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Kapitel 8 – Februar 2019

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„Guten Abend, Jo.“

„Es ist Mittag“, bemerkte ich trocken. Ohne aufzuschauen spülte ich meine Pfanne ab.

„Für mich ist es Abend. Ich hatte einen langen Mittag.“ Mein Vater ließ sich mit einem Seufzen auf einen Stuhl am Esstisch fallen.

„Aha.“

„Ich mache viele Überstunden im Moment.“

„Mh.“ Gewissenhaft waschte ich den Schaum ab.

An all das hatte ich mich gewöhnt. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wie es vorher gewesen war oder wann es angefangen hatte. Wenn ich darüber nachdachte, wollte ich es eigentlich auch gar nicht mehr anders. Mit der Situation wie sie jetzt war kam ich gut zurecht. Sehr gut sogar. Für mich war alles bestens, vor allem, wenn ich allein in unserem Haus war. Und wenn er da war, ging ich ihm aus dem Weg. Entweder verzog ich mich in die obere Etage oder ganz weg. Es war das Beste. Für uns beide. „Ist sonst noch etwas? Ich muss jetzt los.“ Mit fest aufeinander gepressten Lippen drehte ich mich um und trocknete meine Hände an einem Geschirrtuch ab.

„Ist es nicht etwas früh, um mit deinen Freunden trinken zu gehen?“

„Wie kommst du darauf, dass ich trinken gehe?“

„Ich bin zwar nicht oft da, aber ich merke es, wenn du weg bist und ich höre es, wenn du da bist.“ Er sah müde aus. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, die Wangen waren eingefallen. Ein weiterer Punkt, der für mich nur Normalität darstellte Es war nichts Neues. Und seit drei Jahren sah er täglich ein klein wenig schlechter aus. Ein schleichender Prozess, der nicht aufzuhalten war. Wir wussten es beide. So wie wir auch beide wussten, dass es nie wieder besser werden würde.

„Falls es dich interessiert, ich gehe nur zu Benny. Wie du dich vielleicht erinnerst, hast du es arrangiert, dass ich ihm Nachhilfe gebe“, entgegnete ich spitz.

„Oh. Wie läuft es?“ Sofort veränderte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. Sein Blick wurde etwas weicher und beinahe verständnisvoll.

„Gut. Er macht Fortschritte“, entgegnete ich knapp und griff nach meiner Handtasche, die ich wieder vorbildlich gepackt hatte. Ich wurde echt noch zu einer Streberin.

„Und ihr… versteht ihr euch?“

„Ja. Ich bin zwei oder drei Mal in der Woche bei ihnen.“

„Das ist gut. Sehr gut. Er ist ein sehr netter Junge.“

„Ja, das ist er“, stimmte ich ihm mit einem leisen Seufzen zu und checkte mein Handy ein weiteres Mal. „War es das?“

„Jo, falls du mal jemanden mitbringen und mir vorstellen möchtest…“

„Keine Chance, Papa. Ich stehe nicht auf Benny“, unterbrach ich ihn und hob den Blick nur kurz von dem Display meines Handys. Milena hatte mir geschrieben, ob ich später nicht noch vorbeikommen wollte. Nichts lieber als das.

„Ich meine nur, falls… Ich würde mich freuen. Egal wen. Dann musst du die Herren nicht heimlich rausbringen.“

„Das habe ich noch nie getan und werde ich auch nicht tun“, erwiderte ich knapp und schulterte meine Tasche. „Du warst nur nie da und ich hatte keinen Grund, um dir irgendjemanden vorzustellen. Also, ich muss jetzt los. Wir sehen uns dann vielleicht morgen.“

Leise erwiderte er meine Verabschiedung. Ich hörte ihn kaum noch.

Unser Verhältnis war alles andere als gut. Und doch war das seit drei Jahren die einzige Art, wie wir beide miteinander auskommen konnten.

Es war fast schon eine Art Ritual, das ablief, wenn ich zu Benny ging. Marianna und Ariane, Bennys Mutter und Schwester, waren oft unterwegs und sein Vater war anscheinend nie da. Niemand erklärte mir, warum er immer unterwegs war und ich fragte auch nicht nach.

Benny drückte mich kurz zur Begrüßung und dann gingen wir gemeinsam ins Wohnzimmer. So auch heute. Benny war eigentlich immer gut aufgelegt, ich hatte ihn noch nie schlecht gelaunt oder aufgebracht gesehen. Er schaffte es, mich selbst an schlechten Tagen etwas aufzumuntern und mich zumindest zum Schmunzeln zu bringen.

Im Stillen bewunderte ich ihn für seine positive und ausgeglichene Art. Ich kannte meine eigenen Launen und konnte mir kaum vorstellen, jeden Tag mit einem breiten Grinsen durch die Gegend zu laufen. Aber ich hatte auch keine Ahnung, was in seinem Leben bisher alles passiert war. Oder ob er so behütet aufgewachsen war, dass er schlichtweg keine Sorgen kannte.

„Ich habe zwei Fragen an dich, Jo“, begann er, noch während wir auf dem Weg zu unserem angestammten Lernplatz waren. Eine Karaffe mit Wasser stand schon bereit.

„Zwei gleich? Eine für Mathe und eine für Englisch?“, neckte ich ihn und packte meine Bücher aus.

Benny rollte mit den Augen. „Nein, gar nichts von beidem. Okay, einmal brauche ich eher deinen Rat.“

„Du? Ist das sonst nicht immer andersrum? Vertraust du jetzt etwa doch auf meine Lebenserfahrung?“

Leise lachte er auf. „So würde ich es nicht ausdrücken. Ich glaube aber, dass du dich mit solchen Sachen besser auskennst.“

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Mit solchen Sachen?“

„Es geht um ein Mädchen“, sagte er nach kurzem Zögern.

Meine Mundwinkel zuckten. Das hatte ich nicht unbedingt erwartet, aber es amüsierte mich. So wie es mir gleichzeitig einen Stich versetzte. Vielleicht aufgrund der Erinnerung an Konstantin, auch wenn die mit jedem Tag etwas blasser wurde und der Schmerz in meiner Brust mit jeder Woche ein bisschen weniger schlimm. „Na dann schieß mal los. Wer ist denn die Glückliche?“

Er verzog das Gesicht ein wenig. „Ich weiß nicht, ob du das so sagen kannsst. Sie ist eine Freundin von mir, wir kennen uns schon lange“, begann er. Seine Worte wählte er mit Bedacht aus. Ich hatte ihn noch nie so nachdenklich gesehen. Noch nicht einmal beim Rechnen. „Und ich glaube, dass sie auf mich stehen könnte, aber ich bin mir nicht sicher.“

„Wie kommst du darauf?“

„Ich weiß nicht, ein Kumpel von mir meinte, dass es so wäre. Was ich für Unsinn halte, weil wir uns schon so lange kennen und so gut befreundet sind. Aber er meinte dann eben, dass sie sich in meiner Gegenwart nicht mehr so normal verhalten soll.“

„Was macht sie denn, was so anders sein soll?“

„Naja, sie hängt die ganze Zeit an mir und lacht über einfach alles, was ich sage. Sogar über jeden noch so dummen Spruch, glaub mir, ich hab das extra ausprobiert, nachdem Mo mir das gesagt hat. Und vor ein paar Tagen hat sie mich dann gefragt, ob ich nicht Lust hätte auf einen Filmeabend mit ihr. Ach, ich weiß nicht. Das ist wahrscheinlich total übertrieben und Mo interpretiert da einfach nur viel zu viel hinein.“

„Du kannst dumme Sprüche von dir geben?“

„Ab und zu gehen mir diie klugen Dinge aus, dann muss ich auf andere Sachen zurückgreifen“, bemerkte Benny trocken. „Also, du bist doch auch eine Frau. Ist das normal? Oder machst du das, wenn du auf jemanden stehst?“

„Keine Ahnung, ich bin nicht so anhänglich. Und ich glaube auch nicht, dass ich das so gut beurteilen kann. Vor allem, weil ich sie nicht kenne und nicht weiß, wie sie sich dir gegenüber verhält. Vielleicht möchte sie auch einfach nur Zeit mit dir verbringen, das könnte ja auch sein. Keine Ahnung, ich hatte noch nie eine Beziehung oder mich darum bemüht, eine zu bekommen.“ Ich zuckte nur mit den Schultern. Im nächsten Moment biss ich mir auf die Lippe. So viel hatte ich jetzt nicht unbedingt von mir erzählen wollen. Wir verstanden uns gut, das stand außer Frage, und er wusste auch viel über die Sache mit Konstantin, aber in meinem Kopf bestand noch immer eine gewisse Grenze. Vielleicht lag es daran, dass er so viel jünger war als ich. Und er hatte auch noch nie irgendetwas über sich selbst erzählt. Ich wusste eigentlich nichts von ihm abgesehen von seinem Alter, seinen Schwächen in der Schule und dass er gut zuhören konnte. Wenn ich so zurückdachte, hatten wir eigentlich immer nur über mich gesprochen.

