Читать книгу Hüllenlos - Kathleen Lawless - Страница 5

Оглавление

Eins

1899

Das Grayson’sche Anwesen, Missus.»

«Das ist ja riesig!» Aurora Tremblay stützte ihre Ellbogen auf den Rand des schwankenden Heißluftballonkorbs und beugte sich nach vorn, um besser sehen zu können. Das Gut war weitaus beeindruckender, als sie erwartet hatte. Ein ausgedehntes, von Nebengebäuden flankiertes Herrenhaus lag inmitten eines mehrere Hektar großen Gartens im französischen Stil. Es gab kleine Wäldchen, Reitwege, ein Labyrinth und einen Teich. «Können Sie auf dem Rasen da drüben landen? »

«Ich kann es versuchen.»

Als der Korb auf den englischen Rasenflächen vor dem Herrenhaus gelandet war, lüpfte Aurora ihren Rock mit einer Hand, balancierte ihr Champagnerglas in der anderen und kletterte über den Rand.

Als beide Füße festen Boden erreicht hatten, rückte sie ihren Hut und ihre Jacke zurecht und strich ihren Rock glatt, als wäre so ein Auftritt etwas Alltägliches für sie. Da sie es geschickt vermieden hatte, auch nur einen Tropfen Champagner zu verschütten, warf sie ihren Kopf zurück und leerte den Inhalt ihres Glases. Sie konnte eine kleine Extrastärkung gebrauchen, bevor sie den berüchtigten Grayson Thorne zur Rede stellte, den Herrn und Gebieter über das Anwesen, in das sie gerade unberechtigterweise eingedrungen war.

Der Applaus traf sie im ersten Augenblick unvorbereitet, doch sogleich wandte sie sich ihrem Verehrer zu und vollführte eine übertrieben theatralische Verbeugung.

«Gut gemacht.» Der Sprecher war groß, breitschultrig und dunkelhaarig. Er wirkte amüsiert, als er auf sie zuschlenderte, eine lässige Leichtigkeit in jedem seiner Schritte. Thorne? Oder einer seiner Männer?

Wenn er beabsichtigte, sie einzuschüchtern, so müsste er mehr tun, als nur seine Augen abschätzend über ihre Formen gleiten zu lassen. Nur schafften diese dunklen, rätselhaften Augen es irgendwie, auf eine verstörende Weise unter der Oberfläche zu forschen und ihr Selbstbewusstsein zu erschüttern. Warum sollte sie sich sonst plötzlich so verletzlich fühlen, als stünde sie ihm in Unterwäsche oder weniger gegenüber? Als könnte er durch ihre sorgfältig einstudierte Fassade hindurchblicken, direkt auf die köstlichen, geheimen Sehnsüchte, die unablässig in ihrer Seele brannten.

Lächerlich.

Unmöglich.

Nicht einmal der Mann, mit dem sie verheiratet gewesen war, hatte die geringste Ahnung von ihrem ruhelosen Verlangen gehabt, von ihren innersten Phantasien und Wünschen.

«In der Tat», sagte sie munter, «es war kein schlechter Flug. Ich frage mich schon, worauf ich mich als Nächstes stürze.»

«Sie pflegen solche Dinge häufiger zu tun?»

«Zumindest versuche ich es.» Lachte er über sie? Diese festen Lippen bogen sich auf eine Art nach oben, die gezwungen wirkte. Vielleicht war der Mann einfach nicht daran gewöhnt, öfter zu lachen. Sicherlich war auf diesem gut aussehenden, markant-männlichen Gesicht ein finsterer Gesichtsausdruck mehr zu Hause.

Sie durchwühlte ihr Ridikül und zog eine tadellose neue Visitenkarte hervor, die sie ihm überreichte.

«Mrs H. R. Tremblay», las er laut vor. «Große Abenteurerin.» Diesmal gab es keinen Zweifel, dass er sich mit seinem Tonfall und seinen Augen über sie lustig machte. «Und was macht eine große Abenteurerin so?»

