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Meine Geschichte

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Meine Sanduhr läuft ab. Ihre auch. Mir ist es durch meine Lebenslage sehr bewusst. Planen kann ich nichts mehr. Zu ungewiss ist, was mich morgen erwartet.

Derweil meine Freunde mir von ihren Reiseplänen für nächstes Jahr erzählen, weiß ich jeweils nicht, ob mein Zustand in drei Wochen in sich zusammenfallen wird. Wer mich anschaut, könnte mich für eine Hochstaplerin halten, so gesund sehe ich im Moment aus, und Energie hatte ich bis vor Kurzem auch noch mehr als viele in ihren besten Zeiten. Wenn nur nicht meine Blutwerte so schlecht wären. Innerhalb von wenigen Wochen sind meine «Freien Leichtketten», ein krankhaftes Eiweiß, das mir als Indikator für den Verlauf der Krankheit dient, um das Zehnfache angestiegen. Schlechte Nachricht! Und die Schmerzen nehmen zu. Die Krankheit modert.

Ich kenne beide Seiten der Medaille: Ich weiß, was es heißt, Patienten eine schlechte Nachricht zu übermitteln. Ich weiß, was es heißt, die schlechte Nachricht zu empfangen. Was es heißt, Therapieangebote zu bekommen. Ich weiß, dass «Informed Consent – informierte Einwilligung» zwar gut klingt, im besten Fall gut gemeint ist, aber letztlich eine Illusion ist. Und ich weiß, dass ich als Ärztin den Vorteil habe, etwas von Medizin zu verstehen, und allenfalls mit Kollegen diskutieren kann. Denn oft gibt es keine eindeutige Antwort. Auch wenn unsere Ärzte sich bei der Präsentation von Therapieoptionen noch so sehr um Objektivität bemühen, haben sie persönliche Meinungen. Die beste Therapieoption ist je nach Lebenslage, je nach Alter, je nach Vorliebe, Wertvorstellungen und Biografie eine ganz andere. Es gibt nicht eine Wahrheit.

Was meine eigene Krankheitserfahrung angeht, eine kurze Zusammenfassung: 1988, mit 37 Jahren, wurde bei mir auf einer Seite Brustkrebs diagnostiziert. Meine ältere Schwester hatte auch im Alter von 37 Jahren Brustkrebs. Unsere Mutter ist schließlich an Brustkrebs gestorben. Mit dem Verdacht auf eine genetische Veranlagung für diesen Krebs habe ich mich entgegen dem Rat meiner Ärzte für eine beidseitige Brustamputation (Mastektomie) entschieden, weil die Brüste für mich Zeitbomben waren. Damals konnte es noch nicht nachgewiesen werden, aber ich vermutete bereits, dass der Krebs aufgrund einer Genmutation entstanden war. Ich bin heute überzeugt, dass ich mir mit dieser Entscheidung mein Leben gerettet habe. Mir war die größtmögliche Sicherheit wichtiger, als einen Busen zu haben. Meine Ärzte hatten extreme Mühe mit meiner Entscheidung, und wäre ich nicht selbst Ärztin gewesen, ich glaube, sie hätten mich für verrückt erklärt. Immerhin prophezeiten sie mir, dass meine Ehe in Brüche gehen wür­de. Eine weitere Entscheidung war für meine Ärzte völlig unnachvollziehbar: Ich wollte damals die Haare nicht verlie­ren. Und dies, obwohl ich sehr wohl wusste, dass sie wieder nachwachsen würden. So habe ich eine Chemotherapiekombination gewählt, bei der ich die Haare nicht verlor.

