Читать книгу ... oder einfach so! - Kathy Sdao - Страница 11
ОглавлениеEine Verkettung unglücklicher Umstände führte dazu, dass ich einen bisherigen Grundsatz meines Trainingsprogramms – den Lehrsatz, dass Hunde nichts ohne Gegenleistung erhalten dürften – überdachte. Das erste und bedeutendste dieser Ereignisse? Nick, mein Hund, biss zwei Freundinnen.
Nick, ein mittelgroßer Hütehundmischling, war unerwartet bei mir eingezogen. Bevor wir einander kennenlernten, hatte er einen Mann gebissen (ohne diesen zu verletzen), weshalb er aus der Assistenzhundeschule entlassen wurde. Er hatte den Wesenstest eindeutig nicht bestanden! Der Leiterin des Assistenzhundeprogramms bat mich, Nicks Verhalten zu evaluieren, um festzustellen, ob er vermittelt werden könne, ohne eine Gefahr für seine potenziell neuen Besitzer darzustellen.
Zum ersten Mal begegnete ich Nick in seinem bisherigen, sehr eingeschränkten Zuhause (einem nahegelegenen Frauengefängnis)1. Es war offensichtlich, wie sehr er sich fürchtete. Immer wieder schnappte er nach mir und versuchte, mich anzuspringen. Ich konnte ihm nicht nahe genug kommen, um ihn zu berühren.
Obwohl einer der Gefängnisaufseher bemerkte, dass Nick „der psychopathischste Hund sei, der ihm je begegnet war“, bat ich die Leiterin, Nick im Freien sehen zu dürfen. Die einzige Gelegenheit hierzu ergab sich später in derselben Woche, um 10:30 Uhr morgens, auf einer großen Wiese zwischen dem Gefängnis und der Tierklinik, in welcher Nick um 11:00 Uhr eingeschläfert werden sollte.
Während dieser zweiten Evaluierung unter freiem Himmel stellte ich fest, dass Nick zwar noch nervös und ängstlich war, aber doch ein gesunder, normaler Hund in ihm steckte. Er war im wahrsten Sinne des Wortes dem Tod von der Schippe gesprungen. Meine raffinierte Kollegin stellte fest: „Das sind tolle Neuigkeiten! Jetzt brauchen wir eine erfahrene Pflegestelle für ihn. Wie finden wir die?“ Nachdem mir keine Alternative einfiel, erklärte ich mich bereit, Nick selbst zu übernehmen – für zwei Monate. Sechzig Tage und kein bisschen länger. „Ich markiere mir den letzten Tag in meinem Kalender“, warnte ich sie. „Bis dahin müssen Sie ein dauerhaftes Zuhause für ihn gefunden haben. Können Sie garantieren, dass Sie einen Platz für ihn finden, wenn ich ein paar Wochen mit ihm arbeite?“ Sie versprach, Nick ein neues Zuhause zu suchen.
Ich konnte Nick von Anfang an nicht leiden. Erst drei Wochen zuvor war mein Seelenhund, ein unglaublich süßer, fledermausohriger alter Terrier namens Gnat, in meinen Armen an Herzversagen gestorben. Gnat war mein Ein und Alles, und ich war noch nicht bereit, einen neuen Hund in meine Familie aufzunehmen – nicht einmal auf Zeit. Abgesehen davon war mir Nick ganz einfach unsympathisch. Er pinkelte ins Haus, zerbiss meine Bücher und duckte sich und schnappte, wann immer ein Mann auf ihn zuging. Sein Fell war glanzlos und er verlor büschelweise Haare. Auch an Kuscheleinheiten hatte er kein Interesse – ich konnte ihn nicht einmal streicheln. Das Schlimmste war, dass er seine Spielzeuge und die Futterschüssel verteidigte. Er knurrte, wann immer sich jemand in die Nähe seiner Schätze wagte. Nick begann auch, mich zu verteidigen: Er bellte und knurrte, wenn sich meine Hündin Effie auf mich zubewegte.