„Du hattest noch nie eine richtige Beziehung?“

„Vergiss das wieder, das ist mir nur so rausgerutscht. Was ich damit sagen will ist, dass ich da die falsche Ansprechpartnerin bin. Ich hab sowas noch nie versucht. Von daher hab ich keine Ahnung. Kannst du da nicht mit deiner Schwester drüber reden?“

„Meine Schwester ist dreizehn.“

„Früh übt sich.“ Ich hob die Schultern.

Benny verzog nur das Gesicht. „Bitte nicht.“

Ich stimmte in sein Lachen mit ein. „Magst du sie? Also diese Freundin?“

„Natürlich mag ich sie. Wir kennen uns schon ewig.“

„Worauf wartest du dann noch? Probiere es aus und finde raus, ob es mehr ist als nur eine Freundschaft.“

Er wich meinem Blick aus und runzelte die Stirn. „Nein, ich glaube nicht, dass es so tief geht. Sie war einfach schon immer da. Wir waren schon in der Grundschule befreundet und auch im Gymnasium waren wir immer zusammen. Sie ist mehr eine zweite Schwester für mich. Vielleicht sieht sie nur Gespenster oder interpretiert zu viel hinein.“

„Das ist auch möglich.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Mehr kann ich dir leider auch nicht sagen. Vielleicht kann ich dir ja bei deiner zweiten Frage eine bessere Antwort geben“, wechselte ich schnell das Thema. Je länger wir darüber redeten, desto mehr störte mich die Vorstellung, dass irgendjemand anderes ihn interessant finden könnte.

„Nimm es mir nicht übel, aber du solltest besser bei der Nachhilfe bleiben. Deine Ratschläge sind nicht allzu hilfreich.“ Grinsend schüttelte Benny den Kopf.

Ich rollte mit den Augen. „Dafür sind meine Aussagen immerhin verständlich und nicht kryptisch verschlüsselt.“

„Das könntest du aber auch mal versuchen. Vielleicht liegt dir das ja ganz gut.“

Erneut verdrehte ich die Augen. „Also, was war deine zweite Frage?“

„Da kannst du mir auf alle Fälle eine Antwort geben, da brauche ich zum Glück keinen Ratschlag von dir.“ Er lächelte, aber nicht dieses typische Benny-Lächeln, das sein ganzes Gesicht strahlen ließ und bis zu seinen Augen reichte. „Hast du schon den neuen Film mit Elyas M’Barek gesehen?“

„Ähm, nein“, erwiderte ich etwas überfordert. Eine so simple und oberflächliche Frage war ich von Benny nicht gewohnt. Es irritierte mich, dass er überhaupt Filme anschaute.

„Hast du dann Lust, nächste Woche Freitag mit mir ins Kino zu gehen? Ich lade dich ein.“

„Du musst mich nicht…“

Er winkte ab. „Du opferst hier verdammt viel Zeit, um einem hoffnungslosen Fall wie mir etwas von Zahlen und anderen Sprachen zu erzählen. Du könntest genauso gut Spanisch mit mir sprechen und ich würde den Unterschied nicht merken. Also glaub nicht, dass du das ablehnen kannst.“

„Erstens bist du gar nicht so hoffnungslos wie du dich darstellst und zweitens hab ich dir doch schon gesagt, dass deine Mutter mich nicht allzu schlecht dafür bezahlt.“

„Ich weiß. Aber das, was meine Mutter tut, hat nichts mit mir zu tun. Und ich würde das sehr gerne tun. Also, bist du dabei?“

„Okay. Klar. Warum nicht? Wann und wo hast du dir denn gedacht?“, stimmte ich zu ohne groß nachzudenken.

„Ich habe bisher nicht weiter gedacht als dich zu fragen“, gestand Benny und fuhr sich grinsend durch die Haare. Eine der wenigen Situationen, in denen er tatsächlich etwas verlegen und unsicher wirkte und in denen ich erahnte, wie viel jünger er war. „Wir können es abkürzen und du gibst mir deine Nummer und ich schreibe dir dann, wo wir uns treffen, sobald die Zeiten draußen sind, zu denen der Film läuft?“

„Ah, du willst also nur an meine Nummer ran“, neckte ich ihn, holte aber ohne zu Zögern mein Handy hervor. „Das hätten wir schon lange machen können, dann wäre das alles ein bisschen einfacher gewesen.“

„Da ist was dran. Aber dann wäre es doch ein wenig langweilig und zu einfach gewesen, findest du nicht?“

„Hast du Hunger?“, fragte Milena ohne Umschweife, kaum hatte sie mir die Tür geöffnet.

„Ein bisschen. Noch kann mein Bauch sich nicht entscheiden, ob er endlich Ruhe gibt oder nicht.“ Ich verzog das Gesicht und presste eine Hand auf meinen Bauch. Einmal im Monat war es immer soweit und ich hasste es, eine Frau zu sein. Wer hatte sich das ausgedacht, dass es so verdammt wehtun musste, wenn man seine Tage bekam? Zum Glück hatte es erst innerhalb der letzten Stunde angefangen und nicht schon die ganze Zeit, während ich bei Benny war.

„Probieren wir es einfach aus und bestellen uns Pizza?“ Ohne auf eine Antwort zu warten ging sie die Treppen nach oben zu ihrem Zimmer. „Rafael und seine Kumpels haben heute Mittag unseren Kühlschrank geplündert und meine Eltern sind essen gegangen. Wahrscheinlich genau deshalb.“

Halbherzig stimmte ich ihr zu und ließ mich auf ihr Bett fallen. Jetzt kamen auch noch Kopfschmerzen dazu. Mein Körper musste mich wirklich hassen. Nicht einmal die frische Luft auf dem Weg zu Milena hatte mir geholfen.

„Also, was willst du? Wie immer? Champignons und extra Käse?“ Milena scrollte schon an ihrem Handy die verschiedenen Lieferdienste durch.

„Ja, passt“, murmelte ich und zog ebenfalls mein Handy hervor und schaute meine alten Chats durch. Die nächsten Minuten würde sie ohnehin nicht ansprechbar sein und ich schaute mir gerne die neuen Profilbilder der Leute an.

Wie automatisch blieben meine Finger an Konstantins Chat hängen. Geschrieben hatten wir nie miteinander. Es gab nur die Nachrichten, die er mir damals geschickt hatte. Bis vor ein paar Wochen hatte ich mir noch jeden Tag sein Profilbild angeschaut. Er sah so gut aus, ich konnte mich einfach nicht an ihm sattsehen. Jetzt hatte er ein neues. Von Amelie und ihm. Wie die beiden sich küssten.

Es fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen. Mir wurde übel und um ein Haar hätte ich mich auf Milenas Bett übergeben. Deutlicher konnte er es nicht machen. Ganz egal was Benny oder irgendjemand sonst sagte, das war nichts, was ich einfach abstellen konnte. Wie sollte ich das auch machen? Mit jedem weiteren Tag der verging, wurde es ein kleines bisschen besser. Und doch hatte Konstantin es irgendwie geschafft, mir komplett den Kopf zu verdrehen. Ich konnte es mir selbst nicht erklären. Dabei waren die letzten beiden Wochen so gut gewesen. Die Zeit mit Benny hatte mich abgelenkt und zum Lachen gebracht. Ich hatte wirklich geglaubt, dass es bald vorbei wäre.

Und jetzt das.

„So, erledigt. Ich hoffe nur, dass sie sich nicht allzu viel Zeit lassen.“ Zufrieden ließ sich Milena neben mich auf ihr Bett plumpsen. „Wie war es bei Nachhilfe-Benny?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Wie immer.“ Doch dann zögerte ich. Seit wann verheimlichte ich meiner besten Freundin etwas? Seit fast zwei Jahren erzählten wir uns alles. Ohne Ausnahmen. Sie kannte jede kleinste Kleinigkeit aus meinem Leben und ich aus ihrem.

Und sie kannte mich schon so gut, dass sie mein Zögern sofort bemerkte. „Aber? Irgendetwas fehlt doch noch. Was ist passiert, Jo? Hat er sich etwa an dich rangemacht?“

„Ach quatsch. Ich hab dir doch schon gesagt, dass es so nicht ist. Er… er hat mich ins Kino eingeladen“, sagte ich nach einem kurzen Zögern. Ich hatte Angst, dass sie es falsch verstehen könnte. Sie kannte ihn nicht und das machte es schwer für sie, die Situation zu verstehen.

„Was? Du hast doch nicht etwa zugesagt, oder?“

„Doch.“

„Dann habt ihr also ein Date? Mit dem kleinen Jungen? Jo, bitte, das ist doch nicht dein Ernst. Nur weil wir dich damit aufgezogen haben heißt das nicht, dass du das auch wirklich machen sollst.“

„Es ist kein Date“, widersprach ich ihr. „Wir verstehen uns ganz gut und ich wollte nicht ablehnen. Das wäre unhöflich gewesen.“

„Es ist sowas von ein Date. Hallo? Warum sonst würde er dich fragen, ob ihr am Valentinstag zusammen ins Kino geht?“

„Mit Sicherheit ein Zufall. Er wusste bestimmt nicht, dass Valentinstag am Freitag ist. Und du weißt, dass ich mir daraus nichts mache. Außerdem steht Benny nicht auf mich. Und ich auch nicht auf ihn“, bekräftigte ich wieder einmal.

