Читать книгу Ein Engel auf der Couch - Kathleen Christochowitz - Страница 5

Kopf und Bauch

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Schon wieder suche ich einen blöden Parkplatz. Ich seufze laut auf, wie in der Firma im Büro vor meinem Computer, wenn die Kollegen mich nerven. Es tut gut, aber ändert gar nichts an meiner heutigen Stimmung. Das passt doch wieder alles zusammen. Ich finde keinen Parkplatz für meine Karre, das Wetter ist total übel. Strömender Regen in dunkel grau gefärbter Umwelt. Wie soll es im Winter auch anders sein? Kein Wunder, dass viele Leute sich in Nordskandinavien umbringen oder dem Alkohol hingeben. Ständige Dunkelheit hält doch kein Mensch aus. Ich auch nicht. Heute ist so ein Tag, an dem ich am liebsten im Bett bleiben, Streuselschnecken essen und Milch trinken würde. Ja, das würde ich jetzt zu gerne machen, gemütlich im Bett liegen.

Noch immer kurve ich in sämtlichen Nebengassen herum, um einen Parkplatz zu ergattern. Und wie wird das enden? Finde ich am anderen Ende der Stadt schließlich eine winzige Lücke und fahre mit der Bahn zu ihr? Ich glaube kaum und dann noch bei diesem Regen. Gleich stelle ich mein Auto hier mitten auf der Kreuzung ab. Oh, hier ist einer! Nur vier Straßen von ihrer Praxis entfernt. Wenigstens habe ich einen Schirm dabei. Vorsichtig fahre ich die Bordsteinkante hoch, steige aus dem Auto und haue die Tür mit ordentlichem Karacho zu. So viel Zeit bis zum Termin bleibt mir nicht mehr.

Ich hetze über die Straße mit meinem mickrigen, kaputten, kleinen Schirm. Ob ich den nun hochhalte oder nicht, der Regen kommt von allen Seiten und der Schirm ist ja wohl der letzte Husten. Verdammt, die Pfütze hätte ich mal vorher sehen sollen, bevor ich wie ein Depp reingepatscht bin! Schön gemacht, Lieschen! Ich habe keine Lust. Und gerade heute muss ich nach der Stunde wieder ins Büro zurück. Dort geht der Wahnsinn dann weiter.

Die Straßen sind menschenleer. Ich bin die einzige, die unterwegs zu sein scheint. Ist ja typisch! Dabei mochte ich als Kind Regenwetter sehr gerne. Ich holte meine Gummistiefel raus, meinen durchsichtigen Kinderschirm und beobachtete dann die Regentropfen, wie sie in die Pfützen fielen oder von den Blättern abperlten. Das sah klasse aus. Aber da war es auch nicht so kalt wie heute. Doch es heißt ja nicht umsonst: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur unpassende Kleidung. Und heutzutage sind wir ja auch alle zu verpimpert, anstatt uns wettergerecht anzuziehen. Ich bin keine Ausnahme, gehe ja auch nur von der Haustür ins Auto, vom Auto ins Büro und zurück. Meine Jeans war vom Regen durchnässt. Schönes Gefühl auf der Haut, schön ekelig.

Total nass stehe ich bei Frau Hirte an der Tür. Ich klappe den Rest vom kaputten Regenschirm zusammen und mache wieder Ding-Dong an der Tür. Den Schirm könnte ich gleich so wie er war in die nächste Tonne schmeißen, doch wahrscheinlich brauche ich die Krücke noch für meine Rücktour zum Auto. Na ja, er tut ja auch nur seine Dienste. Ich werde ihn also nicht wegschmeißen. Eigentlich ist es auch schlimm, ihn wegzuwerfen, nur weil er nicht mehr so gut aussieht und ein bisschen kaputt ist. Eine Wegwerfgesellschaft wie die unsere, achtet überhaupt nichts mehr. Schlimm! Ich beschließe den Schirm zu behalten und zwar in Ehren. Mein Gott, jetzt habe ich schon Mitgefühle für Regenschirme. Wo soll das noch hinführen?

Frau Hirte wartet wieder an der Tür. Sie sieht mich von oben bis unten an. Ich sehe aus wie ein begossener Pudel. Selbst meine Haare kräuseln sich von der Feuchtigkeit. Das hasse ich mindestens genauso, wie Regen, der mir direkt ins Gesicht prasselte. Meine Hände sind pitschnass. Ich weiß gar nicht, wo ich sie an mir abtrocknen soll. Es ist alles feucht. Ich knöpfe meine Winterjacke auf, wische meine rechte Hand schließlich an meinem Pullover ab und gebe sie ihr.