Als Nick im Januar bei mir einzog, begann ich sogleich, am offensichtlichsten Auslöser seiner Aggression zu arbeiten: Männerbegegnungen. Ich sah die Aufgabe als wissenschaftliches Projekt. Nick und ich suchten öffentliche Orte auf, an denen in einigem Abstand Männer vorbeiliefen. Außerdem bat ich eine Reihe von Freunden, mir bei Nicks Desensibilisierung zu helfen. Ich genoss es, zu sehen, wie sich sein Verhalten nach und nach besserte und hatte entgegen meinen Erwartungen Spaß am Training.
Noch mehr überraschte ich mich nach etwa sechs gemeinsamen Wochen selbst mit der Entscheidung, Nick zu behalten. Ich traf diese Entscheidung auf einem Oxytocin-High: In der Nacht zuvor war ich zu faul gewesen, um Nicks Boxentür zu schließen. Am nächsten Morgen weckte er mich, indem er meine Nasenspitze abschleckte – ein einziges Mal, ganz bewusst und sanft. Dann sah er mir in die Augen. Seine sanften braunen Augen brachten mein Herz zum Schmelzen, und Nick wurde von einem Trainingsprojekt zu einem Für-immer-Hund.
Nach einigen Monaten kam ich sogar zu dem Schluss, dass Nick bereit war, während meiner Trainingsgruppen als Demohund zu arbeiten. Ich passte natürlich gut auf, nutze aber auch die zahlreichen Gelegenheiten, während der Kurse an Nicks Gegenkonditionierung zu arbeiten. Das zusätzliche Training zeichnete sich in seinem Verhalten ab: Sechs Monate später geriet er jedes Mal, wenn ein Mann auf ihn zukam, dermaßen aus dem Häuschen, dass seine Begrüßungsrituale überschwänglich und albern wurden. Er wedelte mit dem gesamten Körper und drehte sich dabei immer wieder nach mir um, während er sich einem Mann näherte und erwartete, dass es Steak regnen würde wie bereits Hunderte Male zuvor. Nun musste ich zwar seine überschwänglichen Begrüßungen in Zaum halten; dies war jedoch eindeutig ein großer Fortschritt gegenüber seinem früheren Anspringen und Schnappen.
Aggressionsrückfälle
Nick ist bis heute – viele Jahre später – mein Hund. Ich liebe ihn auf eine Art und Weise, die ich weder vollständig verstehe noch in Frage stelle. Nick war einer meiner besten Lehrer. Bevor wir einander begegneten, hatte ich mit etwa hundert Klienten und ihren aggressiven Hunden gearbeitet. Ich wusste, wie man einen Plan zur Verhaltensmodifikation aufstellt und gab regelmäßig Ratschläge und Tipps zu Training und Kontrolle aggressiver Hunde. Das unvergleichlich beschämende Gefühl, welches einen erfüllt, wenn der eigene Hund jemanden beißt – eine Mischung aus Scham, Traurigkeit, Schrecken und Wut –, war mir jedoch nicht vertraut. Nie zuvor hatte ich etwas Derartiges gefühlt. Einerseits war ich wütend, andererseits brach mir das Herz. Wenn heute ein Kunde zu mir sagt, „Sie wissen nicht, wie es ist, einen aggressiven Hund zu haben“, versichere ich ihm, dass ich genau weiß, was er meint.
Ich war stolz auf meinen Erfolg mit Nick – bis zum Dezember. Dann schockierte er mich damit, dass er zwei Mal – beide Male in meinem Wohnzimmer – eine Freundin in den Fuß biss. Die Bisse waren gehemmt; niemand wurde verletzt. Den ersten Vorfall sah ich als einmaligen unglücklichen Zufall und nahm ihn nicht weiter ernst. Als es einige Wochen später jedoch zu einem weiteren Biss gegenüber einer anderen Freundin kam, verzweifelte ich. Weil ich nicht verstand, was passiert war, fragte ich mehrere Kolleginnen um Rat.
