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Prolog

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Klirrendes Besteck und Geplauder hallten durch das Esszimmer und raubten der achtjährigen Samantha Vargas den letzten Nerv. Zum hundertsten Mal spähte sie in den Flur auf die goldenen Zeiger der alten Standuhr. Es war schon fast sieben und ihr Vater war bereits dreißig Minuten zu spät. Während ihrer Mutter und ihren Geschwistern seine Unpünktlichkeit nichts auszumachen schien, erwartete sie wie auf glühenden Kohlen sitzend seine Ankunft.

„Dein Essen zu ignorieren bringt Daddy auch nicht schneller nach Hause“, schimpfte ihre Mutter und deutete auf die Gabel auf Sams Teller. „Iss auf.“

Mit einem Seufzen nahm Sam die Gabel und schob ihr Essen, das normalerweise ihre Lieblingsspeise war, sie aber heute Abend nicht begeistern konnte, auf dem Teller herum. Sie hob etwas von dem spanischen Reisgericht Arroz con Pollo an den Mund. Als sie gerade essen wollte, hörte sie einen Automotor. Dann wurde eine Tür zugeworfen und Sam hob den Kopf. „Er ist da!“, rief sie und sprang vom Stuhl.

Mit ihren schwarzen Turnschuhen brannte sie fast eine Rille in den Boden, als sie aus dem Raum rannte.

„Samantha Eliana Vargas, komm sofort zurück und iss deinen Teller leer!“

Sie überhörte den Befehl ihrer Mutter, rannte durch den Flur und riss die Haustür auf. Sie polterte die Vordertreppe hinab auf den Pfad und sprang ihrem Vater in die Arme. Er ließ seine Aktentasche fallen, weil er nicht beides balancieren konnte.

Er lachte über ihren Schwung. „Du freust dich wohl, mich zu sehen, was?“

„Du warst fast eine Woche weg.“ Sie schlang die Arme fester um seinen Hals. Als sie sich eng an ihn presste, spürte sie unter seinem Anzug das Pistolenhalfter und den Stahl der Waffe. Die meisten Kinder hätte das verängstigt, doch auf sie hatte es eine tröstliche Wirkung. So kannte sie ihren Vater. Wie im Fernsehen und in Filmen war er einer der Guten und kämpfte gegen die Bösen, die kriminelle Dinge taten.

„Der Fall hat etwas länger gedauert, als ich dachte, Mija. Aber ab übermorgen werde ich dann eine Weile zu Hause sein.“

„Das freut mich sehr.“ Sie sah in seine dunkelbraunen Augen, die sie von ihm geerbt hatte. Natürlich hatte sie noch viel mehr von ihm als nur die Augenfarbe. Im Gegensatz zu ihrem älteren Bruder und ihrer Schwester, die mehr nach der Mutter kamen, war sie das Mini-Ich ihres Vaters. Wenn sie einmal groß war, wollte sie genauso sein wie er. Strafverfolgung lag ihr im Blut. Ihr Großvater war Polizist in Miami gewesen und ihr Vater war ein Agent der Behörde für Drogen und Schusswaffen, der ATF. Sie hatte den starken Wunsch, die Bösen zu erwischen, so wie die Agenten. Während andere Mädchen in ihrem Alter mit Barbies und anderen Puppen spielten, bekam sie von ihrem Vater erzählt, wie man eine Waffe auseinander- und wieder zusammenbaut und wie man Körpersprache liest.

„Komm mit, gehen wir rein. Deine Mama hat versprochen, dass sie heute mein Lieblingsessen kocht, und ich bin am Verhungern.“

Sam grinste. „Hat sie auch.“

„Und deshalb habe ich sie auch so lieb. Sie mag zwar Irin sein, aber sie gibt sich alle Mühe, ihrem kubanischen Ehemann sein Lieblingsessen zu kochen.“

Sie stiegen die Treppe hinauf und der Rest der Familie wartete bereits an der Tür. Ihr Vater stellte Sam auf den Boden, um ihren fünfzehnjährigen Bruder Steven und ihre dreizehnjährige Schwester Sophie umarmen zu können. Da Steven und Sophie Teenager waren, fanden sie es uncool, den Vater genauso enthusiastisch zu begrüßen wie Sam.