Die erste Krebserkrankung hatte Folgen für meinen Berufsweg. Im Wissen, dass Brustkrebs bei jungen Frauen sehr aggressiv verlaufen kann, wollte ich nicht das Risiko eingehen, meine unter Umständen letzten Lebensjahre in den Aufbau einer Praxis zu investieren. Nach einer vor­übergehenden Tätigkeit als Betriebsärztin bin ich ins Spital­management eingestiegen und habe zehn Jahre damit verbracht, für den Erhalt des REHAB Basel, Zentrum für Querschnittsgelähmte und Hirnverletzte, und den dringend notwendigen Neubau zu kämpfen. Parallel dazu habe ich alles gegeben, um auf das Schicksal hirnverletzter ­Menschen aufmerksam und die Schweizerische Vereinigung für hirnverletzte Menschen, FRAGILE Suisse, bekannt zu machen. Lange Jahre habe ich mich für das Recht von Wachkomapatienten auf eine geeignete Rehabilitation eingesetzt. Rückblickend bin ich nicht sicher, ob das immer richtig war. Dennoch halte ich unsere Gesellschaft für heuchlerisch, wenn sich insbesondere Politiker gegen die Möglichkeit des assistierten Suizids wehren und gleichzeitig die Pflegebudgets derart dezimiert werden, dass in vielen Fällen die Pflegebedürftigen suboptimal betreut werden. Die Doppelmoral scheint mir manchmal unerträglich. Ich bin allen im Gesundheitswesen dankbar, die ihr Bestes geben – davon gibt es viele, viele. Logischerweise hört man wenig von ihnen.

Als Internistin, die mit einem Master of Health Administration (M.H.A.) der Universität Bern das Terrain der klassischen Inneren Medizin längst verlassen hatte, habe ich mich doch wieder der klinischen Medizin zugewandt, nachdem ich mich über Jahre zur Psychosomatikerin, ­Psychotherapeutin und Psychoonkologin weitergebildet hatte. Die letzten Berufsjahre führte ich eine volle psychotherapeutische Praxis mit Schwerpunkt Psychosomatik, Psychoonkologie und Sozialpsychiatrie.

Als bei mir Brustkrebs diagnostiziert wurde, war ich überzeugt: Das Kapitel Kinder ist ein für alle Mal abgeschlossen. Mein Mann stand hinter mir. Ihm war es wichtig, dass ich überlebe. Als ich vierzig Jahre alt war, sagte ich mir, es sei sehr unwahrscheinlich, in diesem Alter und nach einer Chemotherapie schwanger zu werden. Wir beschlossen, mit Verhütung aufzuhören, und falls jemand sich dann an­­melde, sei das ein Menschenkind, das unbedingt kommen wolle. Und so kam Julian 1993 zur Welt. Wir erfreuten uns an diesem wunderbaren Kind. Ich lebte allerdings lange mit einem Schatten und der leisen Angst, ich würde mein Kind nicht lange begleiten können.

2004 wurde die Genmutation BRCA1 bei mir verifiziert, und ich habe im Rahmen einer prophylaktischen Operation die Eierstöcke entfernen lassen. Fast 90 Prozent der Frauen mit diesem Gen bekommen Brustkrebs, meistens recht jung. Wer diesen ersten Krebs überlebt, wird mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit noch an Eierstockkrebs erkranken. Deshalb werden die Trägerinnen des Gens heute gut be­­gleitet, um den Krebs frühzeitig zu diagnostizieren oder prophylaktische Maßnahmen durchzuführen (wie Angelina Jolie 2013). Am Abend vor der Entlassung aus dem Spital hatte ich mich bereits vom Operateur verabschiedet. Ihm und dem Assistenzarzt hatte ich mitgeteilt, ich sei sicher, dass diese Operation mein Leben gerettet habe. Sie lächelten nett und gingen von dannen. Abends tauchte der Opera­teur nochmals in meinem Zimmer auf. Ein Blick, und ich wusste, was es geschlagen hatte. Ich kenne den gequälten Ausdruck. Ich bedauere meine Ärzte immer, wenn sie mir eine schlechte Nachricht übermitteln müssen. Offensichtlich war inzwischen der Bericht der Pathologen eingetroffen mit der Diagnose, dass ich zwei kleine Krebstumore in den entfernten Eierstöcken hatte, die während der Operation mit dem bloßen Auge gar nicht erkannt worden waren. Was tun? Eine Chemotherapie. Diesmal eine, die so schlimm war, dass ich sie nach Verhandlungen mit meinem Arzt nach vier anstatt nach sechs Zyklen abbrach. Es folgte wiederum der normale Alltag.

