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Kapitel 1

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Nachdem der Priester die letzten Worte von Mr. Garett Browns Grabrede gesprochen hatte, ging ich den mit Teppichboden ausgelegten Gang entlang. Als die leise Orgelmusik, die über die Deckenlautsprecher eingespielt wurde, ein emotionales Crescendo erreichte, drehte ich mich zu den Trauernden um, die sich in den gepolsterten Kapellenbänken versammelt hatten. Ich wirkte wie eine Kreuzung aus einer Miss America und einem Fluglotsen und hob langsam die Arme, um die Menge von ihren Plätzen aufstehen zu lassen. Als alle wieder auf den Beinen waren, bedeutete ich, dass die Familie damit beginnen sollte, ihre Bank zu verlassen.

So verrückt es auch klingen mag, es war eine wahre Kunst, einer Beerdigung vorzusitzen. Es war nur eines der vielen Dinge, die ich im Laufe der Jahre durch das Beobachten meines verstorbenen Vaters und Großvaters gelernt hatte. Wie mein Opa einmal gesagt hatte: „Leite eine Beerdigung wie eine Nebenvorstellung und du bist aus dem Geschäft.“ Menschen wurden unweigerlich von Prunk und Pomp angezogen. Auch wenn ihr geliebter Mensch vielleicht arm gewesen war, wollten sie bei der Beerdigung dieselbe Grandeur wie bei einem König oder Präsidenten.

Mein Großvater hatte 1955 Sullivan’s Funeral Home eröffnet und seitdem war es ein Familienbetrieb. Da ich aus einer großen, ausgedehnten Familie stammte, sprangen von Zeit zu Zeit alle Tanten, Onkel und Cousins ein. In einem Bestattungsunternehmen aufzuwachsen, bedeutete nicht nur Tod und Trauer. Ich hatte viele glückliche Erinnerungen an Lebendige unter diesem Dach. Mit meinem jüngeren Bruder Allen spielte ich Verstecken, wobei normalerweise am Ende immer einer von uns hinter einem Sarg eingeklemmt wurde. Ich hatte stundenlang auf den gepolsterten Bänken der Kapelle gelegen und die neuesten Bücher des Babysitter-Clubs oder der Sweet Valley High gelesen. Das Haus war immer voller Menschen gewesen. Ich hatte früh gelernt, eine Menschenmenge zu führen, und mein Vater ließ mich im Alter von dreizehn Jahren bei Totenfeiern und Gottesdiensten aushelfen. „Livvie hat die Gabe“, sagte er immer mit vor Stolz funkelnden braunen Augen.

Die Erinnerung an meinen Vater ließ meine Brust schmerzen. Er war vor fünf Jahren nach einem sehr kurzen Kampf mit Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Obwohl ich durch meine Großeltern und andere Familienmitglieder bereits persönlichen Verlust erlebt hatte, war es der Tod meines Vaters gewesen, der wahres Verständnis und Einfühlungsvermögen für das, was andere Familien erlebten, in mir hervorgerufen hatte. Es kam nicht oft vor, dass man seinen persönlichen Helden kennenlernte, aber ich war damit gesegnet gewesen, ihn als Vater zu haben.

Als sich die letzte der „reservierten“ Bänke geleert hatte, folgte ich der Menge durch die Kapellentür hinaus in den Sonnenschein. Nachdem ich die Verladung des Sarges in den Leichenwagen überwacht hatte, wandte ich mich an die Frau des Verstorbenen. Ich zwang mir ein mitfühlendes Lächeln auf die Lippen. Während Freunde und Familie unverhohlen geweint hatten, war Felicia Brown eine Eiskönigin geblieben. Zudem war ihre Trauer in den letzten Tagen so gut wie verschwunden, und stattdessen war sie eines der anspruchsvollsten Miststücke geworden, mit denen ich seit Langem zu tun gehabt hatte. Sie wollte die VIP-Behandlung, obwohl sie in allem den Geizkragen herausgekehrt hatte. Beispielsweise hatte sie einen sehr günstigen Sarg bestellt, während sie mit Diamanten drapiert war.

„Es ist Zeit, ins Auto zu steigen.“ Ich wies zur schwarzen Lincoln-Limousine, die wir für die Eskorte der nächsten Angehörigen zur Verfügung stellten. Ungeachtet dessen, was in den letzten Tagen geschehen war, gewährte ich ihr die gleiche Wärme und Freundlichkeit, wie ich sie einem tatsächlich trauernden Familienmitglied entgegenbringen würde. Schließlich war in Zeiten wie diesen ein freundliches Wort eine Million wert, selbst zu einem Arschloch. Natürlich habe ich dabei „Tschüss, Felicia“ gedacht.