Erst wandte ich mich an eine Trainerin und langjährige Freundin, die ich zutiefst respektiere. Sie war meine Mentorin gewesen, als ich beschloss, fortan Hunde anstatt großer nasser Tiere im Zoo zu trainieren, teilte ihr Wissen großzügig mit mir und ging verständnisvoll damit um, dass ich arroganterweise glaubte, Hunde zu trainieren wäre für jemanden, der mit Walen und Walrossen gearbeitet hatte, ein Kinderspiel. Auch war sie eine jener Kolleginnen, die mir zu erkennen halfen, dass ich noch viel zum Thema Hundeverhalten lernen musste. Jederzeit durfte ich von ihren Trainingstechniken, ihrer Kursgestaltung und ihrem Geschäftsmodell lernen. Nun wandte ich mich also an sie, um Rat bezüglich Nicks Aggression einzuholen. Unser Gespräch sollte über meine gesamte Trainingsphilosophie hinweg Wellen schlagen.
Meine Freundin schlug vor, mich zum Mittagessen zu besuchen und bei dieser Gelegenheit über Nicks Verhalten zu sprechen. Das Meeting begann wie eine Sitcom-Folge. Ich hatte nicht oft Besuch. Die Fliegengittertür in meinem Eingangsbereich war kaputt, weshalb sie aus dem Rahmen und meiner Freundin entgegen fiel, als Nick in seiner Aufregung daran hochsprang. Kein vielversprechender Beginn! Dies war natürlich mein Fehler – ich hätte Nick nicht zum Eingang laufen lassen sollen. Ich rief ihn zu mir und war erleichtert, dass er weder bellte noch knurrte, sondern sich über unsere Besucherin zu freuen schien.
Meine Freundin hatte Mittagessen für uns mitgebracht. Wir packten das Essen am Couchtisch im Wohnzimmer aus. Nick war es nicht gewohnt, verlockende Köstlichkeiten auf diesem niedrigen Tisch zu sehen. Er tat das Naheliegende und kostete bei der ersten Gelegenheit aus meiner Suppenschüssel. Dieser Fauxpas war unhöflich, aber nicht weiter überraschend. Langsam wurde mir der Eindruck, den ich gegenüber meiner geschätzten Kollegin erwecken musste, ein wenig peinlich; jedoch kam ich nicht auf die Idee, dass Nicks Mangel an Tischmanieren mit seiner Aggression zusammenhängen könnte. Nick war ganz einfach lästig. Er war weder aggressiv noch dominant, sondern zeigte, dass ich ihm nie beigebracht hatte, wie er sich gegenüber Besuchern verhalten sollte – das ging zu 100% auf meine Kappe.
Während wir es uns zum Essen auf der Couch gemütlich machten, sprang Nick in meinen Lehnsessel, um neben mir zu sitzen. Er sah glücklich aus und hoffte, dass etwas für ihn abfallen würde. Meine Kollegin saß uns gegenüber und stand gerade im Begriff, mir ihre Vorschläge zu unterbreiten, wie ich Nick helfen könne. Nie hätte ich eine Verbindung zwischen den Bissen und Nicks Hochspringen an der Tür, dem Stibitzen meiner Suppe oder Nicks Platz am Lehnsessel vermutet – bis sie sagte: „Genau das ist dein Problem! Nick ist verwöhnt; er hat zu viele Freiheiten. Er sollte an der Leine sein und neben dir am Boden liegen. Warum darf er auf den Stuhl?“
Was?! Meine Nackenhaare sträubten sich und ich ging in die Defensive. Die Frage kam unerwartet. Ich stammelte eine unzusammenhängende Antwort, während ich versuchte, meinen Ärger hinunterzuschlucken. Ich konnte mich unmöglich damit abfinden, dass DAS der Grund für Nicks Bisse sein sollte. Rückblickend bin ich mir sicher, dass meine Freundin mir noch viele weitere Ratschläge gab, die aber gar nicht mehr zu mir durchdrangen.
Warum brachte mich ihr Rat dermaßen aus dem Konzept? Meine Freundin hatte mein Weltbild ins Wanken gebracht. Sie trug keine Schuld – vielmehr machte sie mir ein unbezahlbares Geschenk: Sie eröffnete mir eine neue Perspektive.