2009 war ich erneut konfrontiert mit einer Krebsdia­gnose – ein Multiples Myelom, ein Knochenmarkkrebs, die­ses Mal sicherlich unheilbar. Meine Ärzte vermuteten, dass dieser Krebs eine Folge der vorangegangenen Chemothera­pien war. Alles hat seinen Preis. Und wiederum habe ich mich gegen die von allen Fachärzten empfohlene Hoch­­dosis-Chemotherapie und nachfolgende Transplantation von eigenen Stammzellen entschieden. Warum? Weil ich an­­gesichts meiner vielen überstandenen Erkrankungen und Chemotherapien ohnehin eine Ausnahme darstellte und nicht durch diese Hölle gehen wollte. Ich befürchtete auch, aufgrund meines als Folge der Brustamputation be­­ste­­henden Lymphödems1 am linken Arm und mehrerer knapp überlebter Blutvergiftungen (Sepsis) bereits die erste Hürde nicht zu überleben: Die drei Wochen ohne Immunabwehr nach der Hochdosis-Chemotherapie. Mir waren alle Aussichten auf ein möglicherweise längeres Leben keine überzeugenden Argumente, wenn es mir im aktuellen Moment nicht so schlecht ging und ich noch andere, weniger aggressive Optionen hatte. Optionen, die im Hinblick auf meine Lebenserwartung womöglich geringer einzuschätzen waren, aber eindeutig eine bessere Lebensqualität erwarten ließen. Das Motto: Lieber ein kürzeres Leben mit der bestmöglichen Lebensqualität, als durch die Hölle zu gehen in der wahrscheinlich falschen Hoffnung, ein bisschen länger zu leben.

Dabei muss unmissverständlich gesagt werden, dass ich keinesfalls auf Therapien verzichtet habe. Ich bin in jedem Fall der Schulmedizin treu geblieben. Nur habe ich nicht unbedingt die Empfehlungen der behandelnden Ärzte be­­folgt. Ich bin jetzt, was die aktuelle Erkrankung betrifft, bei der sechsten Chemotherapie angelangt. Und diese Therapien sind nicht billig. Aber sie sind verträglich und haben mir bald fünf Lebensjahre geschenkt. Offensichtlich eine gute Wahl, auch wenn mein Leben seit der Diagnose alles andere als einfach ist, weil mir nach schweren Rückfällen und erneuten Therapiemisserfolgen die Optionen schwinden.

Im Unwissen, wie viel Zeit mir noch zur Verfügung stehen würde, versuchte ich 2009, Prioritäten zu setzen. Bei einer vollen Praxis, bei der Notwendigkeit, Chemo- und Strahlentherapien in den Tagesablauf reinzuquetschen, im Bewusstsein, dass ich noch einiges aufzuräumen hatte, war ich unter Druck. Unser Sohn war sechzehn Jahre alt. Ich wollte ihm noch so viel mit auf den Weg geben. Die Fragen, die im Raum standen, waren: Falls du noch eine Woche, einen Monat oder ein Jahr zu leben hättest, was würdest du tun? Abgesehen davon, dass ich im ersten Herbst und Winter nach der Diagnose besonders den Lauf der Jahreszeiten beobachtete – es konnte mein letzter Winter sein –, fiel es mir leicht zu sagen, was ich mit einem letzten Jahr machen würde. Ich hatte bereits im Alltag so viel zu tun, dass ich eigentlich gar keine Wahl hatte. Ich habe nun seit mehr als vier Jahren «mein letztes Jahr» vollgestopft mit Projekten, die ich unbedingt erledigen wollte.

Als Erstes habe ich meine Praxis abgebaut. Das war schwierig, wollte ich doch, dass alle Patientinnen und Pa­­tien­ten entweder bei mir selbst die Behandlung abschließen oder in geeignete Hände übergeben werden konnten. Außerdem wollte ich unbedingt den Nachlass meiner El­tern retten. Eine riesige Aufgabe, für die es mehr als drei Jahre mit einer Archivarin brauchte, um die Papiere in Ordnung zu bringen, die russischen Schriften übersetzen und Material digitalisieren zu lassen.2 Ich wollte außerdem ein sozialpsychiatrisches Projekt verfolgen. Das ist mir in Ansätzen gelungen. Ich wollte meine Tagebücher zur Redaktion in geeignete Hände geben. Das bleibt noch un­­erledigt. Auch träumte ich davon, noch einmal zu singen. Dieser Traum wurde in Form der CD «Now and then …» 3 erfüllt.

Und als Letztes blieb etwas im Raum stehen, das vielleicht das Wichtigste ist. Irgendwann packte mich der Gedanke, meine Erfahrungen als Patientin und Ärztin und meine sich daraus ergebenden Überzeugungen insbesondere zu Fragen am Lebensende zu Papier zu bringen.

Reden wir über das Sterben

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