Felicia nickte zustimmend und drehte sich zu der Menge hinter ihr. Sie fragte den großen Silberfuchs von einem Mann, der neben ihr stand: „Jerry, warum fährst du nicht mit mir?“

Ich nickte Todd, einem unserer Mitarbeiter, zu, damit er die Hintertür des Wagens öffnete. Das Geräusch eines Knurrens hinter mir ließ mich zusammenzucken. Da ich wusste, dass Motown, der streunende Pitbull aus der Nachbarschaft, den ich adoptiert und oft mit zur Arbeit gebracht hatte, oben im Familienbereich war, fragte ich mich, welches wilde Tier aus dem Wald gekommen war. Als ich mich umdrehte, erkannte ich Felicias ältesten Sohn, Gregg, der mit einem giftigen Blick sagte: „Oh, das ist einfach klasse. Es reicht nicht, dass du Jerry gevögelt hast, während mein Vater an den lebenserhaltenden Geräten hing, jetzt willst du sogar, dass er bei dir im Auto zur Beerdigung mitfährt?“

Als sich ungläubiges Schweigen über die Trauernden senkte, straffte ich die Schultern und bereitete mich auf den möglichen verbalen Angriff vor, der auf mich zukommen könnte. Schließlich war dies sozusagen nicht mein erstes Mal beim Rodeo. Ich war ein ziemlicher Profi im Umgang mit solchen Szenen. Ich war schon oft Zeuge des alten Sprichworts geworden, dass der Tod das Schlimmste im Menschen hervorbringt. Er bringt auf jeden Fall die inneren Krallen zum Vorschein.

Nachdem sie einen Blick über die Menge geworfen hatte, zupfte Felicia nervös am Kragen ihres Designeranzugs. „Also, Gregg, ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

Gregg rollte mit den Augen. „Ja, klar. Ich schätze, an die anderen Male erinnerst du dich auch nicht“, fauchte er.

Die tadellose Zurückhaltung entglitt Felicia langsam und wurde durch schlecht verschleierte Wut ersetzt. „Wage es nicht, bei der Beerdigung deines Vaters eine Szene zu machen“, zischte sie Gregg zu. Als ihr klar wurde, was sie getan hatte, erholte sie sich schnell, um den anderen Trauernden ein schwaches Lächeln zu schenken.

„Ich mache eine Szene? Du bist diejenige, die sich wie die trauernde Ehefrau verhält, obwohl du immer nur untreu warst!“

Da ich spürte, dass dies noch hässlicher werden würde, versuchte ich, zwischen die beiden zu treten, um die Situation zu entschärfen. „Warum machen wir uns nicht auf zum Friedhof?“, schlug ich vor. Mein Blick landete auf dem Gesicht von Felicias jüngerem Sohn, der widerwillig neben seinem Bruder stand. „Mark, warum fahren Sie nicht mit Ihrer Mutter?“

Gregg schnaubte verächtlich. „Klar, nimm Mark. Er war immer Dads Liebling. Verdammt, er ist jedermanns Liebling.“ Ein hasserfüllter Schimmer brannte in seinen grünen Augen. „Nun, ich stelle die Dinge jetzt richtig. Mark ist nicht einmal der Sohn meines Vaters!“

Verblüffte Schreie kamen aus der Menge, während Felicias Gesicht teigig weiß wurde. Sie hob den Blick zu den schockierten Gesichtern um sie herum. „Es tut mir für alle so leid. Gregg ist einfach dermaßen untröstlich, dass er nicht weiß, was er sagt.“

„Untröstlich? Am Arsch. Ich rege mich nicht allzu sehr auf, weil ich weiß, dass Jim, unser höchstpersönlicher UPS-Fahrer, Marks Vater ist.“

Die Menschen drehten sich mit aufgerissenen Augen zum hinteren Teil der Menge, wo Jim, der UPS-Fahrer, stand. Als er niedergeschlagen den Blick auf das Pflaster senkte, war das die Bestätigung, die jeder brauchte. Die Gruppe sah wieder zu Felicia und Gregg.

Plötzlich stürzte sich Mark auf Gregg. „Du Mistkerl! Wie kannst du es wagen?“ Er schlug mit der Faust in Greggs Gesicht und dann in seinen Bauch. Gregg brach auf dem Gehsteig zusammen, Blut floss aus seiner Nase.