Warum war ich eigentlich so aufgebracht? Bei ihren Kommentaren handelte es sich um genau jene Ratschläge, die ich im Laufe der Jahre selbst zahlreichen Kunden mit auf den Weg gegeben hatte. Ich hatte sie zuhause besucht und ihre Situation, die der meinigen zum Verwechseln ähnelte, ebenso analysiert wie meine Kollegin meine Beziehung zu Nick. Jetzt, wo ich denselben Rat erhielt, anstatt ihn zu geben, schien er mir kein bisschen stimmig. Ehrlich gesagt war ich begeistert, dass Nick in meinem Sessel saß: Er wirkte entspannt und kein bisschen aggressiv! Seinen nicht vorhandenen Tischmanieren zum Trotz war ich stolz auf ihn! Meine Freundin hingegen meinte, dass das Hochspringen an der Tür, das Kosten meiner Suppe und Nicks Platz auf meinem Stuhl der Grund für seiner Aggression gegenüber Besuchern war! Ich schüttelte den Kopf. Hing Nicks Anspringen von Gästen und Nach-Füßen-Schnappen tatsächlich mit seinen unverdienten Privilegien zusammen – mit Dingen wie der Möglichkeit, auf der Couch und am Bett zu liegen oder von meinem Essen zu kosten, ohne erst etwas dafür tun zu müssen? Bald erkannte ich, dass ich mich nicht über meine Freundin ärgerte – schließlich hatte sie ein großes Herz und bemühte sich sehr, uns zu helfen! –, sondern von der Erkenntnis irritiert war, meinen Kundinnen und Kunden etwas geraten zu haben, was keinen Sinn zu machen schien.
Wenig später unterhielt ich mich mit einer anderen Kollegin – einer Tierärztin, die sich auf Verhaltensberatung spezialisiert hatte – über Nicks Aggression. Sie wusste nicht, was ich bereits erfahren oder versucht hatte, und fragte, ob ich sicher sei, alle potenziellen Auslöser Nicks gegenkonditioniert zu haben: „Gibt es in den Situationen, in denen er gebissen hat, ungewöhnliche Reize?“ Gemeinsam analysierten wir den Kontext der Beißvorfälle und entdeckten mehrere mögliche Faktoren. Besonders fiel uns auf, dass beide Freundinnen Wein getrunken hatten, bevor sie gebissen wurden. Sie waren nicht betrunken, hatten aber jeweils ein Glas intus. Nicks gehemmte Bisse traten nicht auf, als meine Freunde ankamen, sondern erst, nachdem sie eine Zeitlang hier gewesen waren, etwas Wein getrunken hatten und dann über den neben ihnen am Boden liegenden Hund hinweg stiegen. War es möglich, dass der Geruch von Alkohol an einem Menschen Nicks Bisse provozierte? Bevor Nick in das Trainingsprogramm des Gefängnisses aufgenommen wurde, hatte er als Streuner auf der Straße gelebt. Hatte er negative Erfahrungen mit Menschen gemacht, welche nach Alkohol rochen? Bis meine Tierärztin mich auf diese Möglichkeit hinwies, hatte ich nicht daran gedacht, dass auch für Menschen nicht wahrnehmbare Gerüche Verhalten auslösen können. Ihre Vermutung, dass der Alkoholgeruch der Schlüssel zu Nicks Problemen sein könne, ermöglichte es mir, seine Gegenkonditionierung weiter auszubauen. Nachdem die entsprechenden Trainingseinheiten Alkohol erforderten, waren sie bei meinen Freunden sehr beliebt!
Meine Kollegin wies mich auf zwei weitere Faktoren hin: 1) Beide Beißvorfälle waren im Wohnzimmer aufgetreten – einem Raum, in dem ich nur selten Besucher empfing. 2) Das Licht im Wohnzimmer war schummrig. Seither fällt mir vermehrt auf, dass auch aggressive Vorfälle unter den Hunden meiner Klienten verstärkt während der Dämmerung oder zu einem Zeitpunkt auftreten, zu dem es draußen dunkel ist, im Haus jedoch kein Licht eingeschaltet wurde.