»Ach, Frau Schön, Sie sind ja richtig nass geworden. Kommen Sie rein, das ist ja wirklich ein Wetter heute!«

Ich nicke, seufze nur und denke, schön ist was anderes. An der Garderobe lege ich mein nasses Häufchen Jacke ab. Sie trieft und tropft. Den Schirm packe ich leicht zusammengefaltet auf den Teppichboden, der farblich zu den heutigen grauen Wetterverhältnissen passt. Frau Hirte brachte mir ein Handtuch.

»Danke«, sage ich überrascht. Am liebsten würde ich mir gleich trockene Klamotten anziehen.

»Kommen Sie dann bitte ins Zimmer, sobald Sie fertig sind.«

Ach ja, ich war ja nicht nur hergekommen, um mich abzutrocknen! Und ich darf nicht vergessen, vorher mein Handy auszuschalten. Nicht, dass noch einer aus dem Büro anruft und fragt, wo ich bleibe. Mit meiner nassen Tasche gehe ich in ihr Zimmer. Sie nimmt bereits die Sitzstellung in ihrem Korbsessel ein. Mir fällt auf, dass sie die gleiche dunkelrote Tunika wie vorgestern trägt. Sie steht ihr sehr gut, sieht sehr modisch und attraktiv aus. Aber ich würde nie das gleiche vom Vortag anziehen und schon gar nicht das von vor zwei Tagen. Was ich einmal getragen habe, werfe ich, bis auf Hosen, sofort in die Waschmaschine, egal ob es noch sauber ist oder nicht. Das mache ich grundsätzlich so. Warum eigentlich? Frau Hirte bringt mit ihrem Oberteil auf jeden Fall einen Farbtupfer in diesen Raum. Mut zur Farbe finde ich gut! Ich renne eher rum wie eine graue Maus, schön unscheinbar.

Auf ihrem Schoß liegt der Schreibblock und in der rechten Hand hält sie den Stift bereit. Ja, sie ist bereit. Und ich, ich bin nass. Auf dem runden Tischchen neben ihr steht eine Box mit Taschentüchern. Für die Tränenvergießer unter uns. Ich gehöre hoffentlich nicht dazu.

Meine Tasche stelle ich wie beim letzten Mal am Kopfende der Couch ab und lege mich hin. Meine Haare streiche ich ein wenig zur Seite. Ich atme tief durch, bis in den Bauch hinunter. Er wölbt sich gleich nach oben. Hallo, Kumpel, sage ich innerlich zu ihm. Da sind wir beide wieder: Mein Kopf mit seinen tausend Gedanken und du, der Ruhige. Und was ist dazwischen? Mein großes pumpendes Herz, das ich seit dem Visionsseminar wieder stark spüre und fühle.

Mein Bauch knurrt wie verrückt, er rumort regelrecht. Was ist denn? Ich lege sofort meine Hände darauf, um ihn zum Schweigen zu bringen. Seine Geräusche sind mir peinlich.

»Na, was sagt er Ihnen?«, fragt Frau Hirte.

»Ich glaube, er will von mir beachtet werden«, sagte ich ohne nachzudenken. Ich nehme ihn sehr selten wahr und schenke ihm kaum Beachtung, außer wenn ich wie so oft denke, dass er zu dick ist und mir dann im gleichen Moment eine Diät vornehme. Aber das ist nicht sehr liebevoll. Elisa Schön hat einen ganz schönen Bauch. Ich muss über meine zweideutigen Gedanken schmunzeln.

Habe ich, A: einen schönen Bauch, weil er schön ist, wie er ist, oder habe ich B: einen Bauch, der schön dick ist? Bitte ankreuzen: A oder B?

Was nun schon wieder alles in meinem schönen Köpfchen vorgeht. Jetzt konzentriere dich doch mal, Lieschen! Frau Hirte wartet und will was hören. Hm, was soll ich denn erzählen? Schon wieder die gleiche Stresssituation wie in der letzten Stunde.

Ich kam mir vor wie Bill Murray im Film Und täglich grüßt das Murmeltier. Aber vielleicht stellt sie mir gleich wieder ein paar Fragen, dann flutscht es ein bisschen besser. Zum Thema Bauch könnten wir doch heute sprechen!