«Alles Mögliche.» Verflixt, ihre Stimme klang viel zu kehlig, ihre Worte kamen rau und atemlos heraus. Eine Tatsache, die der Aufmerksamkeit des Mannes vor ihr nicht entging. Er reagierte nur minimal – mit einer kaum wahrnehmbaren Erweiterung seiner Pupillen, einer leichten Beschleunigung seines Atems – als er das nicht greifbare Etwas zur Kenntnis nahm, das sich zwischen ihnen entspann. Beinahe, als ob unsichtbare Seidenfesseln sich langsam und sicher um sie beide schlangen.

Verrückte Einbildungen!

Aurora räusperte sich. «Wären Sie bitte so freundlich, mich zu Grayson Thorne zu bringen? Wir haben ein wichtiges Thema miteinander zu erörtern.»

Sein Blick tastete sie noch einmal auf diese beunruhigende Weise ab. Energie. Kraft. Magnetismus. Er musste Thorne sein, denn er strahlte eine faszinierende Kombination von Stärke und purem Sex aus, die Aurora nicht nur sehen und riechen und fühlen, sondern fast schmecken konnte. Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge und war sich dabei bewusst, wie er jede noch so kleine Bewegung von ihr beobachtete und mit einer entsprechenden eigenen Bewegung parierte.

Sie hatte das Gefühl, dass er auf irgendetwas wartete, den richtigen Augenblick abpassen wollte... Um was zu tun – sie in seine Arme zu schließen? Sie auf sein Lager zu tragen? Also, das wäre wirklich ein Abenteuer. Die Leute sprachen von dem mächtigen Grayson Thorne mit einer gewissen Ehrfurcht und Respekt. Langsam begann sie zu verstehen, warum.

«Ihr Gefährt scheint ohne Sie entschwunden zu sein.» Aurora wirbelte herum und sah entsetzt, wie der Ballon in den Himmel aufstieg. «Er sagte mir, dass er warten würde.»

«Der Wind, so scheint es, war da anderer Meinung.»

Wie war Thorne ihr so nahe gekommen? Eben war er noch in sicherer Entfernung, jetzt stand er unmittelbar vor ihr, quasi überlebensgroß. Sie spürte rohe, ungezügelte Kraft, kaum verhohlen und in Schach gehalten durch die Regeln der Höflichkeit.

Wenn er ein Krieger war, welche Schlachten schlug er? Innerliche? Äußerliche? Welche Geheimnisse versteckte er hinter diesen rätselhaften dunklen Augen? Welche Bilder suchten seinen Schlaf heim und drangen ein in seine Träume?

Seine Gegenwart war so kraftvoll, dass sie zusammenfuhr, als er sie berührte. Er nahm ihren Arm auf eine eigene Art, als ob er sie als seinen Besitz betrachtete, und manövrierte sie dann in Richtung des Herrenhauses. «Es scheint, als ob ein Abenteuer das nächste bedingt und Sie sich hier als mein unerwarteter Gast wiederfinden.»

«Haben Sie oft Gäste?» Sie wollte diesen Mann nicht gegen sich aufbringen, sondern ihm bei der ersten Gelegenheit ihr geschäftliches Anliegen darlegen und sich dann wieder aufmachen.

«Leider nein. Mit Ausnahme der kommenden paar Tage natürlich.»

«Oh?» Aurora erlaubte seiner Hand, weiter auf ihrem Arm zu bleiben, während sie ihre Aufmerksamkeit dem Herrenhaus zuwandte, das aus der Luft betrachtet enorm groß gewirkt hatte. Aus der Nähe war es ebenso beeindruckend, es dehnte sich in verschiedene Richtungen aus.

«Allerdings.» Sie erreichten die Vordertreppe just in dem Augenblick, als eine Kutsche die Weggabelung erreichte und die Auffahrt entlang auf sie zufuhr. Als Aurora sich zurückziehen wollte, wurde sein Griff fordernder, ein leichter Druck, den sie in ihrem ganzen Körper spürte.

«Das mindeste, was Sie tun können, ist mitzukommen und meine Gäste zu begrüßen. Und das allermindeste, was ich tun kann, ist, Ihr Glas wieder zu füllen.» Er nahm ihr das leere Sektglas aus der Hand und gab knappe Anweisungen an die Schar Hausangestellten, die unterhalb der Wagenauffahrt warteten, um die Kutsche in Empfang zu nehmen.