Mark stand über ihm. „Reicht es nicht, dass du meine Ex-Frau vögeln musstest, um mich eifersüchtig zu machen? Jetzt musst du mich auch noch vor all diesen Leuten blamieren?“

Ich hatte gerade meinen Mund aufgemacht, um sie noch einmal zu bitten, aufzuhören, als der beste Freund von Mr. Brown nach vorn trat. „Ihr Jungs hört sofort damit auf. Ich kann nicht fassen, dass ihr das bei der Beerdigung eures eigenen Vaters macht.“

Mark half Gregg nur widerwillig auf die Beine, sodass sie beide vor ihrem Ankläger standen.

„Als ob du das Recht zum Reden hättest, Ed“, murmelte Gregg, während er seinen Kopf in den Nacken legte, um sein Nasenbluten zu stoppen.

Eds Gesicht wurde etwas blasser und er fummelte an seiner Krawatte herum. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

Mark schüttelte den Kopf. „Du besitzt wirklich die Frechheit, hierher zu kommen, wo doch jeder weiß, dass du mit Vater geschlafen hast?“

Angesichts des Vorwurfs, dass nicht nur die Frau des Verstorbenen eine berüchtigte Ehebrecherin und sein jüngster Sohn biologisch nicht der seine war, sondern dass er selbst außerdem bisexuell gewesen sein sollte, wurde eine Frau in der Menge ohnmächtig. Der Rest stand schweigend und verblüfft da.

Die ganze Farbe wich aus Eds Gesicht. „Woher wusstet ihr das?“

Gregg schaute Mark an, bevor er sprach. „Wir wussten, dass etwas im Busch war, weil du und Dad auf all diese Angeltouren gegangen seid. Alleine.“

Ed straffte die Schultern, als er sich den Gesichtern mit den weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern stellte. „Okay. Es stimmt. Ich habe Garett Brown vierzig Jahre lang geliebt, und er hat mich geliebt. Er hat mit Sicherheit etwas Besseres verdient, als dass seine Frau und seine Söhne bei seiner Beerdigung eine Szene machen.“

„Ach, halt die Klappe, Ed.“ Gregg schnaubte.

Mr. Browns mittlerer Sohn Wes mischte sich in die Auseinandersetzung ein. „Es ist wahr. Ihr beiden Arschlöcher solltet euch schämen. Aber warum bin ich so überrascht? Ich meine, es ging immer um euch beide. Ihr habt Dad praktisch das Leben ausgesaugt. Gregg, der abgehalfterte Football-Gott, der zum Säufer wurde, und Mark, der Sex- und Spielsüchtige.“

Mark rollte mit den Augen. „Oh, lass dich mal ordentlich durchvögeln, du Dramaqueen.“

Wenn man bedachte, was als Nächstes geschah, war Wes wohl einmal zu oft in seinem Leben diesem Satz ausgesetzt gewesen, weil er einfach durchdrehte. Er riss eine Pistole aus der Tasche seines Anzugs. Beim Anblick der Waffe brach Chaos aus. Menschen begannen zu schreien und sich davonzumachen. Sofort zückte ich mein Handy und wählte den Notruf.

„Was zum Teufel tust du da, Wes?“, wollte Gregg wissen.

„Wenn ihr beide nicht freiwillig aufhört, eine Szene zu machen, werde ich euch dazu zwingen.“

„Als ob mit einer Waffe herumzufuchteln keine Szene machen würde, Dumpfbacke“, antwortete Mark.

„Wahrscheinlich ist sie nicht einmal geladen“, sinnierte Gregg.

Wes starrte mit verengten Augen auf Gregg, bevor er einen Schuss vor dessen Füße abfeuerte. Die Schreie und Rufe stiegen wieder auf, als Gregg wie in einem Video von Michael Jackson einen Moonwalk hinlegte. „Herr im Himmel, spinnst du?“

„Ich konnte euch nicht dazu bringen, mir zuzuhören“, antwortete Wes, sein Tonfall unheimlich ruhig.

Als ich versuchte, vorzutreten, schwang Wes seinen Arm zu mir, sodass die Pistole auf mich gerichtet war. Ich stoppte sofort und warf schnell die Hände hoch; mein Handy landete klappernd auf dem Bürgersteig. „Wes, ich verstehe, dass du verletzt und wütend auf deine Brüder bist, aber wir können das sicher ohne Gewalt lösen“, sagte ich.