Ein Hungergefühl macht sich breit. Im Büro dachte ich nicht daran, noch etwas zu essen und jetzt knurrt er, der Kleine. Nachher gibt es etwas Leckeres, sage ich zu ihm im Stillen. Diese Stunde müssen wir leider noch durchhalten. Doch danach kannst du haben, was du möchtest. Er beruhigte sich wieder. Kein Knurren mehr.

Redete ich wirklich die ganze Zeit mit meinem Bauch? Wer ist denn da drin? Ach, du meine Güte! Mir fällt es wie Schuppen aus den Haaren: Die Kleine Lieschen sitzt noch immer da drin. Die Kleine Lieschen von früher, die seit Jahren versteckt in einem Holzschuppen lebt.

Was passiert denn mit mir? Ich glaube, ich hatte sie, als ich selbst noch klein war, da hinein gesteckt und gesagt, sie solle dort bleiben und nicht mehr heraus kommen, weil mich sonst keiner mehr mag. Ich hatte sie verbannt. Doch warum? Hatte ich sie weggeschickt, weil ich dachte, dass ich sonst nicht mehr von meinen Eltern geliebt werde? Sie war auf jeden Fall ganz schön rebellisch. Das hat meinen Eltern möglicherweise Angst gemacht. Sie hatten Angst, sie nicht bändigen zu können. Sie wollten mich mit ihr wegschicken, wenn ich sie nicht unter Kontrolle bekäme. Ins Heim schicken. Sie sagten oft zu mir als Kind, dass sie mich ins Heim bringen, wenn ich nicht artig bin. Davor hatte ich solche Angst, dass ich sie selbst verbannt habe. Zum Schutz. Ich habe sie damit schützen wollen und mich auch.

Werde ich langsam irre? Dennoch bin ich sehr aufgeregt. Die Kleine Lieschen ist wieder da, sie hat sich herausgetraut. Allerdings schaut sie noch misstrauisch. Wahnsinn! Sie ist wieder da und ich könnte heulen, weil ich sie so vermisst habe. Ob sie mir böse ist, weil ich sie damals wegschickte? Sie versucht mit mir Verbindung aufzunehmen. Mit meinem starken Kopf, der voll ist von Gedanken und Bewertungen und Urteilen. Die Kleine ist echt mutig.

»Was denken Sie gerade über Ihren Bauch? Was geht in Ihnen vor?«, fragte Frau Hirte.

Ich fühle mich ganz durcheinander. »Da wohnt das Mädchen aus dem Schuppen. Das ist die Kleine Lieschen von früher.«

»Was für ein Schuppen?«

»Sie hat seit Jahren in diesem Schuppen gewohnt und ist nicht rausgekommen. Es ist ein alter, kleiner Holzschuppen. Vorhin, als ich zu meinem Bauch sagte, dass wir nach dieser Stunde etwas essen werden, wurde er völlig ruhig.«

»So, als wäre er damit einverstanden gewesen?«

»Ja, genau«, sage ich. »Und dann musste ich plötzlich an das Mädchen aus dem Schuppen denken und hatte das Gefühl, dass sie wieder mit mir in Kontakt treten wollte.«

»Was heißt wieder?«, fragt Frau Hirte nach.

»Wieder, weil sie schon mal da war. Doch sie hatte sich in diesem Schuppen verbarrikadiert. Sie war, glaube ich, sehr traurig.«

»Worüber denn?«

»Weil ich nicht mehr mit ihr gespielt habe. Ich schickte sie stattdessen fort und das machte sie sehr traurig. Und mich auch.«

Tränen schießen mir in die Augen.

»Es ist in den Schuppen gegangen«, sage ich zu ihr. »Sie haben mich doch in der allerersten Stunde nach ihr gefragt. Sie fragten mich, wo es hin ist, das lebendige Mädchen.«

»Und jetzt will es raus? Raus aus dem Bauch?«

»Sieht so aus. Es will raus. In die Freiheit. Aber es ist noch ziemlich skeptisch.« Sagte ich das etwa gerade? Was läuft denn hier für ein Film ab?