Aurora beobachtete mit großen Augen, wie Truhe um Truhe mit rascher Bedachtsamkeit aus dem Inneren der Kutsche ausgeladen wurde.

Der Fahrer sagte: «Die Clubmitglieder folgen, Sir. Mit den Damen.»

«Sehr gut.» Grayson wandte sich an seinen Diener. «Hudson, ich vertraue Ihnen an, dafür zu sorgen, dass alle bequem untergebracht werden.»

«Selbstverständlich, Sir.»

«Ich bin zu ungelegener Stunde gekommen», sagte Aurora, während Grayson sie hineinführte. In eine beeindruckende, marmorweiß getünchte Empfangshalle mit einer geschwungenen Treppe aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg und durch einen Flur bis in einen Raum, der offensichtlich sein Arbeitszimmer war. Dunkle Holzvertäfelung, ein riesiger Schreibtisch aus Holz, ungemütliche Möbel mit Rosshaarpolstern. Eine wahre Männerdomäne, so dunkel und abschreckend wie der Mann selbst. Der Stuhl gegenüber des Schreibtisches erwies sich als genauso unbequem, wie er aussah. Offensichtlich sollte er die Menschen davon abhalten, sich in Gegenwart seiner Lordschaft unnötig lange aufzuhalten.

«Äußerst ungelegen», stimmte er zu. Er öffnete eine gekühlte Champagnerflasche in einer Weise, die darauf hindeutete, dass dies ein häufiges Ritual war, und füllte ihr Glas mit theatralischer Geste. Nachdem er es ihr gebracht hatte, schenkte er sich selbst einen Whiskey ein und machte es sich hinter seinem Schreibtisch bequem.

Aurora nahm einen Schluck. Das Geschäft, erinnerte sie sich selbst. Ignoriere die beunruhigende Wirkung, die er auf dich hat. Das ist offensichtlich gut einstudiert und hat üblicherweise den erwünschten Effekt.

Ihre Gedanken schweiften ab, sie dachte daran, was wohl dabei herauskäme, wenn sie beide plötzlich in gemeinsamen Zielen vereint wären. Oder gemeinsamer Ekstase. Auf einmal war Aurora viel zu warm, aber sie widerstand dem Bedürfnis, aus ihrer Jacke zu schlüpfen – eine Bewegung, die Thorne zweifellos als Schwäche interpretieren würde. Er würde denken, dass er ihre Haltung ins Wanken brachte. Vielleicht sollte sie ihm diesen falschen Eindruck gestatten, ihn denken lassen, dass er die Oberhand hatte. «Ich wollte nicht in Ihre Party hineinplatzen.»

«Nun, zumindest hatten Sie die Absicht, meine Privatsphäre zu verletzen. Jetzt, wo Sie hier sind, fürchte ich, sind Sie unverhofft abhängig von meinem freundlichen Wesen.»

Aurora neigte ihren Kopf und betrachtete ihn unter gesenkten Wimpern hervor. Sie war unfähig, der Versuchung zu widerstehen, ihn genauso zum Besten zu halten, wie er sie geneckt hatte. «Haben Sie das denn überhaupt? Ein freundliches Wesen, meine ich?»

«Jetzt übertreiben Sie mal nicht, Mrs. Tremblay. Sie haben mich dazu verlockt, Sie in mein Haus zu bitten und Ihnen einen äußerst kostbaren französischen Champagner anzubieten. Ich vernachlässige meine Gäste für Sie, so fasziniert bin ich von Ihrer charmanten Gegenwart.»

Eine andere Frau hätte sich jetzt vielleicht auf ihre weiblichen Reize verlassen und hätte mit ihm geflirtet, um etwas bei ihm zu erreichen. Aber Aurora war keine andere Frau. «Bitte tun Sie das nicht.»

Nach dieser harschen Reaktion sah er erstaunt auf.