„Bist du dir da sicher? Ihr seht euch verdammt oft in letzter Zeit.“

„Jetzt übertreib mal nicht, Milena. Ich gebe ihm Nachhilfe. Daran ist nichts romantisch.“

„Seid ihr immer allein?“

„Ja, aber…“

„Redet ihr immer ununterbrochen über Mathe?“

„Nein, weil…“

„Dann kann es ja fast nicht eindeutiger sein. Aber mal ehrlich, es ist doch nur logisch, dass er auf dich steht. Wer könnte das nicht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Du übertreibst schon wieder. Da läuft nichts und da wird auch ganz bestimmt nichts laufen.“

„Du weißt genauso gut wie ich, dass ich nicht übertreibe. Du bist heiß, Jo, und du solltest dich nicht an einen kleinen Jungen wie ihn verschwenden, der keine Ahnung von Mädels hat.“

„Ich will nichts von ihm und stehe auch nicht auf ihn. Genauso wie er nicht auf mich steht“, wiederholte ich ein weiteres Mal. Genervt stieß ich die Luft aus. Ich hatte keine Lust auf eine solche Diskussion. Milena kannte ihn nicht und konnte das alles auch nicht nachvollziehen. Sie hatte kaum männliche Freunde. Jeder Kerl war für sie ein möglicher Partner. „Jetzt hör doch mal auf damit. Da ist nichts und wird auch nichts sein.“

Milena schwieg für einen Moment, den Mund fest zusammengekniffen. „Du machst dich nicht glaubwürdiger, indem du das immer wieder sagst.“

„Was soll ich denn sonst tun?“ Ich verdrehte nur die Augen.

„Lad dir Tinder runter und triff dich mit ein paar Jungs, die heiß und in deinem Alter sind. Das wäre zumindest ein Anfang. Und… du könntest eine Menge Spaß haben.“

„Moment, Milena, willst du mir da etwas erzählen?“ Grinsend setzte ich mich auf. Ich war froh über den Themenwechsel und die Möglichkeit, von mir abzulenken.

Sie zuckte mit den Schultern, aber das breite Grinsen in ihrem Gesicht sprach Bände. „Ich treffe mich morgen Abend mit jemandem.“

„Was? Und das erzählst du mir erst jetzt? Wie kannst du mich so lange ausquetschen, ohne selbst einen Ton von dir zu geben?“

„Ich musste erst sichergehen, dass zwischen dir und dem Nachhilfe-Jungen nichts ist. Ich will nicht, dass meine beste Freundin ins Gefängnis kommt.“

Ich rollte mit den Augen, verzichtete aber darauf ihr ein weiteres Mal zu sagen, dass sie maßlos übertrieb. Und dass ihre Sorgen komplett unnötig waren. „Na los, jetzt erzähl mir schon, was bei dir los ist. Wer ist es? Wie sieht er aus?“

„Versprichst du mir, dass du dir dann auch Tinder runterlädst und mal ein paar Kerle matchst? Wäre nicht schlecht, dann hast du auch ein bisschen Ablenkung nach allem, was mit Konstantin war.“

„Milena, ich…“

„Du… was? Hängst vielleicht doch an Nachhilfe-Benny?“ Sie zog die Augenbrauen hoch.

Wütend funkelte ich sie an. „Nein, tue ich nicht. Aber es wäre komplett sinnlos, wenn ich mir…“

„Ha! Also doch. Du suchst nur Ausreden, warum du es nicht machen solltest. Weil dir doch irgendetwas an dem Kleinen liegt.“

„Hör auf, ihn als Kleinen zu bezeichnen.“

Milenas Augenbrauen wanderten immer weiter in die Höhe.

Leise seufzte ich. „Du kennst ihn nicht. Er ist wirklich total in Ordnung und ich mag ihn, wir verstehen uns wirklich gut. Was nicht heißt, dass ich auf ihn stehe. Und Tinder will ich nicht, weil ich die Leute lieber so treffe. In Bars oder Clubs, wie bisher auch. Dazu brauche ich keine App.“

Ich sah es in Milenas Augen, dass sie es mir nicht glaubte. Und ich wusste, dass ich sie nicht davon überzeugen konnte, dass das zwischen Benny und mir wirklich nur rein freundschaftlich war. Sie konnte sehr starrsinnig sein und beharrte oft auf ihrer Meinung und ließ sich nicht umstimmen. Wahrscheinlich würde ich sie erst am Tag nach dem Treffen im Kino davon überzeugen können, dass das zwischen Benny und mir nichts war. Was wollte ich auch von einem Jungen, der so viel jünger war als ich? Aber Milena schien das alles nicht zu sehen.

Die Türklingel unterbrach unser Schweigen. „Ich gehe“, sagte Milena sofort und sprang auf. „Warte ruhig hier.“

Die Tür zu ihrem Zimmer fiel hinter ihr ins Schloss. Ich hörte ihre Schritte, wie sie schnell die Stufen hinuntersprang und dann die Tür öffnete. Kurz zog ich mein Handy hervor und checkte meine Nachrichten. Benny hatte mir noch nicht geschrieben.

In den nächsten drei Tagen checkte ich mein Handy übertrieben oft. Ich suchte nach immer mehr Ausreden, um mein Verhalten vor mir selbst zu rechtfertigen. Keine davon war auch nur ansatzweise plausibel. Je mehr Zeit verging, desto mehr ärgerte es mich, dass ich nichts von Benny hörte. Und dann ärgerte ich mich darüber, dass ich mir überhaupt Gedanken darüber machte. Aber warum fragte er mich überhaupt nach einem Treffen, wenn er sich dann so lange nicht meldete? Blöderweise hatten wir unseren nächsten Termin für die Nachhilfe auch erst wieder für Sonntag ausgemacht, ich würde ihn davor also nicht mehr zufällig darauf ansprechen können.

Warum wollte ich ihn vorher überhaupt noch sehen? Und warum machte ich mir solche Gedanken darüber? Das war nicht ich. Das passte nicht zu mir. Überhaupt nicht. Meine Gedanken drehten sich viel zu häufig um Benny. Wie hatte er das nur geschafft?

Am Mittwoch fehlte Milena in der Uni. Schon am Abend zuvor hatte sie mir geschrieben, dass sie nicht kommen würde. Sie hatte ihr Date mit dem Typen von der App und anscheinend lief es so gut, dass sie es am Morgen danach nicht in die Uni schaffen würde. Es freute mich für sie und ich nahm es ihr auch alles andere als übel, dass sie nicht kommen würde. Sie sollte ruhig ihren Spaß haben, den hatte sie sich verdient.

„Und, was sind eure Pläne für Freitag?“, fragte Valentina in der Mittagspause in die Runde. Wir saßen an unserem Stammplatz in der Kantine. Langsam leerte es sich wieder, sodass ich wieder die Worte von den Leuten um mich herum verstehen konnte. „Ich meine, es ist Valentinstag. Da plant doch jeder etwas Besonderes, nicht wahr?“ Sie wackelte mit den Augenbrauen.

„Hat Kris sich etwas Schönes für dich ausgedacht?“, fragte ich sie und schob meinen Teller von mir weg.

„Oh ja, das hat er.“ Sie grinste breit. Die beiden waren schon ewig zusammen, aber immer noch verliebt wie am ersten Tag. Einfach nur süß. Ich konnte mir kein schöneres Paar als die beiden vorstellen. „Er will es mir nur noch nicht verraten“, seufzte sie.

„Letztes Jahr habt ihr doch diesen Kurztrip nach Wien gemacht, oder?“, erinnerte sich Selina.

„Oh ja, das war so romantisch“, seufzte Valentina und lächelte selig. Kurz schloss sie die Augen. Sie hatte diesen Ausdruck, den nur frisch Verliebte hatten. Irgendwie beneidete ich sie darum, obwohl ich weit davon entfernt war, selbst eine Beziehung zu wollen. Vor allem nach der Sache mit Konstantin. Der Schmerz saß noch immer tief in meiner Brust und ich wollte das definitiv nicht noch einmal erleben. „Vielleicht fahren wir ja nach Paris? Hm, mal abwarten.“

„Hat er irgendwelche Andeutungen gemacht?“

„Noch nicht wirklich. Nur, dass es eben außergewöhnlich schön wird. Aber das ist es immer mit ihm. Daher könnte es wirklich alles sein.“ Sie lächelte. „Und bei euch? Xenia?“

„Nichts Neues. Ich bin Single.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht gehen wir auf eine Singleparty“, warf Selina ein.

„Tut das nicht. Macht euch lieber selbst einen netten Abend mit Filmen, Pizza und Schokolade“, meinte ich. „Auf solchen Singlepartys am Valentinstag triffst du wirklich nur verzweifelte Kerle und die willst du wirklich nicht haben.“

„Du sprichst aus Erfahrung?“ Neugierig schaute Selina mich an.

Ich zuckte mit den Schultern. „Einmal, als ich gerade achtzehn geworden bin, war ich auf so einer Party. Danach nie wieder. Und das hat auch seinen Grund.“

Selina und Xenia diskutierten noch ein wenig weiter, was sie tun sollten. Mein vibrierendes Handy in meiner Hosentasche lenkte mich ab. Mein Herz schlug etwas schneller, als ich Bennys Name auf dem Display sah. Ich öffnete die Nachricht, sperrte den Bildschirm aber gleich wieder, als sich jemand neben mich setzte. Das ging niemanden etwas an.