Wes legte den Kopf schief. „Sie haben meine Familie gesehen. Was glauben Sie denn?“

In diesem Moment erschien Earl, einer unserer anderen Mitarbeiter, mit zwei Blumenarrangements am Eingang. Seinem entsetzten Gesichtsausdruck entnahm ich, dass er damit gerechnet hatte, dass der Blumenwagen dort auf ihn warten würde, keine Bedrohung seiner Chefin durch eine Waffe.

Der Anblick der Blumen brachte mich auf eine Idee und ich hinterfragte sie nicht weiter. „Lass den Korb nicht fallen!“, kreischte ich.

Da Wes und seine Brüder nun abgelenkt waren, stürzte ich auf Earl zu und riss ihm den größten Blumenkranz aus der Hand. Mit aller Kraft, die ich hatte, schlug ich Wes meine florale Waffe gegen den Hinterkopf.

„Was zum …“

Ich schlug ihm ins Gesicht. Während Wes stotterte und den Mund voller Chrysanthemen hatte, machte ich mit seinem Schritt weiter, wobei ich darauf achtete, den Drahtteil des Gestecks gegen seinen Schwanz zu rammen.

Als er aufschrie, fiel ihm die Waffe aus den Händen. Ich ließ den Kranz fallen, ergriff die Pistole und richtete sie auf Wes, während er sich vor Schmerzen hin und her wand.

„Was für ein Weichei“, murmelte Mark.

„Klappe“, keuchte Wes durch zusammengebissene Zähne.

„Gut gemacht, Liv“, meinte Todd.

Mit einem Augenzwinkern antwortete ich: „Mache ich doch immer.“

Äußerlich zeigte ich eine Fassade falscher Tapferkeit, während ich mich im Stillen fragte, ob ich nicht ein sauberes Höschen bräuchte, weil ich mir vor Angst vielleicht in die Hose gemacht hatte.

Nachdem die Polizei gekommen war, um die Brown-Brüder wegen mehrerer Vergehen zu verhaften, stieg die kleine Menge, die noch übrig war, in ihre Autos zur Prozession zum Friedhof. Inmitten all des Wahnsinns mussten wir den armen Mr. Brown trotzdem beerdigen. Zum Glück ging die Veranstaltung ohne weiteres Waffen schwingendes Drama vonstatten.

Als ich vom Vorsitz der Beerdigung zurück ins Bestattungsinstitut kam, war ich emotional und körperlich ausgelaugt. In meinem Büro saß Allen hinter meinem Schreibtisch, die Füße daraufgelegt. Er hatte den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, während er aus der vor ihm liegenden Mappe vorlas. Wie es sich anhörte, meldete er einen Anspruch auf eine Lebensversicherung an.

Ich warf ihm einen wütenden Blick zu, bevor ich mich auf das Ledersofa ihm gegenüber fallen ließ. Ich stöhnte in Ekstase, als ich aus den Schuhen schlüpfte. Allen war nicht nur mein Kollege. Er war auch Miteigentümer des Bestattungsunternehmens. Es war uns beiden nach dem Tod unseres Vaters vererbt worden. Damals war Allen erst zwanzig gewesen, und das Letzte, was er wollte, war, etwas mit dem Geschäft mit dem Tod zu tun zu haben. Aber im Laufe der Jahre hatte er sich langsam damit angefreundet. Da er keine Ausbildung auf diesem Gebiet hatte, nutzte er sein Finanzstudium, um sich der wirtschaftlichen Aspekte des Unternehmens anzunehmen. Er half außerdem bei der Planung der Beerdigungen sowie in der Transportabteilung, auch bekannt als Abholung der Leichen.

Obwohl Allen noch nicht verheiratet war, schien sein Status als Single unsere Mutter nicht ganz so sehr zu betrüben wie der meine. Vielleicht lag es daran, dass ich als Frau jung heiraten sollte, während mein Bruder sich als Junggeselle austoben durfte, bevor er sich niederließ. Mehrere Frauen hatten versucht, Allen an den Haken zu bekommen, aber bisher war es ihm gelungen, ihnen auszuweichen. Er würde es nie zugeben, ich wusste jedoch, dass sein Herz sich nach Maggie, der ortsansässigen Floristin, verzehrte. Obwohl es nicht zu seiner Arbeitsbeschreibung gehörte, meldete er sich immer freiwillig, um Blumen abzuholen.