Sie beugte sich nach vorne. «Bitte versuchen Sie nicht, mit mir zu flirten, als ob ich ein Gast wäre, dem Sie das Gefühl geben müssten, willkommen zu sein. Hören Sie mich einfach bis zum Ende an, und schicken Sie mich dann schnellstmöglich in die Stadt zurück.»

Er stand auf und füllte ihr Glas erneut, obwohl sie dessen Inhalt kaum angerührt hatte. Seine Hand lag auf ihrer, um den Stiel zu stützen. Sie fühlte, wie Hitze von seinen Fingerspitzen ausstrahlte und auf ihrer Haut ein Feuer entfachte. Ein Lauffeuer, das sich wellenartig durch ihr Blut ausbreitete und sich in ihren verborgensten weiblichen Winkeln sammelte.

«Und wie genau soll ich das Ihrer Meinung nach tun? Ihre eher unorthodoxe Art der Anreise hat Sie doch hier mehr oder weniger stranden lassen.»

Mit Bestimmtheit nahm sie seine Hand von ihrer und stand ebenfalls auf. Viel besser, mit ihm auf Augenhöhe zu sein, als ihn bedrohlich über sich aufgebaut zu wissen. «Spielen Sie nicht mit mir, Mr. Thorne. Stecken Sie mich einfach in eine Kutsche, und ich werde Ihnen nicht mehr im Weg sein.»

«Und was, wenn ich Sie gar nicht aus dem Weg haben möchte?»

«Sie haben ein Haus voller Gäste, um die Sie sich kümmern müssen.»

«Fremde, zum größten Teil. Haben Sie je vom Rose and Thorn-Club gehört?»

«Selbstverständlich.» Jeder der, so wie sie, in der Welt des Theaters groß geworden war, wusste um diesen Herrenclub mit seiner Exklusivität und geheimnisumwitterten Aura. Ein Mitglied dieses Clubs war in der Lage, jeder Schauspielerin zu Bühnenerfolg zu verhelfen. Thornes Vater war eines der Gründungsmitglieder gewesen.

«Selbstverständlich», echote Grayson mit leichtem Spott in der Stimme. «Sagen Sie mir, weiß Mr Tremblay eigentlich, was für ein Abenteuer Sie da in Angriff genommen haben?»

«Ich bin Witwe», sagte Aurora.

«Das hatte ich schon vermutet», sagte Grayson. «Danach sehen Sie aus.»

«Wonach?»

«Nach einer Frau, die zu lange ohne Mann war.»

«Lächer-»

Grayson nahm den Champagnerkelch aus ihren Fingern und setzte ihn in der Nähe ab. Er zog ihr den Hut vom Kopf und legte ihn beiseite, dann wühlte er mit seinen Händen in ihrem Haar, sodass es locker herunterfiel. «Ich mag Sie zerzaust. »

«Mr Thorne.»

«Mrs Tremblay.»

Er beabsichtigte, sie zu küssen! Aurora konnte den Schock der Erregung, der mit diesem Wissen kam, nicht unterdrücken. Sie fühlte sich gleichzeitig heiß und flüssig. Schmelzend. Bereit.

Sie schwankte auf ihn zu, genötigt von etwas, das zu mächtig war, um es in Frage zu stellen. Sie wusste nur, dass sie seinen Kuss so nötig brauchte, wie sie atmen musste. Und dass er das Gleiche fühlte.

Sein Kuss war genauso bestimmend, wie er es war. Sicher. Stark. Wissend. Er hatte eine berauschende Wirkung, die durch ihr Blut tanzte und sie zu verzehren drohte.

Aurora packte seine Schultern als Stütze, während Wellen der Lust sie durchströmten. Er hatte recht. Sie war zu lange ohne einen Mann gewesen. Und schon immer ohne einen wie ihn.

Er zog sich zuerst zurück und setzte sich wieder, scheinbar hatte er sich viel mehr in seiner Gewalt als sie. «Ich gehe davon aus, dass Sie dieselbe Mrs Tremblay sind, die meinen Sekretär in den letzten Wochen wegen eines Treffens mit mir belästigt hat.»