„Hey Mädels, na, was geht?“ Mike zog seinen Stuhl etwas näher an den Tisch heran. Er hing nur ab und an mit uns ab. Außerdem war Mike einer der besten Freunde von Konstantin. Bisher hatte ich mich immer gefreut, wenn er sich zu uns gesellt hatte, denn das bedeutete, dass Konstantin bei ihm war. Und eben dieser setzte sich einen Platz weiter auf die gleiche Seite. Unwillkürlich rückte ich etwas näher an Valentina heran, die rechts von mir saß.

„Wir erörtern gerade unsere Pläne für den Valentinstag“, plapperte Xenia einfach drauflos, als wäre nie etwas geschehen. Sie hatte wirklich ein Spatzenhirn. „Was habt ihr vor? Gehst du romantisch mit Amelie aus, Konstantin?“

„Wir… machen etwas Lockeres. Ein schöner gemeinsamer Abend“, erwiderte er etwas zurückhaltend aber mit einem leisen Lächeln auf den Lippen. Er schaute kein einziges Mal zu mir herüber. Ich wandte meinen Blick schnell wieder ab. Ich wollte ihn nicht sehen und ich wollte nichts wissen über seine romantischen Aktionen für Amelie.

„Mit Kerzen? Und ein wenig Wein?“ Xenia wackelte mit den Augenbrauen.

„Das, meine Liebe, geht dich nichts an.“

„Dann frag ich einfach Amelie am Wochenende danach.“ Sie blinzelte ihm zu.

Ich nahm wieder mein Handy in die Hand und rief die neue Nachricht auf. Es war schwer, mein Telefon so zu halten, dass mir weder Mike von links noch Valentina von rechts auf das Display schauen konnte.

„Und was machst du, Jo? Du hast noch gar nichts gesagt“, wandte Selina sich an mich. „Oder machst du einen Filmeabend mit Milena?“

„Oh, nein. Ich bin verabredet“, erwiderte ich locker. Es tat gut, das so vor Konstantin zu sagen. Er sollte nicht glauben, dass er mein Leben in irgendeiner Weise beeinflusste. Sollte er ruhig sehen, was er verpasste. Tatsächlich glaubte ich, dass sein Blick kurz einmal zu mir herüber flackerte. Schnell und unauffällig. Kaum zu bemerken.

„Mit wem denn? Erzähl mal, ich wusste gar nicht, dass du dich mit neuen Kerlen triffst“, bohrte Valentina sofort nach.

„Nur ein Freund. Nichts Besonderes.“

„Ist es Benny? Der von der Nachhilfe?“ Xenias Augen blitzten auf.

Ich öffnete den Mund, doch bevor ich etwas sagen konnte, leuchtete das Display meines Handys erneut auf und Bennys Name war darauf groß und deutlich zu lesen. Verräter.

„Oh, was schreibt er dir denn?“ Neugierig lehnte Valentina sich zu mir herüber.

„Nur wegen Freitag. Wir gehen ins Kino zusammen. Mehr nicht.“ Ich ärgerte mich über die Blicke, die sich Xenia und Selina sogleich zuwarfen. Warum glaubten eigentlich alle, dass ich auf Benny stehen würde oder er auf mich? Konnte es nicht einfach Freundschaften zwischen Männern und Frauen geben? Die beiden waren doch nur neidisch, weil sie selbst kein Liebesleben hatten.

„Zeigst du mir sein Profilbild? Ich hätte gerne mal ein Bild von ihm“, fragte Valentina.

Ich rollte mit den Augen, ich hatte es mir ja selbst nicht angeschaut, gab aber doch nach und rief den Chat auf. Bewusst schnell tippte ich die Nachrichten weg. Unsere Planung für Freitag ging sie ja nichts an. Und ich wollte auch vor den beiden Jungs nicht weiter darüber sprechen. Es war cool gewesen, solange ich geheimnisvoll tun konnte und Benny als irgendeinen mysteriösen Unbekannten dastehen lassen konnte.

„Oh wow, er sieht wirklich gut aus. Man sieht ihm nicht an, dass er jünger ist“, bemerkte Valentina.

Ich war Valentina dankbar, dass sie das sagte. Konstantin war eben nicht das einzige gutaussehende männliche Wesen auf dem Planeten. Insgeheim musste ich Valentina zustimmen. Das Bild ließ Benny in einem extrem guten Licht dastehen. Seine kantigen Gesichtszüge kamen gut zur Geltung und er wirkte deutlich älter. Er sah überhaupt nicht aus wie sechzehn. Er hätte locker in unserem Alter und auf der Uni sein können.

„Okay, dann gehen wir mal weiter, wenn ihr nur über so Mädelszeug quatscht“, seufzte Konstantin und stand auf. „Wir sehen uns dann in den Vorlesungen.“

Widerwillig folgte Mike ihm und die beiden verschwanden so schnell wieder, wie sie gekommen waren. Zu gerne hätte ich mich selbst noch einmal umgedreht, um den beiden Jungs, vor allen Dingen aber Konstantin, hinterherzuschauen. Um zu wissen, ob er sich ebenfalls noch einmal nach mir umdrehte. Aber ich tat es nicht und ersparte mir damit selbst den Schmerz der Ablehnung.

„Trainiert er?“ Valentina deutete auf das Bild, das noch immer auf meinem Handy zu sehen war.

„Keine Ahnung. Wir haben uns bisher hauptsächlich über die Schuke unterhalten.“ Ich zuckte mit den Schultern und steckte mein Handy schnell wieder ein. Mit ihnen hatte ich genug über Benny gesprochen. Mehr brauchten sie nicht zu wissen.

„Finde es raus. Und dann mach dir einen schönen Abend.“ Valentina zwinkerte mir zu.

„Sieht er so gut aus?“, hakte Selina nach, die wohl selbst darauf spekulierte, das Bild zu sehen.

„Oh ja“, bestätigte Valentina.

„Zeig mal her.“

„Wir müssen langsam weiter, wenn wir noch gute Plätze im Hörsaal bekomen wollen“, wich ich aus. „Später dann.“ Und damit stand ich auf und brachte mein Tablett weg. Natürlich würden sie später kein Bild zu sehen bekommen. Warum auch? Damit sie wieder darauf herumreiten konnten, dass ich auf ihn stehen würde? Darauf konnte ich verzichten.

Innerlich seufzte ich auf. Wo war Milena eigentlich, wenn ich sie einmal brauchte? Wobei, vielleicht war es besser, dass sie heute nicht da war. Ich vermisste sie in den Vorlesungen, das auf jeden Fall. Aber sie hätte auch mit Sicherheit wieder damit angefangen, dass Benny ja so auf mich stehen würde. Und ich war tatsächlich froh darüber, es einen Tag lang nicht hören zu müssen.

Ungeduldig schaute ich auf meine Uhr. Zwei Minuten nach acht. Er war zu spät. allein stand ich vor dem Kino in der Innenstadt und wartete darauf, dass er endlich auftauchte. Die Blicke der vorbeigehenden Passanten nervten mich. Ihre Gedanken waren ihnen geradezu ins Gesicht geschrieben. Die Arme, sie wird am Valentinstag versetzt.

Ich warf meine Haare zurück. Ich war niemand, der versetzt wurde. Drei Minuten hatte er noch und dann…

Noch bevor ich den Gedanken zu Ende denken konnte hielt ein Auto nur wenige Meter von mir entfernt an und Benny sprang heraus.

„Hey Jo, danke, dass du gewartet hast. Der Verkehr war die Hölle“, begrüßte Benny mich und drückte mich wie immer kurz zur Umarmung.

„Kein Problem.“ Ich lächelte. Ein vorbeilaufendes Pärchen schaute schnell zur Seite. „Wie geht es dir? Hattest du Stress?“

Er winkte ab und hielt mir die Tür zum Kino auf. „Nicht der Rede wert. Ariane hat mich etwas aufgehalten und dann durften wir an wirklich jeder Ampel halten. Glaub mir, es war einfach schrecklich.“ Er lachte. „Ich hatte wirklich Glück, dass du nicht einfach weggelaufen bist.“

„Ich war kurz davor“, erwiderte ich, halb im Scherz.

„Na dann hab ich ja wirklich Glück gehabt“, grinste er und zwinkerte mir zu.

„Möchtest du etwas zu essen? Oder trinken?“, fragte ich und deutete auf die Snackbar. „Dann kümmere ich mich darum, während du die Karten holst.“

„Karten hab ich schon online gekauft. Und ich hab gesagt, dass ich dich einlade, da kannst du nicht…“

„Keine Widerrede. Du hast nur etwas von Karten gesagt, Snacks waren nicht mit inbegriffen. Außerdem habe ich sonst ein schlechtes Gewissen. Sag mir einfach, was du willst“, erwiderte ich energisch. Es sollte sich weniger nach einem Date anfühlen und mehr nach einer lockeren Verabredung, was es auch war.