„Ja, danke, Bernie. Wir sprechen uns später.“ Allen legte auf und erhob sich von meinem Stuhl. „Unser neuester Kunde wartet im Vorbereitungsraum auf dich.“

Ich rieb mir weiter die Füße. „Ugh, fabelhaft.“ In Anbetracht des Nachmittags, den ich gehabt hatte, wollte ich nichts als ein Glas Wein und ein warmes Bad, aber es sah nicht so aus, als würde ich beides bekommen.

Ein amüsierter Blick funkelte in Allens dunklen Augen. „Ich hörte, du hattest ein kleines Handgemenge, während ich weg war.“

Ich rollte mit den Augen. „Ich würde es kaum ein ‚Handgemenge‘ nennen. Nur ein Typ wurde geschlagen. Nun ja, zwei, wenn man bedenkt, dass ich diesen Idioten mit dem Blumengesteck verprügelt habe.“

Allen grinste. „Erste Regel des Funeral Home Fight Club: Niemand spricht über den Funeral Home Fight Club.“

„Hahaha“, machte ich und stand auf.

Nachdem ich zu meinem Schreibtisch gegangen war, streckte ich die Hand aus und Allen reichte mir die braune Mappe mit den Informationen zum Verstorbenen. Ich sah kurz darauf. „Oh nein, es ist Mr. Peterson.“ Auf Allens ausdruckslosen Blick sagte ich: „Erinnerst du dich nicht daran, dass wir damals an Halloween bei ihm zu Hause Süßes oder Saures gefordert haben? Seine Frau hat immer Kekse und Süßigkeiten für uns gebacken.“

Allen nickte langsam. „Verdammt, ist der alt geworden.“

„Er war schon damals alt. Jetzt ist er im Grunde uralt.“ Ich zog eine Grimasse. „Nun, er war uralt.“

Das war einer der schwierigsten Aspekte dabei, ein Bestattungsinstitut in der Stadt zu führen, in der man aufgewachsen war. Man kannte so ziemlich neunzig Prozent derjenigen, die auf dem Einbalsamierungstisch landeten. Manchmal war es einfacher, Organe zu punktieren und Blut bei Menschen abzulassen, die man nicht kannte. Es war qualvoll gewesen, aber ich hatte mich gezwungen, meinen Vater selbst vorzubereiten. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihm das für all die Liebe und Unterstützung schuldete, die er mir über die Jahre geschenkt hatte, ganz zu schweigen davon, dass er mir alles beigebracht hatte, was ich wusste.

Ich steckte mir die Mappe unter den Arm, bevor ich zur Tür hinausging. Meine Schritte hallten durch die Stille, als ich den vertrauten, von Familienporträts gesäumten Flur hinunterging. Allen und ich waren die dritte Generation von Sullivans, die in diesem Haus lebten. Meine Großeltern hatten das riesige viktorianische Monstrum gekauft, als mein Vater noch ein Baby gewesen war. Wegen der Begabung meines Großvaters bei der Leichenpräparation war das andere Bestattungsunternehmen in der Stadt schnell pleitegegangen.

Es dauerte nicht allzu lange, bis Menschen aus den umliegenden Ortschaften begannen, ihre Verstorbenen zu ihm zu bringen. Das Geschäft boomte ebenso wie die Familie meiner Großeltern. Nachdem meine Großmutter versucht hatte, fünf Kinder während Leichenschauen und Beerdigungen im oberen Stockwerk unterzubringen, bestand sie auf ein eigenes Heim. Da mein Großvater sowohl aus Liebe als auch aus Angst alles tat, was sie verlangte, kauften sie das Haus nebenan zum Darinwohnen und ließen das Familienquartier über dem Geschäftsbereich fast zwanzig Jahre lang leer stehen.

Als ältestem Sohn und Erben des Sullivan-Bestattungsimperiums wurde meinem Vater das Wohnhaus angeboten, als er meine Mutter heiratete, und sie hatten es freudig angenommen. Nun, meine Mutter war anfangs nicht gerade begeistert gewesen, aber als sie meinen Vater heiratete, wusste sie, dass der Tod Teil seines Lebens war. Er hatte es ihr versüßt, indem er das obere Stockwerk ausräumen und umgestalten ließ, um ein separates Wohnzimmer und eine Küche sowie drei Schlafzimmer und zwei Bäder zu schaffen. Er ließ auch die Hintertreppe neu herrichten, sodass sie die Treppe zu unserer Wohnung hinaufgehen konnte, ohne durch das Bestattungsinstitut gehen zu müssen.