Aurora nickte, noch immer schwindelig von seiner Umarmung. Ihre Lippen schmerzten und verlangten dennoch nach mehr. Ihr ganzer Körper pochte und pulsierte. Wie konnte sie sich gleichzeitig erfüllt und verlassen fühlen? Alles von einem einzigen Kuss? «Ich bin in der Tat eben jene Mrs Tremblay.»

«Offensichtlich halten Sie nichts davon, ein Nein als Antwort zu akzeptieren.»

«Nicht, wenn es um etwas geht, das ich so unbedingt will.»

Seine kaffeefarbenen Augen sagten ihr, dass er sie mit gleicher Leidenschaft begehrte. Das Wissen darum entflammte sie.

«Ich selbst bin ziemlich genau so. Das könnte sich als schwierig erweisen.»

Aurora wusste, dass sie von zwei Dingen gleichzeitig sprachen, ihres versus sein Begehren. «Ich kann ganz gut damit umgehen.»

«So scheint es. Doch ich fürchte, dass Sie sich in diesem Fall mehr vorgenommen haben, als Sie ahnen.»

«Wirklich, Mr Thorne. Als Sie sich weigerten, sich wegen des Gaslight Theater mit mir zu treffen -»

Er erhob sich. «Ich habe nicht die Absicht, jetzt mit Ihnen darüber zu diskutieren. Kommen Sie. Ich möchte Sie auf Ihr Zimmer bringen.»

«Mein Zimmer? Sie erwarten doch sicher nicht von mir, dass ich bleibe?»

«Oh, ich glaube schon, dass Sie bleiben werden. In Anbetracht der Tatsache, dass es etwas gibt, was wir beide wollen. Sehr sogar.»

«Aber – ich habe keine Sachen. Keine Kleider oder Toilettenartikel. »

«Seien Sie beruhigt, ich bin mehr als in der Lage, ihre Bedürfnisse zu befriedigen.»

Das Versprechen in seinen Worten und in seinen Augen war unmissverständlich. Alle ihre Bedürfnisse.

Aurora verspürte einen starken Drang davonzulaufen, bevor sie sich hier zu tief verstrickte. «Sicher kann mich jemand zurück in die Stadt mitnehmen.»

«Ich fürchte, ich habe nicht das Personal, das nötig wäre, um Sie zurück nach San Francisco zu bringen.»

«Aber Ihre Gäste...»

«Werden ebenso angetan davon sein, Sie kennenzulernen, wie ich es war. Da bin ich ziemlich sicher.» Während sie sprachen, führte er sie nach oben bis ans Ende des Flures, wo er die Tür zu einer luxuriösen Suite öffnete. «Im Schrank befinden sich jede Menge Kleider. Sie sollten etwas Passendes finden.»

Sie trat an ihm vorbei in etwas, was höchst offensichtlich kein Gästezimmer war. Es roch nach Weiblichkeit in Tönen von Pink und Lavendel. Eine Vielzahl von Volants und Rüschen war um ein Himmelbett drapiert, das in Kissen ertrank. Passender Stoff rahmte die Fenster ein. Das Reich einer abwesenden Gattin?

«Wessen Zimmer ist das?» Aurora ging langsam vorwärts, halb in der Erwartung, dass ihre Umgebung sich in einer Wolke von Lug und Trug auflösen würde.

Vielleicht forderten diese Jahre in der Phantasiewelt, auf der Bühne und jenseits davon, jetzt doch noch ihren Tribut. Vielleicht war sie nicht in der Lage, ihre Phantasie und die Realität zu trennen, obwohl sie nicht länger auf der Bühne spielen musste, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nach der Heirat mit Hubert hätte es als unschicklich gegolten, ihre Karriere weiter zu verfolgen, hatte er gesagt. War das die Zeit, in der ihr erwachsenes Verlangen und ihre Phantasien geboren wurden? Mit viel freier Zeit und wenig, um sich zu amüsieren, außer ihrer Vorstellungskraft?

Am anderen Ende des Zimmers, in der Nähe vom Kamin, lockten gerahmte Fotografien sie zu einem Beistelltisch. Während sie ein Bild hochnahm und es im schwindenden Nachmittagslicht betrachtete, stand Thorne steif da, die Beine gespreizt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.