»Na, das kann man doch verstehen oder nicht? Wenn jemand über Jahre versteckt war und einsam in einem Holzschuppen hauste, dann geht er ganz vorsichtig vor die Tür. Das Mädchen bleibt lieber in Reichweite des Hauses als das es wild hin- und herläuft.«

Wenn es wieder hervorkommt, könnte ich doch mal mit ihr reden. Ja, das werde ich machen! Was mein Kopf wohl dazu sagen wird? Wahrscheinlich das gleiche wie jetzt, nämlich, dass ich nicht ganz dicht bin. Aber das ist egal, soll er das doch denken! Mein Herz kann bestimmt lernen beide zu akzeptieren, beide gleichermaßen zu lieben und anzuhören. Das wäre es doch, es sitzt ja nicht umsonst in der Mitte und stellt die Verbindung her. Ich seufze zufrieden auf.

»Auf wen haben Sie denn sonst immer gehört? Wer hat bei Ihnen mehr zu sagen?«, fragt Frau Hirte.

Tja, Kopf oder Bauch? Das ist hier die Frage.

»Der Kopf natürlich. Der entscheidet immer, der lässt auch erst alles raus, nachdem es durch den inneren Zensor gegangen ist. Alles wird kontrolliert, freigegeben und dann geht es nach außen. Ich habe eine innere PR-Abteilung, die das checkt«, sage ich. »Nichts geht unkontrolliert heraus. Und wenn, dann nur sehr selten.«

»Wann passiert so etwas zum Beispiel?«

»Vielleicht, wenn ich zu viel Sekt oder Wein getrunken habe. Das wäre so eine Situation, wo ich nicht mehr alle Gedanken unter Kontrolle habe und sozusagen auch mal unbewacht erzähle.«

»Ah, ja. Das stelle ich mir sehr anstrengend vor, ständig aufzupassen, was man sagt«, meint Frau Hirte.

»Nein, das ist alles eine Frage der Übung. Ich habe früh damit angefangen und das ist inzwischen für mich völlig normal. Manchmal wünsche ich mir jedoch, einfach zu erzählen ohne vorher zu überlegen. Mal so richtig Dampf abzulassen wie die anderen auch. Das würde mir nämlich gar nicht in den Sinn kommen. Es gibt so viele, die ohne Punkt und Komma reden.«

»Ihre Worte kommen also nur drehbuchreif heraus?«

»Ja. Ich sage nicht zu viel und nicht zu wenig. Zugegebenermaßen rede ich ab und zu gerne auch mal richtig vulgär. Das mache ich jedoch dann lieber zu Hause oder wenn ich mit meinem Bruder zusammen bin.«

Wenn sie wüsste, was alles für Gedanken in meinem Kopf hin- und her spazieren! Wenn ich die alle rausließe! Mein Bauch fängt an zu glucksen. Was ist denn nun? Das hört sich nicht nach Hunger an. Er will wieder mitreden. Ja, du bist auch noch da. Ich streiche mit meinen Händen zart über ihn.

Ich habe meinen Bauch wirklich gern und ich glaube, es ist an der Zeit, ihm deutliches Mitspracherecht zu geben. Und zwar unvoreingenommen, ohne seine Empfindungen und Gefühle zu verurteilen. Ich sollte eine Ode an meinen Bauch schreiben und zwar darüber, dass er schön ist und dass er ein Recht auf alle seine Gefühle hat und auch ein Recht, diese auszudrücken. Wie oft passiert es, dass Ärger oder Impulse hochkommen, die ich sofort herunterschlucke. Das gefällt ihm natürlich nicht und die heruntergeschluckten Gefühle wandeln sich in Groll um und setzen sich irgendwo in den Ecken des Bauches wie Dreck fest. Und das über Jahre. Das kann gar nicht gut gehen! Da sitzt man auf seinem eigenen Pulverfass, bis es irgendwann explodiert.

»Mir geht nicht aus dem Kopf«, Frau Hirte muss lachen, »wobei wir beim Thema Kopf wären. Trotzdem, mir geht nicht aus dem Kopf, was Sie über Ihre innere PR-Abteilung gesagt haben. Wann hat die denn ihren Job bei Ihnen angetreten und warum?«

Ich überlege. Kann ich das eigentlich noch so genau sagen?