Ich arbeitete daran, Nicks Assoziationen zu diesen Auslösern zu ändern, und er hat seit sieben Jahren niemanden mehr gebissen. Was ich abgesehen von der Freude, mein Leben mit einem liebenswerten und in den meisten Situationen selbstbewussten Hund zu teilen, an dieser Erfahrung am meisten schätze, ist, dass sie mir zwei verschiedene Modelle im Umgang mit unerwünschten bzw. gefährlichen Verhaltensweisen aufzeigte: Eines basiert auf Kontrolle und Rationierung von Privilegien und Freiheiten; das andere auf dem Gegenkonditionieren von Auslösern unerwünschten Verhaltens und dem Training von Alternativverhalten. Während die beiden Modelle einander nicht ausschließen, setzen sie doch ganz andere Schwerpunkte.
Ichthogramm
Nachdem ich in einem Moment der Hilflosigkeit meinen eigenen Standard-Ratschlag erhalten und diesen nicht als hilfreich empfunden hatte, ging es mir nicht gut. Ich musste meine Trainingstipps überdenken! Also beschloss ich, mich selbst und meinen Umgang mit meinen Hunden eine Woche lang genau zu beobachten. Die nächsten sieben Tagen über schrieb ich mit, welche Dinge Effie und Nick im Alltag „umsonst“ bzw. ohne Gegenleistung erhielten. Im Grunde stellte ich eine Art Ethogramm, das heißt eine quantitative Beschreibung der Verhaltensweisen eines Tieres, über mich selbst auf: Wie und wann ließ ich meinen Hunden Verstärker zukommen? Meine Beobachtungen ergaben, dass ich im Sinne einer „Ohne Fleiß kein Preis“-Philosophie im Training meiner Hunde jämmerlich versagte. Sie erhielten täglich jede Menge Liebe von mir, ohne sich diese erst verdienen zu müssen. Offenbar überschüttete ich meine Kunden seit Jahren mit Ratschlägen, an die ich mich selbst nicht hielt!
Widersprachen die Resultate meines Ethogramms dem „Ohne Fleiß kein Preis“-Konzept tatsächlich, oder waren meine eigenen Hunde einfach alt und erfahren genug, um die Regeln des Zusammenlebens lockerer zu sehen? Waren Effie und Nick an einem Punkt angekommen, an dem sie sich auch dann richtig verhielten, wenn sie sich nicht alle Ressourcen erst verdienen mussten? (Die Definition von „richtig verhalten“ liegt im Auge des Betrachters. Mir persönlich ist es wichtig, dass das Verhalten meiner Hunde mir selten auf die Nerven geht oder mir Sorgen bereitet. Anderer würden wahrscheinlich meinen, dass Effie und Nick noch viel zu lernen hätten.) War es also möglich, dass meine Hunde die Notwendigkeit, für jedes Privileg erst zu arbeiten, hinter sich gelassen hatten? Durchaus, ja. In diesem Fall sollten wir das „Ohne Fleiß kein Preis“-Prinzip jedoch als Übergangslösung definieren und klare Regeln dafür aufstellen, ab wann darauf verzichtet werden kann.
Oder hatte ich es als Tiertrainerin und Verhaltensberaterin – im Gegensatz zu Nullachtfünfzehn-Hundehaltern – einfach nicht nötig, mich an dieses Trainingsprinzip zu halten? Nein. Ich kann mich nicht einfach über ein grundlegendes Prinzip des Zusammenlebens hinwegsetzen, während meine Kunden – „gewöhnliche Hundehalter“ (eine abwertende Bezeichnung, die wir vermeiden sollten!) sich daran halten müssen. Diese Doppelmoral impliziert, dass ich mir aufgrund meines größeren Wissens Dinge erlauben könne, die dem Durchschnittshundehalter nicht möglich sind. Tatsächlich aber haben weder mein Wissen noch meine Erfahrung Auswirkungen darauf, wie Verhalten modifiziert werden kann. Ein gutes Trainingsprotokoll gilt für alle Hunde gleichermaßen – auch wenn sich manche Menschen bei dessen Umsetzung leichter tun als andere. Es wäre nicht fair, zu sagen, dass ich (eine Expertin) meinen Hunden jederzeit alles erlauben darf, während Sie (ein Laie) immer erst etwas von Ihrem Hund verlangen müssen.