Nachdem ich mir in der Gemeinschaftsküche eine Tasse Kaffee eingeschenkt hatte, ging ich wieder den Flur hinunter zur Tür mit der Aufschrift „Nur für Angestellte“. Ich tippte den Code auf der Tastatur ein, bevor ich den Vorbereitungsraum betrat, wo mich Mr. Peterson erwartete. Als ich den Schalter zu meiner Rechten einschaltete, erwachten die Leuchtstoffröhren über meinem Kopf zum Leben.

Ich bin sicher, die meisten Menschen stellen sich einen Körperpräparationsraum so wie Dr. Frankensteins Laboratorium vor. Leider war das nicht der Fall. Es gab eine Wand mit Schränken, die mit allem von Kosmetika bis hin zu Augapfelersatz gefüllt waren. In der Mitte des Raumes stand ein Totentisch aus Edelstahl über einem Abfluss. Neben dem Tisch befanden sich die Maschinen für die Einbalsamierung.

Bevor ich zum Tisch hinüberging, schaltete ich die Stereoanlage ein. Immer wenn ich an einem Körper arbeitete, stellte ich sicher, dass ich Musik hatte. Leichenbestatter zu sein, war eine einsame Arbeit. Es war nicht so, dass man mit dem Verstorbenen sinnvolle Gespräche führen konnte. Musik half also nicht nur, sich die Zeit zu vertreiben, sondern sie half auch, die Stille zu füllen. Mein Vater war ein großer Liebhaber von Oldies gewesen, ich tendierte eher zu Motown. Aus Respekt vor den Toten spielte ich nichts, was als beleidigend empfunden werden konnte.

Während der Uptempo-Song „Ain’t Too Proud to Beg“ von den Temptations durch die Lautsprecher schallte, legte ich mit Mr. Peterson los. Angesichts der Tatsache, dass er ein neunzigjähriges Schlaganfallopfer war, war die Vorbereitung ziemlich einfach. Ich führte die Standardwaschung mit antiseptischer Seife durch. Es ging nicht nur darum, dem Verstorbenen die letzte Dusche oder das letzte Bad vor dem Jenseits zu geben, sondern auch darum, alle Bakterien abzutöten. Der Sterbeprozess stellte ziemlich üble Scheiße mit einem Körper an.

Danach musste dem Körper das Blut entzogen werden. Zu Zeiten meines Vaters und meines Großvaters gingen sie gerne durch die Oberschenkelarterie ins Herz. Für mich war das zu viel Rätselraten, und das Letzte, was ich tun wollte, war, die Brusthöhle mit Blut zu fluten. Genau wie ich es in der Ausbildung gelernt hatte, führte ich die Kanüle in die Halsschlagader ein. Nachdem das Blut abgelassen worden war, war es an der Zeit, die Einbalsamierungsflüssigkeit einzupumpen. Ich verwendete gern eine Mischung aus verschiedenen Formeln, um die beste Endqualität zu gewährleisten. Das Geschäft mit dem Tod war hart umkämpft, und wir waren zwar das einzige Bestattungsunternehmen in der Stadt, doch die Leute würden nicht zögern, ihre Angehörigen ins nächste County zu schicken.

„Du bist nur so gut wie deine letzte Leiche“, hatte mein Großvater immer gesagt.

Ich hatte gerade damit begonnen, Mr. Peterson mit der feuchtigkeitsspendenden Hautcreme einzureiben, um die Einbalsamierungsflüssigkeit auszugleichen, als es an der Tür des anderen Vorbereitungsraums klopfte. „Herein“, rief ich über die Schulter.

Wegen des Klick-Klacks der Absätze auf dem Vinyl wusste ich, dass es meine Cousine Jill war. Obwohl sie ihren eigenen Salon in der Main Street besaß, machte sie seit unserer Schulzeit hier im Beerdigungsinstitut Haare und Make-up. Sie war zwei Jahre älter als ich und die wilde Schwester, die ich nie gehabt hatte.

„Ich bin gerade mit Mrs. Laughton fertig geworden.“

Ich blickte auf, um ihr ein schiefes Lächeln zu schenken. „Haben wir noch Haarspray übrig?“

Jill schnaubte. „Vielleicht ein wenig. Ich bin ziemlich sicher, dass ich gerade zum weiteren Abbau der Ozonschicht beigetragen habe. Ganz zu schweigen davon, dass ich den Scheiß so hoch auftoupiert habe, dass man möglicherweise den Sargdeckel nicht mehr schließen kann.“

Ich lachte über Jills Beschreibung, da ich wusste, dass Mrs. Laughton für ihre aufgetürmte Frisur ebenso bekannt war wie für ihre Schokoladenkuchen, für die sie immer mit dem blauen Band ausgezeichnet worden war.