»Ich weiß es nicht mehr. Als ich Kind war, haben meine Eltern oft gesagt und auch die Kindererzieherinnen und Lehrer, dass ich erst denken soll und dann reden. So habe ich es mir wahrscheinlich selbst beigebracht. Als ich klein war, erzählte ich sehr viel und beschäftigte mich mit mir selbst, spielte mit meinen unsichtbaren Freunden. Wenn ich etwas sagte, verstanden die Erwachsenen meist gar nicht, was ich meinte. Sie nahmen mich überhaupt nicht ernst, sondern sagten nur, dass ich eine blühende Fantasie hätte. Ich habe immer ganz viel mit anderen geredet oder Dinge gesehen.«

»Wie war das für Sie?« Die Frage stellt mir Frau Hirte öfter, anscheinend eine typische Psycho-Frage.

»Für mich war es völlig normal, was ich gesehen oder gesagt habe. Ich dachte immer nur, warum versteht mich denn keiner? Ich bin doch nicht blöd. Und doch habe ich mich mit der Zeit so gefühlt. Wenn ich allein war, habe ich mich als Person nie wirklich allein gefühlt, da waren immer welche um mich herum. Und mit denen redete ich. Eigentlich lebte ich in meiner eigenen kleinen Welt und das tue ich heute teilweise noch.«

»Haben Sie denn Stimmen gehört? Vielleicht hören Sie ja heute noch welche«, fragt sie ganz gespannt.

Oh Gott, jetzt geht's los. Jetzt will sie bestimmt herausbekommen, ob ich schizophren bin. Das würde ja sehr gut in unsere Zeit passen und ganz besonders in ein psychologisches Schema. Und ich komme gleich in die Klapse, wenn ich es zugebe.

»Ab und zu vernehme ich Stimmen, so als würde meine innere Stimme etwas zu mir sagen, doch ich bin nicht schizophren oder so«, werfe ich ein. Außerdem höre ich Stimmen, wenn meine Nachbarn, die Engel, zu mir sprechen. Doch das sage ich lieber nicht. Noch sind wir in der Kennlernphase. Ich sollte eigentlich alles sagen, was in mir vorgeht, traue mich aber nicht. Irgendwie blöd.

»Dürfen Sie mich eigentlich ohne mein Einverständnis in die Nervenheilanstalt einweisen?«, frage ich mal lieber gleich nach.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

Das war ja klar, dass sie das gleich analysieren will und mir eine Psycho-Gegenfrage stellt.

»Nur so. Weil Sie mich vorhin gefragt haben, ob ich Stimmen höre. Da habe ich mich gefühlt, als wollten Sie mir einen Stempel aufdrücken.«

»Ja, das glaube ich. So sollte es nicht rüberkommen. Doch zu Ihrer Frage, rein rechtlich gesehen kann ich sie nur mit Zustimmung eines Neurologen einweisen lassen, wenn Sie für sich und andere eine Gefahr darstellen«, sage sie und schreibt hinter mir etwas auf ihren Zettel.

Gut zu wissen. Ich will aus meiner eigenen kleinen Welt herauskommen. Auch bei Frau Hirte. Aber eine gewisse Vorsicht scheint dennoch geboten. Die Menschen stecken einen immer zu schnell in ihre Urteilsschubladen. Wenn man gedanklich in eine solche verfrachtet wird, ist es sicher nicht so schlimm, wie in der Realität von Männern erst in eine weiße Zwangsjacke und dann in die Klapse gesteckt zu werden, um Tabletten unter Aufsicht einnehmen zu müssen. Nein, danke. Ich schlucke nichts mehr einfach so herunter.

Mir fällt ein, dass in meinen Schulzeugnissen oft stand, dass ich mich sehr gut anpassen konnte und dass ich sehr artig war. Ich habe wirklich selten etwas Unerlaubtes getan und war stets ruhig. Eine richtige Traumliese. Mich konnte man als Kind irgendwo abstellen, vergessen und nach drei Stunden wieder abholen. Und dann war ich immer noch da, weil ich mich vor lauter Angst und Schüchternheit keinen Zentimeter bewegt habe. Andere Kinder haben in diesen drei Stunden schon die halbe Welt erkundet und erobert. Ich nicht. Ich habe immer brav gewartet.

Gewartet auf bessere Zeiten, auf die Sommerferien, aufs Großwerden, und dann auf die große Liebe, auf einen tollen Job, auf ein schönes Leben. Mein Leben lang warte ich auf etwas. Und das mit Beharrlichkeit. Warum nehme ich mir nicht einfach etwas? Warum warte ich wie blöd? Vor allen Dingen, wie lange denn noch? Bis ich alt und schrumpelig bin? Wieso greife ich nicht einfach zu? Das Büffet des Lebens ist doch für alle da und rund um die Uhr geöffnet. Ja, wie bescheuert bin ich überhaupt? Dämlich stehe ich da und glotze, wie die anderen sich an den Köstlichkeiten des Lebens bedienen und lasse ihnen auch noch den Vortritt, bescheiden wie ich bin. Jetzt ist Schluss damit!