„Aber ich habe dich eingeladen.“

„Ja und? Also, was möchtest du?“

„Ganz klassisch Popcorn. Aber lass uns wenigstens gemeinsam anstehen.“

„Okay.“ Ich fühlte mich etwas unwohl. Vor uns stand ein Pärchen. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und sie schien beinahe in ihn hineinkriechen zu wollen. Immer wieder schauten sich die beiden tief in die Augen und kicherten zusammen. Ich brauchte nicht hinter mich zu schauen um zu wissen, dass es da genauso aussehen würde.

„Wie geht es dir? Hattest du viel zu tun in der Uni?“, fragte Benny. Es war das erste Mal, dass zwischen uns so etwas wie unangenehme Stille herrschte.

Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht mehr als sonst auch. Meine beste Freundin war die letzten zwei Tage krank, daher war es ein wenig langweilig.“

„Geht es ihr wieder besser?“

„Ich glaube, dass das eher daran liegt, dass ihr Typ sie direkt nach dem ersten Date wieder sitzen gelassen hat. Das macht ihr wahrscheinlich etwas zu schaffen.“

„Autsch. Das ist nicht sonderlich schön.“

„Auf keinen Fall.“ Ich seufzte. „Die Arme. Dabei war sie so begeistert von dem Typen.“

„Wie haben sie sich kennengelernt?“

In der Schlange ging es nur langsam vorwärts. Das Pärchen vor uns schien sich beinahe auffressen zu wollen. Ich drehte meinen Geldbeutel zwischen meinen Fingern hin und her um sie nicht ansehen zu müssen. „Über eine App. Sie haben auch nur geschrieben und sich einmal getroffen, aber dafür dann ziemlich lange und anscheinend war er von ihr wohl genauso angetan wie sie von ihm. Hat sie zumindest erzählt. Und dann kam danach irgendwann die Nachricht, dass das nichts wird und wohl nur eine einmalige Sache war.“

Benny seufzte. „Er hätte es ihr wenigstens gleich sagen können.“

„Ja, eigentlich schon. Sie sucht sich aber auch immer die falschen Typen aus. Manche Leute haben einfach das Talent, sich immer die falschen Kerle rauszusuchen.“

„Redest du von dir selbst?“

Ich spürte seinen Blick auf mir, schaute aber stur weiter geradeaus. Er spielte auf Konstantin an und das wollte ich nicht hören. Am besten nie wieder. Ich wollte nicht daran denken, was er gerade Romantisches mit seiner Freundin machte. Allein bei dem Gedanken drehte sich mir der Magen um und mir wurde übel. Vielleicht hatten sie ja auch gerade ihr erstes Mal. Der Griff um meinen Geldbeutel wurde immer fester. Das Pärchen vor uns hatte nun endlich aufgehört zu knutschen und bestellte stattdessen. Endlich. Ich wollte ihnen nicht länger zusehen.

„Jo?“

„Nein, ich rede nicht von mir. Das war nur ein einziges Mal“, erwiderte ich steif und ging dann einen Schritt weiter nach vorne an den Tresen.

Benny erwiderte nichts darauf. Vorübergehend. Er würde die Antwort mit Sicherheit nicht einfach so stehen lassen.

„Und du? Hast du dir bisher die falschen Mädchen ausgesucht?“, fragte ich ihn einige Minuten später, als wir mit unseren Popcorntüten in Richtung Kinosaal schlenderten. So hatte er zumindest keine Chance mich noch weiter auszufragen.

„Nein“, erwiderte er schlicht und zeigte kurz das elektronische Ticket vor.

„Was? Keine weiteren Ausführungen?“ Er ging vor mir die Stufen hinauf, sodass er nicht sehen konnte, dass ich spöttisch eine Augenbraue hochgezogen hatte. Dafür war ich auf Augenhöhe mit seinem Hintern und musste sofort an Valentinas Frage nach Sport denken. Schnell schob ich den Gedanken beiseite. Das hier war kein Date.

Benny lachte auf und drückte sich an einigen Pärchen in der Reihe vorbei. Im ganzen Kino schien sich kein einziger Single aufzuhalten. Benny und mich einmal ausgenommen. Vorsichtig balancierte ich meine Tüte an den anderen vorbei. Unsere Plätze waren ganz am Rand des Saals. Neben Benny war nur noch die Wand.

„Soll ich das denn weiter ausführen?“ Er schmunzelte und drehte sich zu mir herüber.

„Es wäre untypisch für dich, wenn du es nicht tun würdest“, entgegnete ich trocken. „Also?“

„Interessiert es dich denn?“

„Würde ich dich sonst fragen?“

Er neigte den Kopf. „Noch kann ich dich nicht ganz einschätzen, Joanna.“

„Ich frage nur selten nach, wenn es mich nicht interessiert. Also, ich bin gespannt.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte ich mich zurück.

„Gut, wie du willst. Ich erzähle dir gerne aus meinem Leben. Aber du musst meine Einstellung nicht teilen.“

„Das sagst du jedes Mal“, warf ich ein.

Er zögerte. Sein Blick wanderte kurz durch den ganzen Raum, nur nicht zu mir. Ich hob die Augenbrauen, wartete auf seine Antwort. „Ich glaube, dass es keine falschen Menschen gibt. In Beziehungsfragen oder allgemein, was das Leben betrifft. Sondern…“ Er stockte. Das Licht wurde abgedunkelt und der Vorhang vor der Leinwand fuhr zur Seite. Der Vorspann flackerte über die Leinwand. Um uns herum wurde es ruhig. Benny lehnte sich zur mir rüber und sprach leiser weiter. „Ich erkläre es dir später, okay? Wie wäre es, wenn wir solange versuchen, die Werbung zu erraten? Also sobald ein Spot beginnt, versuchst du zu erraten, welche Firma oder was für ein Produkt beworben wird.“

„Ähm… okay“, erwiderte ich ebenso leise. Dieser plötzliche Wechsel verwirrte mich. Es klang viel zu banal und unbedeutend für ihn. Es gab nur eine Sache, bei der ich mir eindeutig sicher war, wenn es um Benny ging. Er war anders und weder oberflächlich noch langweilig.

Ich ließ mich auf das kleine Spiel ein und nach einigen Werbespots waren wir beide nur noch am Kichern und versuchten, unser Lachen zu unterdrücken. Manche Spots waren einfach nur absurd, andere viel zu lange und andere standen in keinerlei Zusammenhang mit dem Produkt, das sie eigentlich bewerben sollten. Es war witzig, die beste Werbung die ich je gesehen hatte. Ohne Frage. Fast hoffte ich, dass die Spots nie enden würden.

Als dann aber doch das Licht noch weiter gedimmt wurde und den Beginn des Films ankündigte, lehnte ich mich mit einem entspannten Seufzen in meinem Sitz zurück. Meine Hand fand wie von selbst in die Popcorntüte.

„Ich glaube, ich habe es dir noch nicht gesagt, aber du siehst gut aus“, flüsterte Benny mir zu. Sein Atem kitzelte an meinem Ohr. Ich bekam eine Gänsehaut. Meine Hand erstarrte auf dem Weg zurück zu meinem Mund. Mein Herz schlug auf einmal im doppelten Tempo weiter.

Nur Freunde. Es bedeutet nichts, sagte ich mir selbst immer wieder in Gedanken. Auch Freunde machten sich gegenseitig Komplimente. Mit einem Lächeln wandte ich mich zu ihm, aber er schaute schon wieder weg. Das Licht der Leinwand erhellte sein Gesicht, betonte seine markanten Gesichtszüge. Er sah älter aus. Und irgendwie wirklich… gut.

Geräuschvoll schluckte ich das Popcorn hinunter. Aber ich fand nicht den Mut, ihm das Gleiche zu sagen. Es wäre komisch und auch nicht angebracht.

Stattdessen wandte ich mich ebenfalls der Leinwand zu und versuchte, mich auf die Handlung des Filmes und das großartige Aussehen von Elyas M’Barek zu konzentrieren. Im Laufe des Filmes ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich zu Benny hinüber schielte. Nicht nur wenn ich sein Lachen hörte, sondern auch in den stillen Momenten. Ein einziges Mal während des gesamten Filmes kreuzten sich unsere Blicke. Er lächelte. In meiner Magengegend begann es leicht zu kribbeln, als ich es erwiderte. Etwas, das ich noch nie gespürt hatte. Es war merkwürdig. Und schön zugleich.

„Hat es dir gefallen?“, fragte Benny noch während der Abspann über die Leinwand flimmerte.

„Ja. Danke für die Einladung.“ Ich lächelte. Um uns herum herrschte schon Aufbruchsstimmung. Aber ich blieb gerne noch etwas sitzen. Ich wollte den Moment und diese Leichtigkeit noch ein wenig festhalten.

„Ich danke dir, dass du ja gesagt hast.“ Und da war es wieder, dieses Lächeln, das für ihn so typisch war. Ich hätte nie gedacht, dass ein Lächeln einen Menschen so attraktiv machen konnte, wie es bei Benny der Fall war.

„Wie hätte ich auch ablehnen können? Du hast mich ja quasi gezwungen.“

„War ich wirklich so schlimm?“ Verlegen fuhr er sich durch die Haare.