Ihr Vater nahm ihre Mutter in den Arm und gab ihr einen langen Kuss. „Du hast mir gefehlt, Jenny.“

Ihre Mutter lächelte ihn an. „Du mir auch. Haben wir dich jetzt endlich mal eine Weile für uns?“

„So um neun muss ich noch etwas zu Ende bringen, aber dann bin ich für die nächsten paar Wochen an den Schreibtisch gekettet.“

Ihre Mutter seufzte erleichtert. „Da das der sicherste Platz ist, an dem du sein könntest, freue ich mich, das zu hören.“

Ihr Vater drückte ihrer Mutter noch einen Kuss auf. „Du machst dir zu viele Sorgen.“

„Daddy, darf ich heute Abend mitkommen?“, fragte Sam. Er schüttelte den Kopf, doch sie widersprach. „Aber es ist Freitag. Ich muss morgen nicht in die Schule.“

„Das wäre etwas zu gefährlich für dich heute.“ Er sah ihr enttäuschtes Gesicht und stupste ihre Nase an. „Nächstes Mal, Mija.“

An Vaters entschlossenem Ton erkannte sie, dass es keinen Sinn hatte, weiterzubohren.

Als er am Tisch Platz genommen hatte, setzte sie sich zögernd wieder auf ihren Stuhl. Jetzt interessierte sie ihr Abendessen etwas mehr als vorher, und sie schaffte es, alles aufzuessen, weil sie wusste, dass es ihn freute.

Während des letzten Bissens kam ihr eine blendende Idee. Sie würde ihrem Vater beweisen, dass sie nicht noch zu jung war, um einen Fall zu sehen, bei dem es heiß hergehen könnte. Wenn sie eines Tages ein Agent sein wollte wie er, musste sie ja irgendwann einmal anfangen. Genau wie ihren Geschwistern hatte er ihr schon sehr früh gezeigt, wie man am Schießstand die Waffe abfeuerte, und einige Griffe zur Selbstverteidigung beigebracht. Allerdings, wenn die Sache Erfolg haben sollte, musste sie es geschickt anstellen. Und da war ihr die Idee gekommen.

„Worüber grinst du so?“, fragte ihr Vater und holte sie aus den Gedanken.

„Ach, über nichts.“

Nachdem die Küchenarbeit erledigt war und ihre Geschwister ihren Freitagabend-Verabredungen nachgingen, tat Sam so, als ob sie sich etwas im Fernsehen anschauen wollte. Als es immer mehr auf neun Uhr zuging, gähnte sie ein paarmal und gab vor, müde zu sein und ging früh in ihr Zimmer. Sie unterdrückte ein Lächeln und gab ihren Eltern Gutenachtküsse.

Als sie sicher war, dass sie nicht weiter auf sie achteten, schlüpfte sie aus der Hintertür. Sie schlich ums Haus zu Vaters Wagen, öffnete die Tür und kauerte sich im Fußraum des Rücksitzes zusammen. Mit ihrer Decke, die dort lag, bedeckte sie sich. Vor Aufregung bebte sie so stark, dass ihre Zähne klapperten.

Sie wusste nicht, wie lange sie gewartet hatte, als sie endlich hörte, wie ihr Vater kam. Als er im Auto saß, atmete sie nur noch flach, aus Angst, er könnte sie trotz des laufenden Motors hören.

Nachdem das Auto ein paarmal abgebogen war, wusste Sam, dass sie jetzt auf der Schnellstraße waren und wahrscheinlich nach Miami unterwegs. Ihre Gedanken rasten, und sie stellte sich verschiedene Szenarien vor, was ihr Vater wohl vorhaben könnte. Vielleicht traf er sich mit einem Informanten oder arbeitete undercover. Diese Vorstellungen jagten Adrenalin durch ihre Adern.

Es schien ewig zu dauern, bis der Wagen von der Schnellstraße abbog. Er fuhr mit gleichmäßiger Geschwindigkeit weiter und bog dann erneut ab. Bei dem Gerüttel und Geschüttel ging sie davon aus, dass er auf eine Art Feldweg gefahren war. Als der Wagen anhielt, zog sich Sam die Decke vom Kopf und atmete frische Luft.

Ihr Vater stellte den Motor ab und fummelte an etwas herum. Dann ertönte das unverwechselbare Krächzen eines Funkgerätes.

„Agent Vargas meldet sich von der Liberty Avenue 1901.“

„Roger, Vargas. Brauchst du Verstärkung?“, krächzte die andere Stimme.

„Nein. Handelt sich nur um einen routinemäßigen Informationsaustausch.“

„Viel Glück. Zehn-vier.“

„Zehn-vier.“

Ein paar Minuten verstrichen. Plötzlich ertönte das Geknatter von Motorrädern, und Sam zuckte in ihrem Versteck erschrocken zusammen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihr Vater mit einer Motorradgang zu tun haben sollte. Als sie das letzte Mal in der Stadt gewesen war, war eine Gruppe Biker an ihnen vorbeigefahren. Das Abzeichen auf ihren Lederwesten hatte ihr mehr Angst eingejagt als die lauten Geräusche. Es war ein Schädel mit einer Art Indianerkopfschmuck. Ihr Vater hatte es einen Death’s Head genannt.