Ich muss tief durchatmen, in mir fängt es wie in einem Schnellkochtopf an zu brodeln. Mir wird außerdem heiß. Ich könnte losschreien, möchte alle wegscheuchen. Mit meiner lauten Stimme vertreiben.

»Laute Stimme, dass ich nicht lache«, sagt mein Kopf. »Seit wann hast du eine laute Stimme? Lieschen Schön ist doch immer nur schön leise.«

»Wenn du wüsstest,« sagt da plötzlich mein Bauch und knurrt wie verrückt. »Wenn du wüsstest, was alles für Töne in mir drin stecken, würdest du dir die Ohren zuhalten.«

Was passiert denn jetzt? Bauch gegen Kopf. Kopf gegen Bauch. »Ja, halt die Klappe«, sage ich in Gedanken zu meinem Kopf. »Jetzt hast du mal Sendepause und dein ständiges Dreinreden auch. Und wenn du nicht endlich still bist, dann schick ich dich für unbestimmte Zeit in den Urlaub.« Das wirkt! Mein Bauch freut sich.

»Ich frage mich, wo Sie gerade sind«, sagt Frau Hirte nachdenklich.

Das frage ich mich ehrlich gesagt auch. Wo bin ich bitte schön?

»Mein Bauch und mein Kopf haben sich gerade unterhalten. Das ist ziemlich anstrengend.«

»Worüber denn?«

»Generell über ihre Existenz, über ihre Stellung sozusagen.«

»Kämpfen sie gegeneinander? Lehnt sich Ihr Bauch jetzt auf gegen Ihren Kopf?«

»Ja, er lässt sich nicht mehr alles gefallen. Er will nicht mehr brav warten, bis er etwas bekommt. Er verhungert sonst.«

»Aha«, sagt sie. »Er hungert nach Aufmerksamkeit, ja? Nach Leben?«

»Genau.«

»Und wie sehen Sie das? Wo stehen Sie?«

Gute Frage, wenn ich das wüsste. Ich weiß nur, wo ich stehen will. Nämlich in der Mitte. In meiner Mitte. Und die Mitte ist das Herz. Und das Herz steht für die Liebe. Für die Liebe zu mir und zu allem, was in mir ist und außerhalb von mir. Klingt doch logisch. Hört sich glasklar an.

»Also«, beginne ich, »in der Mitte stehe ich oder will ich stehen. In der Mitte von meinem Herzen. Und das ist das Zentrum. Kopf und Bauch stehen auf einer Stufe und haben je nach Situation ihre Stellung abzuwägen. Doch nicht aus einem Kampf heraus, sondern eher im gegenseitigen Einverständnis.«

»Sie wollen also Diplomatie walten lassen?«, Frau Hirte klingt amüsiert.

»Ich würde eher sagen Demokratie. Denn die Liebe im Herzen bewertet und verurteilt nicht.«

»Woher haben Sie das? Ist das von Ihnen oder haben Sie das gelesen?«

Was ist denn das für eine Frage?

»Das ist mir gerade in den Sinn gekommen. Ich finde, das ist doch ziemlich logisch, oder?«

Glaubt sie, ich habe vorher ein Buch über die Liebe gelesen? Sicher, ich habe viele Psycho-Bücher gelesen, wirklich viele. Doch lesen und etwas wirklich mit Bauch und Herzen zu kapieren sind zwei Paar Schuhe. Von wegen man muss sich selbst lieben lernen, sich selbst und anderen verzeihen, ein Zehn-Punkte-Programm zum großen Glück absolvieren. Was für ein Geschwafel. Das sind doch nur Worte, reine Theorie. Gelesen habe ich mehr als genug, kapiert habe ich gar nichts. Und jetzt liege ich hier und komme langsam dahinter, was die ganzen Autoren mit ihrer Wortsülze eigentlich meinen. Aber nur, weil ich's selber durchlebe. Zeit wird's auch, Lieschen. Nicht Lesen ist Lernen, sondern Leben ist Lernen. Meine Güte, tolle Weisheit! Ich bin beeindruckt von mir.