„Nicht ganz.“ Lachend schlüpfte ich in die Ärmel meines Mantels. „Also, wollen wir auch?“ Unsere Reihe war fast leer.

Wir redeten nicht viel, während wir uns in die Schlange der vielen anderen Menschen einreihten, die ebenfalls in Richtung Ausgang drängten. Um uns herum herrschte leises Gemurmel.

„Wie kommst du nach Hause? Oder gehst du vorher noch woanders hin?“, fragte Benny, als wir wieder an der frischen Luft waren.

Die klare Nachtluft war belebend nach dem langen Sitzen in dem dunklen Kinosaal. Tief atmete ich ein. „Nein, ich habe nichts mehr vor. Milena ist ja krank, sonst wäre ich noch zu ihr gegangen. Wenn du möchtest, können wir noch weggehen. Ich kenne ein paar nette Ecke hier.“

„Das ist nett von dir, Jo, aber ich bin sechzehn. Je nachdem, was das für eine Ecke ist, komme ich da nicht mehr rein.“

„Verdammt, stimmt. Hab ich total vergessen, tut mir leid.“

„Macht nichts. Wenn du möchtest, können wir ja nach Hause laufen.“

„Laufen?“ Ich blinzelte. Und noch einmal. Bestimmt fing er gleich an zu lachen, weil er das nicht ernst meinte und es nur ein dummer Witz war. „Das sind mit Sicherheit…“

„Knappe zwei Stunden“, erwiderte er ohne zu Zögern. „Hab ich schon einmal gemacht. Ist eigentlich ganz nett und entspannter als mit dem Bus zu fahren.“

„Aber… Es ist unheimlich weit.“

„Fünf oder sechs Kilometer vielleicht. Also durchaus machbar. Bist du dabei? Ich finde Spazierengehen auch immer eine tolle Möglichkeit, um sich zu unterhalten.“

„Ja, klar.“ Ich rollte mit den Augen, was Benny aber nicht bemerkte. Genauso wenig wie den sarkastischen Unterton in meiner Stimme.

„Super, dann auf geht es.“ Voller Motivation ging Benny voraus.

„Warte, was? Du meinst das echt so richtig ernst?“ Fassungslos schaute ich ihm nach.

„Komm schon, Jo, es ist echt schön nachts einen Spaziergang zu machen. Vetrau mir, ich kenne den Weg. Und zur Not können wir unterwegs noch immer in einen Bus einsteigen.“

Kopfschüttelnd folgte ich ihm. Was war schon dabei? Ich hatte ja sowieso nichts mehr vor heute Abend. Dass er einen Knall hatte war jetzt eindeutig und eigentlich sollte es mich gar nicht überraschen. „Machst du so etwas öfter? Oder bist du einer dieser heimlichen Sportverrückten?“

„Nein und nein. Zumindest nicht ganz“, lachte er, die Hände tief in den Taschen vergraben.

„Was willst du damit sagen?“

„Nein, ich mache so etwas nicht öfters. Nur ab und zu. Und ich bin auch nicht heimlich verrückt nach Sport. Ich stehe ganz offen dazu“, lachte er.

„Das habe ich bisher noch gar nicht bemerkt.“

„Du hast mich auch noch nie danach gefragt.“

„Hätte ich das tun sollen?“

„Nein. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sofort allen erzählen, wie toll sie sind und was sie können.“

„Du hörst mehr zu und verteilst semi kluge Ratschläge.“

„Genau.“ Er schenkte mir ein warmes Lächeln. „Und ich glaube, dass das hin und wieder auch ganz gut ist.“

„Solange du mehr zuhörst als selbst zu reden…“, scherzte ich und bekam dafür gleich seinen Ellenbogen in meinen Rippen zu spüren. „Okay, kleiner Spaß am Rande. Du wolltest mir auch noch die Frage weiter beantworten, warum es deiner Meinung nach keine falschen Menschen gibt.“

„Richtig.“ Er machte eine kurze Pause und grüßte eine vorbeigehende Frau. „Also, ich glaube daran, dass du Menschen immer aus einem bestimmten Grund triffst. Manche triffst du, um eine gute Zeit zu haben, für Spaß und um dich zu amüsieren. Von wieder anderen kannst du lernen und dich weiterentwickeln. Sie sind gut für dich und helfen dir, in einer bestimmten Situation in deinem Leben weiterzukommen. Auf welche Art und Weise auch immer. Vielleicht ist es bei deiner besten Freundin genauso, dass dieser Typ ihr hilft, sich weiter zu entwickeln oder es hilft ihr dabei, in eine andere Richtung zu gehen. In eine, in die sie sich bisher noch nicht getraut hat. Das kann sie jetzt nicht wissen und vielleicht wird es sich auch erst in ein paar Wochen, Jahren oder Monaten zeigen. Aber sinnlos wird es nicht gewesen sein, dass der Kerl sie schnell wieder abserviert hat. Auch wenn es jetzt nicht schön sein mag, es wird seinen Grund haben.“

„Das heißt also, dass du von diesen ‚falschen‘“, ich malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, „Menschen im Endeffekt nur lernst?“

„Nicht unbedingt. Meiner Meinung nach brauchst du auch ein gewissese Maß an Reflexion, um das zu merken. Sonst machst du unter Umständen so weiter wie bisher auch und begehst die gleichen Fehler ein ums andere Mal. Sozusagen eine Art Teufelskreis oder ein Muster. Das Leben konfrontiert dich mit den Aufgaben, die du noch nicht gelöst hast in deinem Leben. Und das so lange, bis du es schaffst dieses Muster zu durchbrechen. Wenn du es irgendwann erkennen kannst, dann kannst du vielleicht auch damit aufhören, die Menschen um dich herum und in deinem Leben in richtig und falsch zu unterteilen.“

„Du widersprichst dir selbst ein wenig.“

Seine Augenbrauen hoben sich ein wenig. „Inwiefern?“

„Na ja, du hast ja gesagt, dass man aus diesen Menschen lernt oder dass diese Menschen dich in eine gewisse Richtung lenken. Und jetzt meinst du, dass man das erkennen muss und diese… Offenheit oder den Blick dafür braucht, damit das eintreten kann. Das wiederum würde ja bedeuten, dass wir gar nicht von den Menschen aus unserem Leben lernen können, wenn uns dieses Verständnis fehlt.“

„Offenheit, das ist ein gutes Wort“, murmelte Benny in seinen Schal hinein. „Aber du bist aufmerksam, das gefällt mir.“ Er lächelte. „Ich glaube, ich habe es nicht so gut ausgedrückt, lass es mich noch einmal probieren. Um aus solchen Situationen zu lernen ist es von Vorteil, wenn du dich selbst reflektieren kannst, sonst projizierst du es einfach nur auf dein Gegenüber. Also du gibst den anderen immer die Schuld daran, dass das, was ist, nicht richtig ist. Oder um es auf deine beste Freundin zu übertragen, dass sie dem Kerl die Schuld dafür gibt, dass er sie hat sitzen lassen.“

„Hat er ja auch“, warf ich ein.

„Ja, er hat sie sitzen gelassen. Aber kennst du die ganze Geschichte? Weißt du, was sie vorher geschrieben haben? Vielleicht, und das ist nur eine Vermutung, weil ich sie nicht kenne, ist irgendetwas in ihrem Leben passiert, weshalb sie sich nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnt. Und am Ende ist dieses Verlangen so ausgeprägt, dass sie sich etwas eingebildet und einfach wahnsinnig viel Hoffnung in diesen Typen gesetzt hat, den sie gar nicht so gut kannte, und sich an ihn geklammert hat, ohne den Blick dafür zu haben, was wirklich ist. Im Endeffekt wollte er vielleicht nur höflich sein und sie hat es als Versprechen aufgefasst. Verstehst du?“

„Nicht ganz, nein. Es sei denn du willst mir sagen, dass sie einen Fehler gemacht hat, dass sie sich auf ihn eingelassen hat.“

„Nein, das meinte ich so nicht.“ Er zögerte kurz. Seine Stirn war gerunzelt. „In dem Moment, in dem sie sich so an ihn geklammert, sich so auf ihn fokussiert hat, kann es sein, dass sie sich selbst den Blick für anderes genommen hat, was um sie herum ist. Sie wollte unbedingt diesen einen Kerl, dabei… keine Ahnung, sitzt vielleicht ein anderer vor ihrer Nase oder sie ist einfach nicht bereit dafür, eine feste Beziehung zu haben, weil es Dinge in ihrem Leben gibt, die nicht gelöst sind und die ihr im Weg stehen, um weiterzukommen. Vielleicht ist es auch eine fehlende Selbstakzeptanz, weshalb sie die Liebe im Außen und bei anderen sucht anstatt bei sich selbst.“

„Ich verstehe immer noch nicht ganz, was du damit ausdrücken möchtest“, gestand ich. „Du meinst ja, dass sie sich nicht auf diesen einen Typen hätte fixieren sollen. Aber das machen wir automatisch, wenn wir verliebt sind.“

„War das wirklich Liebe bei deiner besten Freundin? Wie lange sagtest du, kannte sie ihn schon?“

„Sie haben erst ein paar Tage geschrieben und dann haben sie sich getroffen. Aber es hätte sich ja wirklich etwas daraus entwickeln können.“

„Auf einer Dating-App? Bist du dir sicher, dass es dabei darum ging, die wahre Liebe zu finden? Ich kenne mich damit ja nicht aus, aber ich glaube nicht, dass das die Ansicht von jedem dort ist“, warf Benny ein.

