Читать книгу ... oder einfach so! - Kathy Sdao - Страница 10

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Kapitel 1

Die Zügel fest in der Hand

Bis zu einem gewissen Grad ist Tiertraining immer manipulativ. Wir Trainer versuchen, Ereignisse und Umweltreize zu kontrollieren, um eine Verhaltensänderung in unseren Tieren zu erwirken. Die besten Trainer tun dies mit großem Geschick und minimieren zugleich den Druck und Stress, den das Tier während des Lernprozesses empfindet. Weniger gute Trainer setzen physischen und psychologischen Zwang ein, um ihr Tier zum erwünschten Verhalten zu bewegen. Erst kürzlich gestand ich mir ein, dass ich schon immer eine Meisterin im Manipulieren war – auch wenn ich dies vehement zurückwies, als ich in meiner Jugend erstmals so bezeichnet wurde.

Mit sechzehn hatte ich meinen ersten Ferienjob. Ich arbeitete in meinem Heimatort Niagara Falls in New York als Malerin in der örtlichen Hooker-Chemiefabrik. Der Name scheint amüsant – ich trug ein oranges T-Shirt, auf dessen Brust in großen schwarzen Lettern „Hooker“ – das amerikanische Wort für eine Prostituierte – prangte. Hat man hingegen von „Love Canal“ gehört – der Umweltkatastrophe, die nach dem Vorstadtviertel benannt ist, in welchem Hooker Chemical über 20.000 Tonnen Giftmüll begrub – wirkt der Name der Firma eher tragisch als komisch.

Ich war eine von zwölf Jugendlichen, die angestellt waren, um im Laufe des Sommers Gebäude und Chemietanks zu streichen. Mit Ausnahme meiner Eltern arbeiteten die Väter oder Mütter aller Ferienpraktikanten in der Hooker-Fabrik. Der Ferienjob war ein Bonus für langjährige Mitarbeiter. Ich fiel aus dem Rahmen: Mein Vater arbeitete nicht in der Fabrik, sondern in der Stadtverwaltung von Niagara Falls.

Rückblickend ist es erschreckend, wie gefährlich dieser Sommerjob tatsächlich war. Wir trugen Schutzhelme, Stahlkappenschuhe und einen Gürtel, an welchem eine Gasmaske baumelte, die wir im Fall eines Chemieunfalls aufsetzen sollten. Einmal kam ich dem Tod gefährlich nahe, als ich an einigen Arbeitern vorbeiging, die einen Tankwagen füllten. Direkt vor mir platzte ein Schlauch und versprühte eine Fontäne ätzender Chemikalien.

Jeder von uns wurde einem älteren Maler zugeteilt, der uns anlernen und beaufsichtigen sollte – einem Mann mittleren Alters, der bereits viele Jahre an der Fabrik tätig war. Die Arbeiter hatten keine beneidenswerte Aufgabe: Es muss ausgesprochen anstrengend gewesen sein, in dieser gefährlichen Umgebung eine Gruppe ungeschickter Teenager zu beaufsichtigen.

Einen Sommer lang war Vern mein Partner; ein Mann mit harter Schale und weichem Kern. Damals erschien er mir alt; vermutlich war er Mitte vierzig. Zwei Erlebnisse aus jenen Tagen sind mir bis heute lebhaft in Erinnerung geblieben.

Vern heilte eigenhändig meine Spinnenphobie, als wir über eine Woche lang in einer leerstehenden Fabrikhalle arbeiten mussten. Es galt, die äußeren Fensterbretter an jener Seite der Halle zu ersetzen, an der im Zuge eines erbärmlichen PR-Projekts ein Bus mit lokalen Prominenten vorbeifahren sollte. Das Gebäude stand aber nicht wirklich leer, sondern wurde von Spinnen – Tausenden von Spinnen! – bewohnt. Sie huschten über die Wände und über die Decke. (Denken Sie an die Szene im Indiana-Jones-Film Jäger des verlorenen Schatzes und stellen Sie sich vor, all die Schlangen in der Quelle der Seelen wären Spinnen.) Nachdem der Boden der Halle komplett mit 200-Liter-Fässern bedeckt war, mussten Vern und ich auf die Fässer klettern, um die Fensterbretter zu erreichen. Unsere Köpfe streiften die Spinnen an der Decke. Ich stopfte meine langen Haare unter den Schutzhelm, fürchtete aber trotzdem, dass ein Insekt sich in einer hervorquellenden Locke verfangen oder in den Kragen meiner Overalls fallen könnte.

