. Dann erst würde unsere Zusammenarbeit beginnen. Wir müssen beide also erst auf die Antwort warten.«
Na super, da wäre ich ja dann schon das vierte Mal tot.
»Haben Sie Schwierigkeiten mit Ihren Eltern?«, will Frau Hirte wissen.
»Nein, da ist alles okay.« Langsam wünsche ich mir, ich hätte irgendeine Phobie oder ein offensichtliches Trauma.
»Ich habe das Gefühl, dass ich nicht richtig ich bin oder nicht richtig ich war. Ich habe immer nur gemacht, was andere von mir wollten. So gesehen ist es mir nie schlecht gegangen. Ich war eine gute Schülerin, habe Abitur gemacht, bin brav studieren gegangen, habe in einem guten Job gearbeitet und bin jetzt wieder in einem guten Job gelandet. Doch ich selbst bin dabei die ganzen Jahre auf der Strecke geblieben.« Die Leiden der jungen E. denke ich im Stillen, in Anlehnung an mein Lieblingsbuch von Goethe.
Sie horcht auf. Ich will nicht, dass sie mich wegschickt. Ich habe es satt, mir wieder eine andere Psychologin suchen zu müssen und mich beim Ersttermin seelisch nackig zu machen. Was für ein Alptraum! Ich wünsche mir so sehr, dass sie mich versteht.
Mein Leben lang habe ich das Gefühl, dass mich einfach keiner versteht. Die Leute sehen immer nur die nette Außenfassade und denken, alles ist toll. Na ja, wir zeigen ja auch nur die Außenfassade. Wer weiß schon, wie es innen drin aussieht?
Ich habe keine Lust mehr. Ja, ich gebe auf. Es hat wohl doch keinen Zweck, Hilfe zu suchen. Dabei fühle ich mich ganz wohl bei ihr. Wirklich. Der Raum ist nicht gerade gemütlich, aber Frau Hirte macht es wieder wett. Sie scheint eine Lebefrau zu sein, das gefällt mir. Ich blicke sie begutachtend an. Sie mustert mich.
Was sie sich wohl überlegt? Ob ich hier bei ihr richtig bin? Oder ob ich nur ihre Zeit verschwende? Sie hat bestimmt ein tolles Leben. Einen tollen Mann, zwei tolle Kinder. Alles toll eben!
»Wie war Ihre Kindheit?«, fragt sie mit ihrem Stift in der Hand plötzlich weiter.
»Gut. Ich hatte eine ganz normale Kindheit, wie jeder andere auch. Es ist äußerlich nichts Weltbewegendes passiert. Es ist keiner gestorben oder so, meine Eltern haben sich nicht scheiden lassen, ich wurde nicht geschlagen. Es war alles ganz normal«, sage ich. »Sie war schön meine Kindheit«, schließe ich die Frage zusammenfassend ab und muss wegen meines Namens grinsen und wegen eines so hohlen Satzes.
Ja, ich bin schön. Schön unscheinbar. Elisa Schön. Mit einer schönen, zierlichen Stimme. Und ich hatte eine schöne Kindheit.
»Wie schön«, sagt sie.
Wir gucken uns beide an und lachen. Sie lacht, sie hört mir zu, sie ist konzentriert. Sie nimmt mich wahr. Endlich löst sich hier irgendwas im Raum. Ich glaube, es ist die angespannte Atmosphäre. Puh, wird auch Zeit!
»Waren Sie eigentlich ein aufmüpfiges Kind oder ein ruhiges?«
»Ich war ziemlich ruhig, eigentlich war ich immer artig. Artig und brav«, melde ich zu Wort.
Das war ich wirklich, ich war immer ordentlich. Na ja, ab und zu sind da vielleicht ein paar Vorkommnisse gewesen, die meine Eltern zur Verzweiflung brachten. Plötzlich habe ich eine Szene aus meiner Kindheit vor meinem Auge, die ich ihr unbedingt erzählen möchte.
»Ich habe mal etwas getan, worüber meine Eltern not amused waren.« Ich muss dabei lächeln. Es fällt mir tatsächlich gerade jetzt wieder ein. »Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich da war. Doch, ich glaube, ich war so um die vier oder fünf Jahre. Wir haben bereits in unserem neu gebauten Haus gewohnt. Eines Tages betonierte mein Vater hinter unserem Haus auf dem Hof eine steile Auffahrt. In mühevoller und zeitaufwändiger Arbeit legte er Schicht für Schicht Zement darüber und achtete akribisch darauf, dass auch alles passte und stimmte. Mit seiner Wasserwaage, die er immer dabei hatte, kontrollierte er ständig, ob alles genau und gerade war. Nach getaner Arbeit wollten meine Eltern zum Einkaufen fahren und sagten zu mir, dass ich nicht auf den frischen Boden laufen darf, weil der Zement erst hart werden müsse. Ich nickte und sie fuhren los. Als sie weg waren, kam mir plötzlich eine tolle Idee; nämlich in den frischen Beton Fußspuren zu hinterlassen.«
Frau Hirte hört gespannt zu und blickt mich mit ihren großen Augen an.
»Ich also rein ins Haus, suchte mir die höchsten Pumps meiner Mutter aus dem Regal heraus, es war ein rotes Paar mit ganz hohem Hacken, zog die an und stiefelte dann die frisch betonierte Auffahrt hoch- und runter.«
Frau Hirte brüllt los vor Lachen. Sie schüttelt sich auf ihrem Stuhl und kriegt sich gar nicht mehr ein. Ich muss auch lachen. Sie steckt mich an. Die Geschichte hatte ich fast wieder vergessen.