„Das ist alles schon vorgekommen“, bemerkte ich.

„Natürlich. Aber ist es die Ausnahme oder die Regel?“

„Ich verstehe deinen Punkt. Aber was ich damit sagen möchte ist, dass es auch anders hätte laufen können.“

„Aber das ist es nicht. Und deine beste Freundin wird lernen müssen, damit zu leben. Vielleicht wird sie durch all das auch einfach stärker. In ein paar Monaten wird sie es wissen. Oder auch nicht. Das wird sie für sich selbst herausfinden müssen.“

„Da kann ich dir zustimmen. Dass sie dadurch stärker wird. Aber den ganzen Teil vorher habe ich immer noch nicht verstanden. Von wegen Offenheit und Liebe. Das macht doch keinen Sinn.“

„Auf den ersten Blick bestimmt nicht, nein. Ich habe auch eine ganze Weile gebraucht, bis ich es für mich verstanden habe. Vielleicht musst du erst noch deine eigene Erklärung dafür finden. Nicht alles möchte auf Anhieb einen Sinn ergeben.“

Schweigend gingen wir nebeneinander her. Für einige Minuten war nur unsere Schritte auf dem Asphalt zu hören. Ein Auto fuhr an uns vorbei. Meine Gedanken waren ein einziges Wirrwarr, das ich selbst nicht verstand.

„Kannst du noch einmal versuchen, es mir zu erklären?“, bat ich ihn dann doch.

Leise lachte Benny auf. „Gerne. Du musst es aber nicht teilen, was ich denke.“

„Das ist in Ordnung. Ich sag dir dann schon, ob mir das gefällt oder nicht. Es ist nur… Ich kenne niemanden sonst, der so denkt.“

„Das nehme ich mal als Kompliment.“ Leise lachte er auf. „Es geht hierbei ja nicht um Gefallen, aber das ist eine andere Sache.“

Ich runzelte die Stirn und warf wieder einen kurzen Blick zu ihm hinüber. Mittlerweile hatten wir die Innenstadt hinter uns gelassen und waren auf dem Weg zum Stadtrand.

„Mir hat das Wort Offenheit gut gefallen, das du vorhin erwähnt hast. Ich glaube, dass es mich ganz gut beschreibt oder die Art, wie ich mein Leben gestalten möchte. Ich versuche, die Dinge nicht zu planen, sondern auf mich zukommen zu lassen. Natürlich habe ich Ziele in meinem Leben. Dinge, die ich erreichen möchte, aber ich mache mir keinen ganz genauen Plan, wie ich sie erreichen werde. Das Schicksal hat dabei ja immer ein Wörtchen mitzureden. Das wie kann ich nicht planen, aber ich kann mich dafür darauf konzentrieren, was ich möchte.“

„Moment, das heißt du planst nichts in deinem Leben?“, ging ich nun doch dazwischen.

„Doch, natürlich. Ich plane meine Woche, was ich erledigen muss, wann welcher Termin ansteht oder was ich am Wochenende zu Mittag essen möchte.“ Ein leises Lachen entfuhr ihm. „Aber ich plane nicht auf die Minute mein Leben durch. Ich lasse Platz für neue Erfahrungen und Menschen. Wenn ich jemanden kennenlerne, dann stelle ich mir nicht vor, wie unsere Kinder in zehn Jahren aussehen, sondern lasse all das auf mich zukommen. Ich weiß, dass ich einmal glücklich sein werde und mit meiner eigenen Familie in meinem Haus leben werde und mit dem, was ich liebe, mein Geld verdienen kann. Aber ich weiß nicht, wer dort an meiner Seite stehen wird und ob zu meiner Familie auch Kinder gehören oder wie ich genau dorthin komme und was ich alles tun muss, um meine zukünftige Frau kennenzulernen. Oder ob mein Haus hier stehen wird oder in einer anderen Stadt. Wenn es eine schmerzhafte Erfahrung ist, die mich auf diesen Weg bringen wird, dann werde ich damit umzugehen lernen und daran wachsen. Aber ich werde mich nicht auf Dinge, die nicht da sind, konzentrieren. So, wie deine Freundin es bei diesem Typen getan hat. Gewissermaßen könnte man sagen, dass ihr die Offenheit gefehlt hat, sich auf ihn einzulassen.“

„Das heißt, dass sie deiner Meinung nach nicht offen war, als sie ihn getroffen hat?“

Benny neigte den Kopf etwas zur Seite. „Vielleicht, ich kann es schwer sagen, ich war nicht dabei und ich kenne sie auch nicht. Du hast ja erzählt, dass sie schon vor dem Treffen mehr als angetan von ihm war und sich etwas mit ihm vorstellen konnte. Der Typ hat erkannt, dass sie klammern könnte und hat sich dann schnell aus dem Staub gemacht. Mir würde es zumindest eine ziemliche Angst einjagen, wenn ich ein Mädchen gerade erst kennengelernt hätte und sie schon Hochzeitspläne schmiedet. Es hätte doch auch sein können, dass sie sich mit ihm angefreundet und durch ihn andere Leute kennengelernt hätte. Wer weiß, vielleicht hätte sie am Ende dadurch noch ihren Traummann gefunden?“ Ein leises Lachen entfuhr ihm. „Verstehst du jetzt ein wenig besser, was ich denke?“

„Ein wenig“, gab ich zu.

„Aber du bist nicht damit einverstanden.“

„Wie kommst du überhaupt auf solche Überlegungen? Ich meine, du bist erst sechzehn und redest so, als wüsstest du schon genau Bescheid über das Leben und wie alles läuft.“

„Warum sollte mein Alter ausschlaggebend dafür sein, wie ich mein Leben lebe und mit welcher Einstellung ich alles um mich herum betrachte? Letztendlich ist es doch nur eine Zahl. Meiner Meinung nach sagt die ziemlich wenig über mich als Person aus. Ich kenne viele in meinem Alter, die eine ganz andere Einstellung haben und meine niemals teilen würden und auch ältere, die sich nicht so verhalten oder nichts mit dem anfangen können, was ich manchmal so von mir gebe.“

„Das ist nicht meine Frage. Wie kommst du auf solche Gedanken? Was hast du erlebt, dass du so denkst?“

„Nichts.“

„Wie meinst du das? Nichts?“ Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Es muss doch irgendeinen Auslöser dafür gegeben haben. Von allein kommst du doch nicht auf so etwas.“

„Doch. Ich war quasi schon immer so.“ Leise lachte er auf.

„So?“

„So, wie ich eben bin. Anders als meine Freunde und Klassenkameraden und mit einem ganz anderen Blick auf die Dinge, die um mich herum geschehen. Ein wenig sonderbar eben.“

„Du bist nicht sonderbar“, erwiderte ich ohne groß darüber nachzudenken.

„Nicht?“ Die Überraschung war ihm deutlich anzumerken. „Wie würdest du es dann nennen?“

„Keine Ahnung. Darüber habe ich nicht nachgedacht. Aber sonderbar bist du nicht. Das klingt so… abwertend.“

„Wie lebst du dein Leben, Jo? Ich habe dir jetzt so viel von mir erzählt und weiß nur, dass du meine Ansichten nicht teilst.“ In dem schwachen Licht sah ich das schiefe Grinsen auf seinen Lippen. „Wer bist du?“

„Ich bin Jo, aber das haben wir ja schon vor einer Weile geklärt.“

„Das… Egal. Erzähl mir von dir. Was ist deine Einstellung zum Leben?“

„Ich sitze nicht herum und warte darauf, dass irgendetwas zu mir kommt, sondern ich gehe auf die Suche danach. Ich lebe mein Leben. Ich gehe aus und treffe Menschen und hab Spaß und genieße es in vollen Zügen.“

„Und was davon macht dein Leben lebenswert?“

Ich zögerte. Das kam unerwartet. Und die Frage erfüllte mich mit einer unerwarteten Ratlosigkeit und Leere. „Ich… keine… Wie meinst du das?“

„Was lässt dich morgens aufstehen? Ist es die nächste Party? Oder deine beste Freundin? Das Studium? Was ist der Grund, warum du hier bist.“

„Ich… ich denke, dass es einfach der Spaß und die Freude an meinem Leben ist. Die Partys, mein Studium, meine Freunde. Alles zusammen.“ Ich sagte es, aber irgendetwas ließ mich die Stirn runzeln. Ich konnte es selbst nicht beschreiben. Das Gefühl in meiner Magengegend war komisch, flau. „Was ist es bei dir?“

„Das Vertrauen, dass ich Liebe finden werde.“

Warum hörte sich diese Aussage von einem Jungen, der deutlich jünger war als ich, so viel reifer an als meine eigene? „Also suchst du nach etwas im Leben.“

„Nein, ich finde. Das ist ein großer Unterschied.“ Leise lachte er auf. „Ich bleibe nicht Zuhause und tue gar nichts, sondern vertraue einfach darauf, dass das Schicksal mich dorthin führen wird, wo ich etwas oder jemanden finden werde. Jetzt kann ich ja nicht wissen, was das Leben noch für mich bereithalten wird.“

Wir passierten das Ortsschild zu dem Vorort, in dem wir wohnten. Es war nicht mehr weit bis nach Hause. Die Zeit war wie im Flug vergangen.