An unserem ersten Einsatztag spähte ich in das baufällige Gebäude, sah die wütenden Horden von Spinnen und erstarrte. Panik stieg in mir hoch; meine Füße waren schwer wie Blei. Und doch wusste ich, dass ich von den Männern verspottet würde – und wahrscheinlich auch gefeuert – wenn ich mich weigern würde, hier zu arbeiten.

Vern war meine Rettung. Er begann einfach zu reden, erzählte Geschichten aus seinem Leben und stellte mir Fragen. Wie üblich konnte ich der Versuchung, zu sprechen – vor allem über mich selbst – nicht widerstehen. Vern hielt unsere Gespräche in Gang und die Themen kurzweilig. Indem er mich in ein stetes Geplänkel verwickelte, hielt er mein panisches limbisches System im Zaum. Ich brachte die Woche hinter mich, auch wenn ich mit Sicherheit mehr Glasscheiben kaputt machte, als ich Fensterbretter reparierte, weil ich jeder Spinne, die ich entdeckte, mit dem Hammer zu Leibe rückte. Unser Einsatz in der Fabrikhalle hatte einzig den Zweck gehabt, den Schein zu wahren. Nur kurze Zeit später wurde das Gebäude abgerissen, und auch meine Angst vor Spinnen fand hier ihr Ende.

Meine zweite Erinnerung an Vern hat mit einer Bemerkung zu tun, die er machte, während wir in einem Firmen-LKW zu einem neuen Einsatzort fuhren. Er mache sich Sorgen um mich, sagte er aus dem Nichts heraus, weil ich so manipulativ sei. Er fürchte, dass meine Kontrollsucht mir Schwierigkeiten bereiten würde. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, wie er auf diese Idee kam. Rückblickend nehme ich an, dass sie einer meiner Geschichten über einen widerspenstigen Freund zu verdanken war. Ich war schockiert und beleidigt. Ich, manipulativ? Nie im Leben! Was bildete er sich ein, sich in mein Leben einzumischen? Und doch war Verns Beobachtung so treffend, dass sie bis heute der einzige Satz Verns ist, an den ich mich noch jetzt, viele Jahre später, wortgetreu erinnere. Er schien vorauszuahnen, dass ich viele Jahre und Tränen darauf vergeuden würde, jeden und alles in meinem Leben zu kontrollieren. Was er jedoch nicht wissen konnte war, dass Jahre später das Tiertraining nicht nur mein täglich Brot, sondern auch zur täglichen Arbeit an mir selbst werden und mir letztendlich dabei helfen würde, meine Kontrollsucht abzulegen und durch etwas anderes, Stärkeres zu ersetzen.

Verns Einsicht war der erste Hinweis darauf, dass der Weg zum Glück nicht darin lag, immer größere Kontrolle über die Handlungen anderer zu gewinnen. Ich ließ seine Worte jedoch links liegen und verbrachte meine Zwanziger stattdessen damit, mein manipulatives Geschick zu schulen, indem ich die Menschen – und später die Tiere – rund um mich in meinem Sinne zu beeinflussen suchte.

Ich glaube, das Leben neigt dazu, Falschheiten in Form von Leid ans Licht zu bringen. Es führt im wahrsten Sinne des Wortes zur Desillusion: Illusionen werden zerstört. Zwei überraschende, demütigende Scheidungen – eine im Alter von 25 und die andere im Alter von 40 – rissen mich aus meiner behaglichen Routine. Beide Male verzweifelte ich. Ich stolperte in die Arme von Freunden und Familie und weinte mich durch stundenlange Therapiesitzungen. Irgendwann zwischen den beiden Trennungen begann ich, wieder zur Kirche zu gehen. Ich war römisch-katholisch erzogen worden, hatte jedoch aufgehört, den Gottesdienst zu besuchen, als ich von zuhause auszog und zu studieren begann. Als ich aber 1991 nach Tacoma kam, um am Point Defiance Zoo & Aquarium zu arbeiten, erwähnte ein Kollege eine andere Art katholischer Kirche hier in der Stadt. Eines Sonntags entschied ich spontan, eine Messe der St.-Leo-Kirche (eine Kirche der Pfingstbewegung, wie sich herausstellte) zu besuchen. In dieser wunderbaren, herzlichen Jesuitengemeinde sollte ich mein zukünftiges spirituelles Zuhause finden.