»Ich stelle mir gerade vor, wie Sie als kleine, junge Dame in den Schuhen ihrer Mutter hoch und runter laufen. Das ist ein sehr lebendiges und schönes Bild!« Sie blickt mich prüfend an. »Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Wissen Sie das überhaupt noch?«
»Es ist ja nun schon eine Ewigkeit her. Doch ich fand das total cool, es hat mir echt Spaß gemacht. Ich fand das irre aufregend und ich wusste auch, dass es verboten war.«
»Aber Sie haben es trotzdem gemacht.«
»Meine Eltern waren danach ziemlich wütend.«
»Wurden Sie bestraft?«
»Ich weiß es nicht mehr. Ich wurde auf jeden Fall ordentlich ausgeschimpft. Und mein Vater musste die Auffahrt noch mal neu machen. Die Schuhe meiner Mutter waren danach übrigens völlig unbrauchbar.«
»Wie reagierte Ihre Mutter?«
»Das weiß ich nicht mehr«, antworte ich schulterzuckend.
Frau Hirtes Augen leuchten. Sie fängt schon wieder an zu lachen und schüttelt dabei mit dem Kopf.
»Wo ist das lebendige Mädchen geblieben?«, fragt sie mich nach einer kurzen Weile.
Tränen schießen mir in die Augen. Ich blicke aus dem Fenster. Mist, ich will nicht heulen. Reiß dich zusammen, Lieschen, herrsche ich mich innerlich an. Fang hier bloß nicht an zu flennen!
»Was mag wohl passiert sein, dass aus dem kleinen verrückten Mädchen so ein angepasstes Kind wurde. Ja, eigentlich eine erstarrte Puppe wurde?«
Sie stellt die Frage in den Raum. Denn ich will darauf nicht antworten. Ich weiß darauf gar keine Antwort
Stille. Keiner von uns sagt etwas.
»Auf jeden Fall haben Sie mich mit dieser Geschichte herumgekriegt«, spricht sie plötzlich heiter.
»Wie meinen Sie das?«
»Ihre Geschichte hat mich eben so fasziniert, dass ich mit Ihnen zusammenarbeiten möchte. Ich möchte gern hinter Ihre Fassade schauen, wenn Sie mich lassen. Natürlich nur, wenn es auch für Sie stimmig ist. Denn wir müssen beide miteinander können. Sonst macht es keinen Sinn und wir verschwenden nur unsere Zeit. Sie brauchen es auch nicht jetzt entscheiden«, sagt sie entschlossen. »Außerdem muss ich ihnen noch sagen, dass ich in einer Zusatzausbildung stecke. Ich bin zwar bereits diplomierte Psychologin, doch ich mache gerade noch eine weitere Fachausbildung und habe daher auch eine Supervisorin. Das ist sozusagen eine Mentorin, zu der ich gehe und mit der ich auch über die Belange meiner Patienten spreche und darüber, wie ich weiter vorgehen soll mit der Therapie. Das ist insofern wichtig Ihnen mitzuteilen, weil ich mit einer weiteren Person über Sie sprechen werde. Es bleibt jedoch völlig anonym und diskret. Hätten Sie damit ein Problem?«
»Nein und ich weiß meine Antwort auch jetzt schon. Ich möchte gerne bei Ihnen bleiben.« Ja, das will ich. Definitiv. Zum Glück war mir diese Geschichte aus meiner Kindheit eingefallen, sonst hätte sie mich womöglich wieder fortgeschickt! Test also bestanden.
»Okay. Ich werde für Sie einen Therapieplatz beantragen. Wenn alles Bürokratische geklärt ist, rufe ich Sie in einigen Wochen an, damit wir unseren nächsten Termin vereinbaren. In welcher Form die Therapie dann ablaufen wird, werde ich mir noch überlegen«, fährt sie fort.
Wie, welche Form? Sie bemerkt meinen fragenden Blick.
»Na, ob wir die Gespräche im Sitzen führen oder ob Sie auf der Couch liegen werden. Ich glaube, es ist sogar besser, wenn Sie auf der Couch liegen. Sie wirken auf dem Stuhl so angespannt, finden Sie nicht?«
Wer säße nicht auf diesem knochigen und knarzenden Korbstuhl hier angespannt? Das liegt doch nicht an mir, sondern an der unbequemen Sitzmöglichkeit! Ich auf dem merkwürdigen Sofa dort? Das wäre ja wie in einem schlechten Psycho-Film.
»Tja, die Zeit ist zu Ende.« Sie springt motiviert auf. »Wir hören uns in den nächsten Wochen.«
Wir stehen uns gegenüber und blicken uns in die Augen. Irgendwie mag ich sie. Sie hat echt was! Ich schätze sie auf Ende dreißig. Ich habe das Gefühl, dass ich bei ihr in guten Händen sein werde. Als Dank drücke ich ihre Hand beim Abschied noch einmal kräftig. Zwar kurz nur, aber kräftig. Sie soll nicht denken, dass sie ein Stück Kotelett hält. Ihre Hand fühlt sich sehr weich an. Komisch, sie wirkt gar nicht so weich wie ihr Händedruck. Sie bringt mich bis zur Zimmertür, sagt noch einmal fröhlich »Tschüss« und schließt schnell hinter sich zu.
Ich stehe wieder im Treppenhaus und merke wie erleichtert ich bin.