Jill nickte in Richtung Mr. Peterson und fragte: „Bist du bald durch mit ihm?“

„Ich habe gerade die Creme eingerieben.“

„Gut. Überlass Todd besser die Umlagerung in den Sarg, damit du dich fertig machen kannst.“

Sofort sank meine Stimmung. „Oh verdammt.“

„Sag mir nicht, du hast die Brautparty deiner Mutter vergessen?“, fragte Jill.

„Ich habe es nicht vergessen. Ich habe nur selektive Amnesie, was das betrifft.“

Jill verschränkte ihre Arme vor ihren gekauften Doppel-Ds. „Ich dachte, du wärst einverstanden, dass deine Mutter wieder heiratet.“

Drei Jahre nach dem Tod meines Vaters hatte meine Mutter endlich das Schwarz ihrer Witwenkleidung aufgegeben und begonnen, mit Harry Livingston auszugehen – einem pensionierten Leichenbestatter, den ich oft zu Hilfe holte, wenn wir mit Verstorbenen überschüttet wurden. Nach einem Jahr Dating hatte Harry die Frage gestellt, und meine Mutter hatte mit Freuden angenommen. Versteht mich nicht falsch. Ich habe mich für sie gefreut. Sie verdiente alles Glück der Welt, ebenso wie Harry, der seine Frau in dem Jahr verloren hatte, als mein Vater gestorben war. Aber gab es einen kleinen Teil von mir, der mit dem grünäugigen Monster der Eifersucht tanzte, weil meine Mutter ein zweites Mal heiraten würde, bevor ich das erste Mal dran war? Sicher. Ich meine, ich bin auch nur ein Mensch.

Was mich wirklich aufregte, war die Teilnahme an dem Dessous-Mädelsabend heute. Jedes unverheiratete Mädchen würde lieber über heiße Kohlen gehen, als irgendeine Brautparty zu besuchen. Wenn es dazu noch um die Dessousparty der eigenen Mutter ging, war es eine ganz neue Stufe der Folter.

„Ich bin völlig damit einverstanden, dass sie und Harry heiraten. Es war nur ein höllischer Tag mit dem Wahnsinn bei der Beerdigung von Brown. Deshalb ist das Letzte, womit ich mich beschäftigen möchte, die endlose Flut von Fragen über meinen Familienstand von ihren Kumpaninnen und ihr.“

„Ja, ich habe von der Schlägerei gehört.“

„Es war kaum eine Schlägerei.“

Jill zuckte die Achseln. „Das war es, was Bessie Thompson mir sagte, als sie wegen Haarfarbe zu mir gekommen ist.“

Ich rollte wieder einmal mit den Augen darüber, wie schnell das Buschfeuer des Klatsches entfacht wurde, wenn man in einer Kleinstadt lebte. Am Ende des Tages würden die Leute wahrscheinlich sagen, dass jemand mit einer Pistole niedergeschlagen worden sei, nachdem er sich entblößt hatte, oder etwas ähnlich Bizarres. „Vertrau mir. Es war keine Schlägerei und es ist erledigt.“

„Ich sagte Bessie, ich sei nicht allzu überrascht, dass sie so durchgedreht sind, wenn man bedenkt, dass sie aus Summit Ridge kommen. Nichts als ein Haufen Methsüchtiger oder reiche Snobs stammen von dort.“

„Nicht alle Leute aus Summit Ridge sind schlecht. Außerdem sind auch schon so einige Leute von hier durchgedreht“, erwiderte ich.

„Wie auch immer. Ich wusste, dass sie Ärger machen würden, nachdem du mir erzählt hast, dass die Frau all diese Diamanten getragen hat, aber ein Geizhals war, wenn es um den Sarg und die Grabstätte ging. Ich bin nur froh, dass du ‚Bye, Felicia‘ zu dieser riesengroßen Idiotin sagen konntest.“

Ich lachte. „Du weißt so gut wie ich, dass es nicht wirklich vorbei ist, bis die Rechnung bezahlt ist.“ Ich drehte die Kappe wieder auf die Cremetube und ging hinüber zum Waschbecken, um mir die Hände zu waschen. Ich warf Jill einen Blick über die Schulter zu. „Gehst du bitte zu Allen und erinnerst ihn daran, dass er für die Laughton-Leichenschau verantwortlich ist, da Mama und ich heute nicht mehr da sind?“

„Klar.“

„Danke. Ich muss nach Hause und mich fertig machen.“

„Warum komme ich nicht mit und mache dir die Haare und das Make-up?“, schlug Jill vor.