Die Priester und Gemeindemitglieder St. Leos gehören zu meinen einflussreichsten Lehrern. Es dauerte nur zwanzig predigt- und gebetsreiche Jahre, bis ich zu verstehen begann, dass ich mich selbst nicht so wichtig nehmen durfte. Ich bemühte mich, meinen ausgeprägten Narzissmus und meine Neurosen hinter mir zu lassen. Den Großteil meines Lebens über hatte mein Ego mich davon überzeugt, dass ich immer und überall die Zügel in der Hand halten müsse – nicht auszudenken, was passieren könnte, würde ich die Kontrolle abgeben! Mein Ego war auch der Meinung, dass ich mir keine Fehler erlauben dürfe – besser gesagt, dass ich perfekt sein müsse –, um die Wertschätzung meiner Mitmenschen und die Liebe Gottes zu verdienen. Ich entwickelte verschiedene Wertigkeitshierarchien, um zu bestimmen, wer aufgrund guter Taten geliebt zu werden verdiente. Im Versuch, selbst perfekt zu sein und andere subtil zu beeinflussen, zu kontrollieren und ihr Verhalten zu überwachen, hatte ich mich immer an strenge Verbote und unbiegsame Regeln gehalten.

Glücklicherweise – für mich selbst und für die Menschen in meinem Umfeld – lernte ich im Laufe der Zeit, etwas weniger zu urteilen, etwas freier zu atmen und mein nach Überlegenheit und schwarz-weißen Grenzen schreiendes Ego zu besänftigen. Ich stellte fest, dass Gottes Liebe keine Belohnung für gutes Verhalten darstellt. Vielmehr liebt Gott uns darum, weil es seine Natur ist, zu lieben. Bruder Richard Rohr, der brillante Franziskanerpriester, der das Center for Action & Contemplation in Albuquerque in New Mexico leitet, drückt dies wunderschön aus: „Die göttliche Liebe wird nicht davon bestimmt, ob das Objekt ihrer Liebe diese verdient, sondern davon, dass deren Subjekt immer und ausschließlich Liebe ist. Gott liebt uns nicht, wenn wir uns ändern; Gott liebt uns, damit wir uns ändern können.“ Jesus predigt eine radikale Gesellschaftsordnung auf Basis von Gnade anstelle von Verdienst. Diese bedingungslose Liebe für in Jesus inkarnierte Christen bildet heute den Kern meines tiefsten Glaubens.

Mein spiritueller Sinneswandel führte jedoch zu einem Dilemma: Wie konnte ich einerseits aufhören, alle kontrollieren zu wollen, und andererseits weiter als Tiertrainerin und Verhaltensberaterin arbeiten? „Bedingungslose Liebe“ ist kein Trainingsplan.

Ein wichtiger Schritt zur Lösung dieses Dilemmas besteht darin, im Training auf den Einsatz von Einschüchterung und physische oder seelische Schmerzen zu verzichten. Seit einigen Jahrzehnten arbeiten auf der ganzen Welt mehr und mehr Trainer auf der Basis positiver Verstärkung. Diese weniger auf Zwang beruhenden Ansätze (zum Beispiel Clickertraining, Locken mit Futter, Desensibilisierung und Gegenkonditionierung) stellen einen Quantensprung in Trainingsraffinesse und Menschlichkeit dar und stehen im Gegensatz zu altmodischen, militärischen und strafbasierten Techniken. Als ehemalige Meeressäuger-Trainerin fiel es mir leicht, zwangsfreie Methoden anzuwenden und an meine zwei- und vierbeinigen Schüler weiterzugeben. Schließlich wurde im Training wilder Tiere – im Gegensatz zum Hundetraining – bereits früher kaum oder keine Zeit darauf vergeudet, über Starkzwang versus Verstärkung zu streiten.

Als mein spirituelles Wachstum fortschritt, ertappte ich mich jedoch immer wieder dabei, an einem Lehrsatz zu zweifeln, der in der Philosophie der positiven Verstärkung (und auch anderen Trainingsmethoden) allgegenwärtig ist: die Idee, dass es im Leben nichts umsonst gäbe und nicht nur wir, sondern auch unsere Hunde sich jedes noch so kleine Privileg erst erarbeiten müssten. Dieser Lehrsatz steht im Gegensatz zu dem Wunder, welches den Kern meines Glaubens bildet, nämlich dass ich von unzähligen unverdienten Geschenken eines bedingungslos liebenden Gottes umgeben bin. Eine der beiden Überzeugungen – „Im Leben gibt es nichts umsonst; auch nicht für Hunde!“ oder „Gnade ist für alle Geschöpfe reichlich vorhanden!“ – musste weichen. Allerdings musste ich erst Nick adoptieren, um dies zu erkennen.


... oder einfach so!

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