»Ich lebte früher nur durch Bücher«, sage ich zu Frau Hirte. »Mein Leben spielte sich in meiner Fantasie ab. Ich finde, jetzt kann sich mein Leben ruhig mal in der Realität verwirklichen. So als wäre mein Leben ein Buch und ich schreibe die Seiten, jeden Tag eine neue. Ich will nicht länger die Welt der anderen konsumieren. Ich habe schließlich meine eigene Fantasie.«

»Und die wollen Sie ausleben?«

»Ja, das will ich.« Ich will endlich am Leben teilnehmen. Zuschauer war ich lange genug.

»Ich will die Welt so malen, wie es mir gefällt, wie Pippi Langstrumpf«, sage ich.

»Ja, da haben Sie recht.«

»Und Pippi Langstrumpf wohnte in der Villa Kunterbunt. Ich will auch so eine haben.«

Frau Hirte lacht: »Wollen Sie etwa auch ein Pferd?«

»Nein, Pferde sind nicht so meins. Ich finde Elefanten toll. Sie wirken gemütlich, ruhig und stark.«

»Oh, ein Elefant braucht aber mehr Platz im Garten als ein Pferd.«

»Ich stelle mir gerade vor, wie Eli, so würde er dann heißen, jeden Morgen seinen langen Rüssel durch das offene Küchenfenster steckt, um mir die Hand zu schütteln. Und ich gebe ihm dann einen frischen und abgewaschenen Apfel.«

»Damit er keinen Durchfall kriegt?« Sie lacht los und ich stimme mit ein. »Eine schöne Vorstellung, wie Sie den Morgen verbringen«, sagt Frau Hirte.

»Er könnte mich nach dem Frühstück auch zur Arbeit bringen. Nur mit dem Parkplatz wäre es etwas schwierig. Solche großen Flächen haben wir gar nicht in der Firma.«

»Vielleicht kriegen Sie ja dann einen Sonderparkplatz für Eli. Während Sie arbeiten, könnte er sich ausruhen.«

Wir lachen beide. Es ist schön, dass sie mir zuhört und sich auf meine Geschichte einlässt. Ich bin 28 Jahre alt und Frau Hirte erlaubt mir wieder zu träumen. Sie erlaubt mir sogar, meine Fantasie mit ihr zu teilen. Sie erlaubt mir, wieder ein Kind zu sein. Ein großes Kind.

Es fängt wieder an zu regnen. Man hört das laute Plätschern auf dem Fensterbrett und an den Fensterscheiben. Im Hintergrund grollt Donner, so laut wie vorhin mein Bauch. Ich liebe Gewitter, die feurigen Blitze und das Getöse des Himmels. Je lauter, desto besser. Das Gewitter zeigt uns, wie klein wir Menschen sind und das es noch etwas Größeres gibt als uns. Es ist, als ob der Himmel ärgerlich ist und das lautstark zeigt und zwar auf direkte Art und Weise. Das finde ich gut. Wenn ich Ärger fühle, schlucke ich ihn runter. Und deshalb mag ich Unwetter. Die Natur und der Himmel schlucken nichts herunter. Im Gegenteil: Sie sind laut und zornig, sie überspülen uns mit Regen, sie feuern Blitze ab. Das würde ich auch gerne können. Doch ich traue mich nicht. Lieschen Schön ist schön gehemmt. Na ja, das ist jetzt ein anderes Thema. Und so viele Themen will ich heute nicht mehr aufnehmen oder hervorbringen. Es wird langsam zu viel für mich.

Draußen wird es wieder ruhiger. Mehr Licht gelangt ins Zimmer. Ich werde auch stiller. Es ist schön. Ich habe keine Lust mehr zu reden. Mein Bauch ist ruhig, mein Kopf ist ruhig und leer und mein Herz schlägt gemütlich und erfreut sich. Frieden. Alles in mir ist friedlich. Ist das der innere Frieden, von dem so oft erzählt wird? Ich denke an nichts. Fühlt sich gut an. Verdammt gut. Frau Hirte ist auch ruhig. Die Stille breitet sich weiter aus. Selbst die Uhr an der Wand über der Tür ist leiser geworden. Ob die Welt gerade still steht? Genau in diesem langen Moment? Nichts ist. Keine Worte, kein Geraschel, nichts. Und dieses Nichts ist wunderschön. Für immer könnte ich jetzt hier liegen. Frau Hirte, meine Hüterin, sitzt hinter mir. So als würde ich bewacht werden, als würde immer jemand da sein. Wie ein Schutzengel Ich seufze auf.