„Hältst du das wirklich für notwendig? Es ist ja nicht so, dass ich in einen Club gehe.“

„Könntest du aber nach der Party. Schließlich wird es dort oben eine frische Ladung Männer geben.“ Als ich zu protestieren begann, schüttelte Jill den Kopf. „Männer, die nichts von deiner sexuellen Vorgeschichte wissen. Männer, die du nie wiedersehen musst, nachdem du eine Spritztour auf ihrem Schwanz gemacht hast.“

Ich konnte nicht anders, als bei Jills Worten zu schnauben. Sie hatte nicht ganz unrecht. Die Party meiner Mutter fand in der Hütte ihrer besten Freundin statt, eine Stunde entfernt. Das Gebäude lag weit oben in den Bergen, fast an der Grenze zwischen Georgia und Tennessee. Ich kannte keine einzige Menschenseele von dort. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie da oben keine Clubs haben.“

„Vielleicht nicht, aber ich gehe jede Wette ein, dass sie eine Bar haben.“ Jill wackelte mit ihren kastanienbraunen Brauen. „Du könntest jemanden finden, der dir hilft, deine Sexflaute zu beenden.“

Während ich mir die Hände trocknete, dachte ich darüber nach, was Jill vorschlug. Die irrationale Seite von mir fand, dass es vollkommen Sinn ergab. Natürlich hörte ich sehr selten auf meine irrationale Seite. „Ich weiß nicht.“

„Komm schon, Liv. Du hast geschworen, dass du die Flaute vor deinem dreißigsten Geburtstag beenden würdest, und jetzt bist du zwei Monate überfällig und immer noch nada.“

„Ich bin mir dessen wohl bewusst.“

„Also tu was dagegen, bevor du von deinem Vibrator eine Pilzinfektion bekommst.“

Ich rümpfte vor Ekel die Nase. „Ähm, igitt.“

Jill lachte. „Entschuldigung. Aber du kennst mich doch. Ich rede nicht um den heißen Brei herum.“

„Ja, leider.“

„Wir werden Folgendes tun: Ich komme mit dir nach Hause, um dich zu frisieren und zu schminken.“ Angesichts des wohl betroffenen Blicks in meinen Augen fügte sie hinzu: „Nicht, dass du selbst keine gute Arbeit leisten würdest. Es ist nur so, dass du für heute Abend etwas Besonderes brauchst.“

„Okay. Gut.“

„Dann suche ich dir etwas Sexyes aus, das du anziehen kannst, wenn du die Party verlässt.“

„Kommst du nicht mit auf die Männerjagd?“

Jill schüttelte den Kopf. „Chase kommt um neun Uhr vorbei. Ich habe Anweisung, nichts außer meinen schwarzen Schlampen-High-Heels zu tragen.“

Chase war Jills On-Off-Freund. Nun, er war eigentlich ihr Ex-Mann, aber sie konnten sich anscheinend einfach nicht trennen. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie eines Tages aus Vegas anrufen würde, um mir zu sagen, dass sie wieder geheiratet hatten.

Meine rationale Seite begann zu argumentieren, wie gefährlich es sei, allein auszugehen, aber dann versuchte ich, mich daran zu erinnern, dass ich eine Waffe besaß und ein Selbstverteidigungstraining absolviert hatte. Ich würde nur einen Drink bestellen, um meine Nerven zu beruhigen und sicherzustellen, dass ich von einem Mann nichts zu trinken annahm.

„In Ordnung. Ich werde es tun.“

Jills grüne Augen weiteten sich. „Oh. Mein. Gott. Wirklich?“

Ich lachte. „Ja, wirklich.“

Sie quiekte und warf ihre Arme um mich. „Du hast mir gerade den Tag versüßt, Livvie!“

„Ich bin so froh, dass mein Geschlechtsverkehr mit einem Fremden dir den Tag versüßt.“

Jill zog sich zurück und zwinkerte mir zu. „Dass du zum ersten Mal seit fast sieben Jahren wieder in den Sattel steigst, reicht aus, um mir mehr als meinen Tag zu versüßen. Zum Teufel, das ist das Highlight meiner Woche.“

Mit einem Kopfschütteln zog ich mich aus ihrer Umarmung zurück. „Komm schon. Wir müssen los.“

Mit einer Singsangstimme sagte Jill: „Olivia kriegt einen Schwanz!“

Oh Gott. Es würde eine sehr lange Nacht werden.

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