«Das ist das Zimmer meiner Mutter. Sie ist eine ganze Weile nicht hier gewesen.»

Aurora fuhr herum, wandte sich ihrem Gastgeber zu und erkannte den Schatten. Der einsame kleine Junge, der die Rückkehr seiner wunderschönen und berühmten Mutter erwartete. «Celeste Grayson ist Ihre Mutter.»

«Exzellente Kombinationsgabe, Mrs Tremblay.»

«Das Gaslight Theater ist der Ort, an dem sie ihren ersten großen Durchbruch hatte.»

Graysons Gesicht verschloss sich und war plötzlich bar jeden Ausdrucks. «Wie ich sehe, haben Sie gründlich über die Immobilie recherchiert.»

Auroras Augen ruhten weiter auf seinen. «Ich bin mir ebenso der Tatsache bewusst, dass die Leiche Ihres Vaters dort am Tatort entdeckt wurde.»

«Sehr gut, Mrs Tremblay. Wer weiß, was für interessante Schnipselchen Sie im Laufe der kommenden drei Tage noch entdecken werden?»

In der Tat, welche wohl?

Randall Ames schlenderte kurze Zeit später in Graysons Arbeitszimmer. «Wer ist denn der umwerfende Rotschopf, den ich dich nach oben begleiten sah?»

«Du meinst Mrs H. R. Tremblay, die große Abenteurerin?», sagte Gray spöttisch und schnippte seinem Sekretär die Visitenkarte zu.

Randall fing die Karte geschickt auf und runzelte die Stirn, als er sie las. «Große Abenteurerin? Wahrscheinlich mehr Gerede als wirkliche Taten. Warum kommt mir der Name bekannt vor?»

«Sie hat dir in den letzten Wochen wegen eines Treffens mit mir in den Ohren gelegen.»

«Ach ja, Aurora Tremblay. Die, über die du mir gesagt hast, ich solle sie loswerden.»

«Eine Aufgabe, an der du anscheinend kläglich gescheitert bist.»

«Sie ist offenbar eine von jenen, die kein Nein als Antwort akzeptieren, oder? Verzeih, aber ist Beharrlichkeit nicht einer der Charakterzüge, die du am meisten bewunderst?»

«Nur, wenn es mir passt», antwortete Gray.

«Dann schick sie ihrer Wege.»

«Nicht, bevor ich weiß, wer genau sie ist und was sie wirklich will.»

«Hat sie nicht Pläne mit dem Theater?»

«Vielleicht», sagte Gray, während er sich daran erinnerte, wie betörend es war, sie in den Armen zu halten, und an ihre Reaktion auf seinen impulsiven Kuss. Er hatte gedacht, dass er sie mit seinen Avancen abschrecken würde, doch das genaue Gegenteil war passiert – und er war nicht daran gewöhnt, dass er mit seiner Einschätzung von Menschen so danebenlag. Das allein genügte, um ihn neugierig zu machen.

«Die Zimmer sind bereits alle angewiesen. Wo willst du sie unterbringen?»

«Sie ist in Celestes Zimmer.»

Randall hob eine Augenbraue. «In deinem Flügel. Wie überaus praktisch.»

«So habe ich zumindest ein Auge auf sie. Ich kann keine weiteren unangenehmen Überraschungen gebrauchen.»

«Was hat eigentlich Beau jetzt vor?»

«Das Übliche. Er macht Versprechungen, die er nicht zu halten beabsichtigt.»

«In dieser Hinsicht ganz der Vater, nicht wahr?»

«Er scheint seine Mutter zu bevorzugen.»

Randall lachte laut auf. «Kürzlich hörte ich, Celeste wäre auch deine Mutter.»

Gray warf ihm einen scharfen Blick zu. «Ich wäre dir dankbar, wenn du mich daran nicht erinnern würdest.»

Nicht ganz die vielversprechende Audienz bei Grayson Thorne, um derentwillen sich Aurora sich auf den Weg gemacht hatte. Aber immerhin ein Anfang, dachte Aurora, als sie sich an eine ausführlichere Erkundung des Raumes machte. Sich vorzustellen, dass Celeste Grayson die Mutter von Thorne war. Die Frau, die nicht nur eine Legende in der Welt des Theaters war, sondern ebenso bekannt für ihre zahllosen Affären.