Frau Hirte unterbricht meine Gedanken: »Ja, die Zeit ist leider zu Ende. Wir sehen uns bald wieder.«

Wenigstens hat sie »leider« gesagt, denn es ist wirklich schade, dass das Nichts zu Ende ist. Langsam richte ich mich von der Couch auf. Sie sitzt lächelnd in ihrem Stuhl. Beim Hochkommen greife ich mir meine Tasche und sie erhebt sich zeitgleich von ihrem Sitz.

»Dann bis bald«, sage ich.

»Bis zum nächsten Mal«, erwidert sie und gibt mir ihre Hand.

Ich lächle sie an und werfe noch einen Blick aus dem Fenster, bevor ich mich umdrehe und auf die Tür zugehe. Es scheint noch etwas zu regnen. Auf dem Flur ziehe ich meine Jacke an, die noch immer feucht ist und nehme meinen Regenschirm. Langsam ziehe ich die Haustür hinter mir zu und gehe in der gleichen Geschwindigkeit nach unten. Irgendwie bin ich ganz weit weg. Mir fällt ein, dass ich gleich ins Büro zurück muss. Habe ich fast vergessen. Ich muss mich erstmal ordnen.

Vor der Tür spanne ich meinen kaputten Schirm auf und muss lächeln. Ich fühle mich sehr gut, das Wetter ist noch immer mistig. Aber es macht mir nichts aus, in mir strahlt die Sonne, sie kitzelt meinen Bauch mit ihrer Wärme. Während ich gemächlich zu meinem Auto gehe, summe ich Sinatras I'm singing in the rain. Ab und zu springe ich leichtfüßig wie eine Ballerina über die großen Pfützen. Das macht Spaß. Zu gerne würde ich mitten in eine dieser Wasserlachen reinspringen, besonders in die silbrig glänzenden.

Platsch, ich hab es einfach gemacht! Wie ein kleines Kind. Mitten rein. Und keiner hat's gesehen. Das ist gut. An meinen Winterschuhen perlt das Wasser ab, meine unteren Hosenbeine sind jedoch ziemlich nass geworden. Macht nichts, ich werde sowieso gleich in meinem beheizten Büro sitzen.

Muss ich jetzt wirklich wieder ins Büro zurück? Ja, Lieschen, bei aller Schönheit dieses Augenblicks, aber du hast auch noch Pflichten. Da soll doch der Hund seinen Haufen machen, denke ich. Doch ich bin viel zu diszipliniert, um den restlichen Büronachmittag zu schwänzen. Dafür ist Lieschen Schön zu ordentlich und pflichtbewusst.

Endlich am Auto angekommen bin ich wieder so nass wie vorhin als ich bei Frau Hirte eintrat. Ich klappe den halbwegs heilen Rest des Schirms zusammen und steige ein. Vom Regen sehen meine Haare im Rückspiegel betrachtet noch dunkler aus. Sie locken sich an den Seiten. Ich stöhne genervt und lege den Sicherheitsgurt um. So Lieschen, ab geht's ins Büro.

Ich muss mich sehr dazu motivieren. Ich glaube, ich werde auf dem Rückweg noch bei der Bäckerei neben der Firma anhalten und mir ein Stück Kuchen mitnehmen. Ja, ich werde mir etwas Gutes tun. Das ist beschlossene Sache an diesem verregneten Nachmittag. Das habe ich meinem Bauch ja auch versprochen.

Gut, dass ich keine Bäckerin geworden bin, dann würde ich Kuchen aus lauter Gewohnheit verabscheuen. Das wäre schlimm. Vor allen Dingen, was für ein Verlust! Was sollte ich dann zur Kaffeezeit essen? Eine Scheibe Brot mit Leberwurst wie mein Vater? Der hasst nämlich alles, was süß schmeckt. Ist eine Berufskrankheit, wie er sagt. Für andere backt er dreistöckige Torten mit Marzipanrosen obendrauf, doch selbst würde er nicht ein Stück davon probieren.

Ein Bäcker, der Kuchen hasst. Aus Marketing- und PR-Sicht nicht unbedingt förderlich, aber das braucht ja auch keiner zu wissen. Also: bitte nicht weitersagen.

Ein Engel auf der Couch

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