Nachdem ich mich eine Woche lang selbst beobachtet hatte, erzählte ich einer langjährigen Kollegin – einer erfolgreichen und erfahrenen Trainerin –, was ich herausgefunden hatte: Meine Hunde erhielten jede Menge Streicheleinheiten, Küsse, Aufmerksamkeit und Futter, ohne erst einen Befehl auszuführen. Sie grinste: „Klingt, als hättest du ein neues Trainingsprogramm erfunden: freie Liebe!“
Der Trainer als Gefängniswärter
Das folgende Erlebnis hat auf den ersten Blick wenig mit meiner Trainingsphilosophie zu tun. Jedoch trug es sich zur selben Zeit zu und gab mir das Gefühl, das Universum wolle unbedingt, dass ich das „Ohne Fleiß kein Preis“-Konzept gründlich überdenke. Im Juni 2004 hörte ich im Radio die Nachrichten der BBC: „Die US-amerikanische Kommandantin im Mittelpunkt des irakischen Gefangenenskandals sagt, sie hätte den Auftrag gehabt, die Gefangenen wie Hunde zu behandeln. Brigadier General Janis Karpinski, die Leiterin der Militärpolizeieinheit Abu Ghraibs und weiterer Gefängnisse, sagte in einem BBC-Interview, dass man sie zum Sündenbock für den Misshandlungsbefehl ihrer Vorgesetzten mache. Major General Geoffrey Miller, der Leiter der irakischen Gefängnisse, dem Guantanamo Bay unterstellt war, habe sie in Baghdad besucht und gesagt: „In Guantanamo haben wir gelernt, dass die Gefangenen sich alles verdienen müssen. Sie sind wie Hunde. Kommen sie auf den Gedanken, mehr als ein Hund zu sein, haben Sie die Kontrolle verloren!’“
Dieser Nachrichtenbericht ist in vielerlei Hinsicht verstörend. Was mir jedoch besonders auffiel, war Major General Millers selbstverständliche Überzeugung, dass Hunde „sich alles verdienen müssen“ und die Annahme, dass sich daraus ein geeignetes Modell für den Umgang mit Häftlingen ableiten ließe. Ich dachte an die Trainingspläne, die ich im Laufe der letzten Jahre an meine Kunden verteilt hatte. Hatte ich damit etwa selbst die altmodische Überzeugung weitergegeben, wie potenziell problematische Hunde und Menschen kontrolliert werden sollten? Das will ich meinen Kunden oder der Gesellschaft im Allgemeinen definitiv nicht mit auf den Weg geben! Die strenge, auf Zwang basierende Beziehung eines Gefängnisaufsehers zu den Insassen ist das Gegenteil der Freude, der Liebe und des Vertrauens, die ich mir zwischen Mensch und Hund wünsche! Beachten Sie auch, welche Annahme zwischen den Zeilen des Zitats von Major General Miller mitschwingt: Würden die Häftlinge nicht in jeder Hinsicht streng kontrolliert und müssten sich jedes Privileg (auf eine nicht näher definierte Art) verdienen, so würde Chaos ausbrechen.
Bedingungslose Liebe?
Ein weiterer Strang im Geflecht meiner Erfahrungen und Gedanken jener Monate sollte dazu führen, dass ich einen bisherigen Grundpfeiler meiner Trainingsphilosophie endgültig über Bord warf: Liebe, die man sich erst verdienen muss, widerspricht meinen tiefsten, unumstöß-lichen Überzeugungen. Liebe ist ein Geschenk, eine Gabe. Sie hat kein Preisschild und geht weit über unseren Verstand und die Buchhaltung erwünschten und unerwünschten Verhaltens hinaus, welche allen auf Belohnungen beruhenden Systemen zugrunde liegt.