Aurora hatte einmal eine kleine Rolle neben dieser Frau gespielt. Celeste würde sich daran nicht mehr erinnern, aber für Aurora war es eine Erfahrung, die sie nie vergessen hatte. Dieses Zimmer zeigte eine andere Seite der Frau, an die Aurora sich erinnerte. Ihre Liebe zu Büchern, ihre Leidenschaft für die Kunst, zusammen mit vielen anderen leiblichen Genüssen. Gar nicht zu sprechen von den Kleidern, denn die Schranktür wurde beinahe aus den Angeln gehoben. Aurora zog ein einfaches Tageskleid in Frühlingsfarben heraus und hielt es vor sich. Es strömte schwach einen verführerischen Blumenduft aus. Also erwartete Grayson wirklich von ihr, dass sie sich im Zimmer seiner Mutter einrichten und sich bei den Kleidern seiner Mutter bedienen sollte? Ein beachtlicher Schachzug.

Aurora hatte nicht die Absicht, unterwürfig herumzusitzen und zu warten, bis sie gerufen würde. Sie schob die Vorhänge beiseite und nahm das umgebende Gelände in Augenschein. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf den Teich in der Ferne, hinter dem französischen Rosengarten und der Laube, jenseits des Labyrinths.

Sie brauchte Grayson. Vielmehr, korrigierte sie sich selbst schnell, brauchte sie etwas, über das er verfügte – das Gaslight Theater. Und sie war ziemlich sicher, dass sie in der Lage wäre, ihn von der Vorteilhaftigkeit ihrer Pläne zu überzeugen. Er würde bald herausfinden, dass man sie nicht so leicht von ihren Zielen abbringen konnte.

Das Gutshaus war unerwartet ruhig, als sie sich auf den Weg nach unten machte. Vielleicht hatten sich Graysons Gäste verspätet, und die Bediensteten waren mit Vorbereitungen hinter den Kulissen beschäftigt. Als sie draußen war, konnte Aurora sich nicht entscheiden. Das Labyrinth ... der Skulpturengarten ... das Sommerhaus ... der Teich ... Jedes Einzelne lockte sie, versprach ein Abenteuer.

«Wenn Sie nach Gray suchen, er ist im Sommerhaus.» Ein hellhaariger Jüngling erhob sich aus den Tiefen eines Korbsessels im Schatten der Veranda.

«Und das Sommerhaus ist ...?»

«In dieser Richtung», sagte der junge Mann, zeigte dorthin und reichte ihr die Hand in einer einzigen trägen Bewegung. «Ich bin Grays Bruder, Beau.»

«Aurora Tremblay», sagte sie und nahm die dargebotene Hand. Der junge Mann war schlank, beinahe hübsch, und sie spürte Schwäche sowohl in seinem Händedruck als auch in seiner Persönlichkeit. Er erinnerte sie an ihren verstorbenen Ehemann. Vielleicht war der jüngere Bruder einfach verwöhnt. Woran auch immer es lag, auf Graysons Stärke konnte sie bei seinem Bruder keinen Hinweis finden.

«Dann sind Sie wohl eine der Schauspielerinnen?»

«Ich hab ein-, zweimal auf der Bühne gestanden.»

«Gray wollte die Party nicht ausrichten, wissen Sie. Julian hat ihn dazu gebracht. Weil Grays Vater an der Reihe gewesen wäre.»

«Ich verstehe.» Aurora zweifelte, dass man Grayson ohne weiteres zu irgendetwas bringen konnte, also musste er seine eigenen Pläne haben. Vielleicht etwas, das mit dem Tod seines Vaters und der frisch ererbten Mitgliedschaft im exklusiven Rose and Thorn Club zu tun hatte. «Dann gehe ich jetzt und werde sehen, ob ich eine Minute seiner Zeit stehlen kann.»