Sie fragte sich, ob es sich um dieselbe Gruppe handelte, und spähte vorsichtig aus dem Fenster. In der schattigen Dunkelheit stieg ein Mann von seinem Bike und kam über den Parkplatz näher. Die einsame Straßenlaterne ließ Sam etwas erkennen. Langes, dunkles Haar hing über seine breiten Schultern, doch vom Gesicht sah sie nicht viel, weil er einen Bart hatte. Sogar im Dunkeln trug er eine Sonnenbrille, und Sam wunderte sich, wie er überhaupt etwas sehen konnte.

„Schön, dich wiederzusehen, Willie. Weißt du jetzt den Ort der Übergabe, wie du versprochen hast?“

„Nein“, murmelte der Mann mit rauer Stimme.

Ihr Vater knurrte frustriert. „Ich dachte, wir hätten einen Deal. Der Übergabeort sorgt dafür, dass der Fall geschlossen wird, aber vor allem schützt er dich vor dem Knast.“

Willie zuckte mit den Schultern. „Ich habe nur eine Nachricht für dich.“

„Eine Nachricht?“ Vorsicht und Sorge erfüllten seine Stimme.

„Wer sich mit den Rogues anlegt, landet unter der Erde.“

„Oh Scheiße!“, sagte ihr Vater und bewegte sich hektisch.

Eine Explosion wie ein Kanonenschlag ertönte neben dem Auto. Sams Schrei erstickte in ihrer Kehle bei dem Geräusch, und weil sie von etwas Warmem und Klebrigem berieselt wurde.

Sekunden tickten vorbei. Oder waren es Minuten?

Sams Herz schlug so laut, dass sie sicher war, ihr Vater und der Mann konnten es hören.

Das Motorrad startete, und sie begriff, dass der Biker wegfuhr. Als sie sicher war, dass er fort war, richtete sie sich auf.

„D-Daddy?“

Als sie sich traute, nach vorn zu sehen, kam ein Schrei in ihr hoch, doch obwohl sie den Mund öffnete, kam kein Ton heraus. Sie blinzelte mehrmals und starrte entsetzt auf die klaffende Wunde an Vaters Kopf und auf das Blut, das mit noch etwas anderem auf den Sitz und das Armaturenbrett gespritzt war.

Sofort war ihr klar, dass er Hilfe brauchte. Jemand musste herkommen und ihren Vater wieder zusammenflicken. Mit zitternden Fingern fummelte sie am Türgriff herum. Als sie die Tür geöffnet hatte, sprang sie auf den Schotter, aber ihre weichen Knie trugen sie beinahe nicht. Sie öffnete die Beifahrerseite und stieg ein. Dann nahm sie ihrem Vater das Funkgerät aus der Hand. Mit bebenden Fingern drückte sie auf den Knopf, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Natürlich war das damals alles nur ein Spiel gewesen. „H-hallo?“

Nachdem sie den Knopf losgelassen hatte, dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sich jemand meldete.

„Kind, das ist eine Polizeifrequenz. Verlasse sie, bevor du Ärger bekommst.“

Instinktiv überdeckte ihre Wut ihre Angst. „Ich heiße Samantha Vargas. Mein Vater ist Agent Antonio Vargas. Er wurde …“ Sie sah kurz zu ihrem leblosen Vater hinüber und kniff die Augen zu. „Es wurde auf ihn geschossen.“

„Um Himmels willen!“

Sie hörte jede Menge Aktivität auf der anderen Seite. Sie ließ das Funkgerät fallen und hörte nicht mehr zu, was der Mann noch zu sagen hatte. Sie nahm die Hand ihres Vaters in ihre.

Noch immer starrte sie seine Hand an, als die Polizei und die Sanitäter erschienen, begleitet von flackernden Lichtern und heulenden Sirenen.

Jemand öffnete die Beifahrertür. „Verfluchte heilige Scheiße“, murmelte jemand.

Als Arme sie ergriffen, wehrte sich Sam nicht. Sie drückte einen Kuss auf Vaters Hand und ließ sich aus dem Wagen heben. Eine freundliche weibliche Stimme sprach beruhigend auf sie ein. Sie hörte nicht zu. Denn niemand hätte etwas sagen können, das alles wieder gut gemacht hätte.

Ihr Vater war tot.

Last Mile: Erlösung

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