Diese tiefe, grundlegende Überzeugung erwuchs aus der langsamen Transformation meines Herzens und meines Weltbilds. Zu verdanken habe ich sie zwanzig Jahren Predigten der prophetischen und poetischen Jesuitenpriester meiner Gemeinde. Mich fasziniert die simple Wahrheit, die mir viele Jahre des Hörens weiser Prediger, Gebete und die Teilnahme an SEEL (der neunmonatigen Exerzitien der St.-Ignatius-Loyola-Gemeinde) zu erkennen gaben: Wertvoll zu sein hat nicht das Geringste damit zu tun, Liebe zu „verdienen“.
Ich kann Gottes Liebe genauso wenig durch gutes Verhalten gewinnen wie ich sie durch schlechtes Verhalten verlieren kann: Gott liebt mich darum, weil es Gottes Natur ist, zu lieben. Ein weiteres Zitat von Bruder Richard Rohr: „Alles, was Gott gibt, erfahren wir als unverdiente Gnade und niemals als Lohn, Verdienstabzeichen oder Belohnung. Fühlt sich etwas so an, als hätten wir es verdient, so kommt es nicht von Gott und führt auch nicht zu Wachstum von Herz, Verstand oder Seele.“
Ich verbrachte hunderte Sonntagvormittage in der vierten Kirchenreihe links – und irgendwann konnte ich meine in der Kindheit erworbene Vorstellung von Gott nicht länger aufrechterhalten. Gott war kein Aufseher, der in seiner Allmacht und Allwissenheit über jede meiner Bewegungen Buch führte! Er zählte nicht all meine Fehler und kalkulierte, ob ich es wert war, geliebt zu werden!
Ich war also zu der Überzeugung gelangt, dass wir Menschen von Gott ganz ohne Gegenleistung geliebt werden – ganz gleich, ob wir uns gut, schlecht oder gleichgültig verhalten. Wie ließ sich das damit vereinbaren, Menschen zu lehren, dass sich ihre Haustiere Liebe und alle anderen guten Dinge im Leben verdienen müssten? Der Widerspruch war deutlich.
Ich versuchte auf verschiedene Art und Weise, diesen kognitiv aufzulösen. Erst ging ich davon aus, dass das Prinzip der bedingungslosen Liebe nur für Menschen gelte: Ist Gottes Gnade auf uns Menschen beschränkt, so müssen wir, wenn auch wir Gottes Modell der bedingungslosen Liebe leben wollen, nur unsere Mitmenschen berücksichtigen.
Eine Zeitlang gab ich mich mit dieser Erklärung zufrieden. Dann musste ich zugeben, dass sie all meinen Überzeugungen zu immanentem Wert und Würde und aller Geschöpfe widersprach. Vielleicht hat Gott uns tatsächlich in seinem Ebenbild geschaffen – aber wir haben kein Monopol auf die heilige Verkörperung der Seele. Ich habe mein gesamtes erwachsenes Leben in tiefer Verbundenheit mit den verschiedensten Tieren verbracht – Hunden und Delfinen, Walen und Walrossen. Ich schätze sie als Zeichen Gottes unermesslicher Liebe für uns Menschen und bin dankbar, die Tiere unter meinen besten spirituellen Lehrern zu wissen. Liebt uns der Schöpfer unabhängig von unseren Taten, so nehme ich an, dass dieselbe Gnade allen Geschöpfen zuteil wird.
Mein erster Versuch, die kognitive und spirituelle Dissonanz aufzulösen – die Erklärung, dass bedingungslose Liebe nur für Menschen gelte – fühlte sich zutiefst falsch an.