Graysons Gut erwies sich als ebenso bemerkenswert wie der Mann selbst. Der Pfad, dem sie folgte, war gesäumt von der üppigen Hecke einer breitblättrigen Pflanze. Die Hecke war übersät mit einer Fülle von farbenprächtigen Blüten, deren Aroma die Luft mit einem süß duftenden Parfum würzte. Jasmin rankte sich um den darüberliegenden Torbogen, schützte Aurora vor der Spätnachmittagssonne und fügte seinen eigenen exotischen Duft hinzu.

Aurora hielt inne und hob eine leuchtend orangefarbene Blüte vom Boden auf. Als sie sie hinters Ohr steckte, merkte sie, dass sie versäumt hatte, ihr Haar wieder in Ordnung zu bringen, nachdem Grayson mit seinen Händen hindurchgefahren war. Oder war es ihr heimlicher Wunsch, die Erinnerung an seine Berührung nicht zu löschen? Sie konnte nicht so tun, als hätte sie die Erregung, in seinen Armen zu sein, nicht genossen. Oder seinen Kuss. Selbst jetzt durchraste sie ein Schauer, von den Fingerspitzen bis zu den Fußsohlen.

Während sie sich umsah, fühlte sie sich plötzlich jünger und sorgenfreier als seit Jahren. So viel Verantwortung war über sie gekommen. Vor allem nach ihrer Heirat, als Huberts schwindende Gesundheit und sein schwacher Charakter sie dazu gezwungen hatten, in ihrer Beziehung den Part der Starken zu übernehmen.

Kein Wunder, dass sie sich zu Grayson Thorne hingezogen fühlte. Wie konnte sie einem Mann widerstehen, bei dem körperliche Stärke zwanglos mit charakterlicher Stärke gepaart war? Einem Mann, der es ebenso wenig zuließ wie sie, dass er gedrängt oder tyrannisiert wurde. Dessen Macht sich ausweiten könnte, ohne ihre einzuschränken, wenn sie ihre Karten korrekt spielen würde. Irgendwie musste sie ihn davon überzeugen, dass eine Partnerschaft in ihrem beiderseitigem Interesse lag.

Sie erreichte das charmante, offene Sommerhaus, enttäuscht, keine Spur von ihrem Gastgeber zu finden. Hoffte sie insgeheim, dass er sie hier, in einer lähmenden Stille, die nur vom Gezwitscher der Vögel durchbrochen wurde, wieder in seine Arme ziehen und küssen würde? Liebe unter freiem Himmel, der Reiz des Verbotenen – nur eines der vielen sexuellen Abenteuer, das hinter Graysons wissendem Blick verborgen schien. Aurora zitterte ob der delikaten Richtung ihrer Gedanken. Es war egal, dass ihre Phantasien sich niemals verwirklichen würden, sie streichelten ihre Seele und nährten ihren Abenteuergeist.

Aurora stieg die drei Stufen zu dem kühlen, süß riechenden Gebäude hinauf, einer idyllischen Mischung von drinnen und draußen. Mit hineinwucherndem Grün, zwanglosem Korbmobiliar und einem halb offenen Holzdach, das mehr auf Schatten als auf Intimsphäre ausgerichtet war. Sie streckte sich auf einem Korbsofa aus und versank zentimetertief in einer übervoll gestopften Federmatratze. Träumerisch blickte sie hinauf an die Decke. Sie würde einfach einen Moment hier bleiben und schauen, ob Grayson auftauchte.

Sie erwachte in der Dämmerung, blinzelte sich wach, hungrig und vollkommen orientierungslos. Im Westen konnte sie die letzten verblassenden, pinkfarbenen Streifen des Sonnenuntergangs sehen, hinterleuchtet von einem schwachen goldenen Glanz.

Sie streckte sich und setzte sich auf. Wie merkwürdig. Sie erinnerte sich nicht daran, dass da eine Decke gewesen war, als sie sich vorhin hingelegt hatte. Aber nun war sie gemütlich warm unter einer geborgen. Sie berührte den Stoff und bemerkte, dass es überhaupt keine Decke war, sondern ein schwarzer Samtmantel. Und auf dem Kissen, neben der schwachen Vertiefung, die ihr Kopf hinterlassen hatte, lag eine passende Maske aus Samt.

Hüllenlos

Подняться наверх