Ich stellte eine alternative Theorie auf: Was, wenn wir beschlössen, unseren Hund bedingungslos zu lieben, ihm aber trotzdem keine unverdienten Belohnungen gäben? Konnten wir unsere Tiere auf einer abstrakten Ebene lieben, uns in der Praxis aber dennoch vom „Ohne Fleiß kein Preis“-Prinzip leiten lassen? Ich bin mir sicher, dass es sich für die meisten Menschen tatsächlich so verhält. Sie lieben ihre Hunde, haben aber zugleich das Bedürfnis, sich an die Regeln und Strukturen einer Philosophie zu halten, in welcher Hunde sich den Ausdruck unserer Zuneigung verdienen müssen.
Dieser Ansatz gefällt mir in der Theorie allerding besser als in der Praxis. Eine Weile gab ich mich mit dieser Erklärung zufrieden. Dann musste ich einsehen, dass Liebe sich in Taten zeigt, nicht bloß in der inneren Einstellung. Zu lieben ist keine abstrakte Idee, sondern ein Verb. Wer liebt, hat nicht nur entsprechende Absichten, sondern verleiht diesen Ausdruck, zeigt seine Liebe und verhält sich liebevoll. Was ich gegenüber meinem Hund oder anderen Geschöpfen (auch Ehemännern!) empfinde, ist nichtig, wenn ich mein Gegenüber zwanghaft kontrollieren will.
Haben Sie schon einmal eine Situation erlebt, in der die beste Lösung darin bestand, jemandem Liebe zu verweigern? Denken Sie an die schönste Beziehung, die Sie je hatten. Haben Sie über die Fehler und Verdienste des anderen Buch geführt? Gute Beziehungen sagen nicht: „Was gibst du mir im Gegenzug für mein Geschenk?“ oder „Tut mir leid, aber heute verdienst du mein Lächeln, meine Berührung, meine Aufmerksamkeit nicht!“ Starke, tief befriedigende Beziehungen sind emotional viel offener.
Spontaneität, Großzügigkeit und die pure Freude des Zusammenseins mit Tieren vertragen sich nicht mit der Einstellung, dass Hunde nichts umsonst bekommen dürfen. Die strikte Kontrolle der gesamten Verstärkerpalette eines Tieres kann zu einem traurigen Ersatz für die Gegenseitigkeit und das herrliche Durcheinander einer tatsächlichen Beziehung werden.
Ich fand mich also meinen persönlichen Erfahrungen mit einem beißenden Hund, dem Ergebnis meiner ethologischen Selbststudie und dem beunruhigenden Zitat über die Gefangenen in Abu Ghraib gegenüber. Dazu kamen mein wachsender Glaube und, gespeist von Gebet und Liturgie, die langsame Transformation meiner eigenen zwanghaften Natur. Ich kam zu dem Schluss, dass die Rationierung von Liebe und Aufmerksamkeit – der grundlegendsten aller Verstärker – kein idealer Trainingsansatz sein konnte.
Ich bin nicht nur eine gläubige Frau, der es wichtig ist, ihre Überzeugungen auch im Umgang mit Tieren zu leben, sondern auch eine Wissenschaftlerin und Verhaltenstrainerin (ACAAB). Meine Entscheidung, das „Ohne Fleiß kein Preis“-Prinzip in Zukunft nicht mehr anzuwenden, wirkte sich auch auf die Ratschläge aus, die ich meinen Kunden gebe. Natürlich konnte ich schlecht sagen, dass der Schlüssel zum Erfolg darin läge, ihre Hunde einfach nur zu lieben. Ich musste ihnen zeigen, wie sich die Verhaltensprobleme ihrer Hunde praktisch lösen ließen – und zwar ohne auf die Rationierung von Privilegien zurückzugreifen.
Bevor wir uns konkreten Alternativen zuwenden, wollen wir uns etwas näher mit der Herde heiliger Kühe befassen, die viele von uns – Hundehalter wie Trainer – in ihrem Stall stehen haben. Besonders zwei Beispiele von Belohnungs-Rationierungsprogrammen wollen wir uns im Detail ansehen.
1 Anmerkung der Übersetzerin: In den USA gibt es mehrere Assistenzhundeorganisationen, deren Hunde zur Sozialisierung und Grundausbildung mit Häftlingen zusammenleben.