„Jetzt habe ich dich wahrscheinlich ziemlich schockiert, oder?“

„Ich bin eher schockiert, dass wir schon hier sind“, lachte ich. „Es kam mir gar nicht so vor, als wären wir schon so lange gelaufen.“

„Bei guten Gesprächen vergeht die Zeit immer schnell.“

„Nur gut, dass du überhaupt nicht eingebildet bist“, entgegnete ich trocken.

„Bin ich auch nicht. Ich habe dich als gute Gesellschaft bezeichnet.“

„Ähm, danke?“ Meine Selbstsicherheit bröckelte. Er brachte mich total aus dem Konzept. Dabei tat er noch nicht einmal irgendetwas.

„Eine Frage habe ich noch an dich, Jo“, begann Benny.

„Ja?“

„Wie geht es dir?“

„Was?“

„Wie geht es dir?“, wiederholte er die Frage ruhig und geduldig. „Wegen all dem, was du mir von dem Typen erzählt hast, in den du verliebt warst oder bist.“

„Erstens, ich war nicht verliebt, ich fand ihn gut. Das ist ein Unterschied.“ Zumindest wollte ich mir das weiterhin einreden, dadurch wurde es leichter. „Zweitens hat er eine Freundin, was mich ärgert, weil ich ihn eben gut fand und ihn gerne kennengelernt hätte. Und drittens geht es mir bestens, danke der Nachfrage“, antwortete ich ruppiger als beabsichtigt. Bei dem Gedanken an Konstantin krampfte sich mein Magen zusammen und ich schaltete in einen Abwehrmodus. Ich hatte ihn erfolgreich verdrängt und in den letzten Stunden alle Gedanken an ihn und seine bezaubernd langweilige Freundin beiseite schieben können und jetzt erinnerte mich Benny wieder daran. Nein, ich wollte nicht mehr daran denken. Ich brauchte das alles nicht.

„Warum sagst du, dass du nicht verliebt warst? Daran ist doch nichts schlimm.“

„Ich bin niemand, der auf so Gefühlszeug steht, egal auf welche Art. Ich bin niemand, der sich verliebt. Ich… Nein, ich war noch nie verliebt und brauche es auch nicht. So ein Mensch war ich noch nie.“ Meine Kiefer pressten sich fest aufeinander. Mein Blick war starr geradeaus gerichtet. Mein Herz pochte schneller. Ich war froh, dass meine Hände fest in meinen Taschen vergraben waren. Benny konnte nicht sehen, dass meine Fäuste zitterten.

„Was ist passiert? Warum denkst du so?“ Bennys Stimme war sanft und einfühlsam. Genau das, was ich nicht haben wollte. „Die Liebe ist doch der Grund, warum wir hier sind.“

„Nicht alles hat einen tieferen Grund. Ich bin einfach so, wie ich bin. Akzeptiere es und versuch bitte nicht, nach irgendetwas zu suchen, das es nicht gibt“, entgegnete ich schnippisch.

Benny erwiderte nicht direkt etwas auf meine Worte. Mein Puls beruhigte sich langsam wieder. Einige Meter später schaffte ich es schon wieder, tief durchzuatmen. Die kalte Nachtluft tat mir gut und brachte mich wieder runter.

„Okay“, war das Einzige, was Benny nach einigen Metern dazu sagte.

„Nichts weiter?“ Erstaunt schaute ich ihn an.

„Nein. Ich glaube nicht, dass ich im Moment so viel sagen könnte, was dir irgendwie weiterhilft. Aber… wenn du reden möchtest, dann kannst du zu mir kommen. Immer und überall. Ich bin für dich da.“ Er lächelte.

Synchron verlangsamten wir unsere Schritte. Wir waren fast an meiner Haustüre angekommen.

„Warum? Warum sagst du so etwas? Warum bietest du mir all das an? Wir kennen uns doch kaum.“

„Ich hab dich gern, Jo. Das allein sollte Erklärung genug sein.“

„Aber…“ Ich blieb stehen, die Stirn gerunzelt. Die Fenster bei mir Zuhause waren dunkel. Ich wusste nicht, ob mein Vater Zuhause war oder nicht und es war mir auch egal.

„Warum brauchst du noch eine weitere Erklärung? Denk darüber nach, Jo, dann wirst du die Antwort darauf finden.“

„Aber…“, setzte ich erneut an.

Mit einem leisen Lachen legte er mir den Finger auf die Lippen. Abrupt stoppte ich, mein Puls schnellte wieder in die Höhe.

„Das waren genug Fragen für heute. Du bist klug. Wenn du darüber nachdenkst und ehrlich mit dir selbst bist, dann wird es nicht schwer sein für dich, die Antworten auf deine Fragen zu finden.“ Noch immer war da dieses schiefe Grinsen auf seinen Lippen. Er beugte sich zu mir vor. Halb erwartete ich, dass er versuchen würde, mich zu küssen, aber er hauchte mir nur einen sanften Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, Jo. Schlaf gut.“

„Er hat dich geküsst?“

„Nein, hat er nicht.“ Ärger stieg in mir auf. Ungeduldig wippte ich mit meinem Fuß. Beinahe bereute ich, dass ich spontan zu Milena gefahren war, um ihr alles zu erzählen, was gestern Abend passiert war. Es wäre besser gewesen, wenn ich Zuhause geblieben wäre. „Er hat mich auf die Wange geküsst. Wobei das kein richtiger Kuss war.“

„Also spätestens jetzt kannst du mir nicht mehr erzählen, dass er nicht auf dich stehen würde. Das ist ja sowas…“ Milena wurde von einem Niesen unterbrochen. „…sowas von offensichtlich.“

„Gesundheit. Und nein, tut er nicht. Wir haben uns nur sehr gut unterhalten. Er hat keinerlei Fragen gestellt oder Andeutungen in diese Richtung gemacht.“ Verärgert seufzte ich. Warum musste Milena auch nur alles so kompliziert sehen? Sie könnte es mir auch einfach glauben, wenn ich ihr etwas erzählte. „Wie geht es dir?“

„Wie soll es mir schon gehen? Ich niese und huste die ganze Zeit und mein Kopf tut weh und es ist einfach nur ätzend.“ Wie um ihre Worte zu unterstreichen putzte sie sich geräuschvoll die Nase.

„Ich meine wegen dem Typen von der App. Habt ihr nochmal geschrieben?“

„Nein, haben wir nicht.“ Dieses Mal war es Milena, die den Mund fest zusammenkniff.

Ich schaute sie an. Richtig. Ihre Augen waren rot geädert. Sie sah blass aus. Die Augen glanzlos und traurig. Es war nicht allein der Schnupfen, der ihr zusetzte. Ich kannte sie zu gut, sie konnte mir nichts vormachen.

„Dann ist es besser so, denke ich. Es gibt noch andere, Milena. Das war mit Sicherheit nicht der letzte Mann auf der Erde, den du getroffen hast.“

„Du hast leicht reden. Dich will ja jeder mit deinen langen blonden Haaren und deiner Figur.“ Sie rollte mit den Augen. Wieder putzte sie sich die Nase.

„Ach was, das stimmt nicht. Du weißt, dass du die Hübschere bist von uns beiden und die bessere Figur hast. Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie dir im Sommer am See die Kerle die ganze Zeit nachgeschaut haben?“ Ich grinste. „Und die haben definitiv nicht auf meinen Hintern geguckt.“

„Aber warum meldet sich dann keine von den Modelagenturen mehr, bei denen ich war?“, jammerte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Ach Milena.“ Ich setzte mich neben sie auf ihr Bett und legte den Arm um ihre Schultern. „Du bist toll und das weißt du auch. Manche Leute brauchen eben länger, bis sie das merken. Und wenn der Typ zu blöd ist, um zu sehen, was du für ein toller Mensch bist, dann ist es definitiv sein Pech. Glaub mir, da draußen sind noch viel bessere Kerle, mit denen du glücklich werden kannst.“ Wenn du nur offen bist für das Leben und es auf dich zukommen lässt anstatt kontrollieren zu wollen, wo und wie du deinen Freund kennenlernst. Das Gespräch mit Benny von gestern Abend war mir noch lebhaft im Gedächtnis. So schnell würde ich es auch nicht mehr vergessen können.

„Vielleicht“, gab sie kleinlaut zu und lehnte den Kopf an meiner Schulter an. „Aber er war so toll, weißt du? Ich habe noch nie einen Kerl gehabt, der so gut ausgesehen hat wie er.“

Beruhigend strich ich ihr über den Rücken. Für den Moment sagte ich nichts dazu. Was sollte ich auch tun? Unweigerlich dachte ich wieder an das, was Benny dachte. Dass ihr die Offenheit gefehlt hatte. Nein. Ich dachte zu viel an das, was ein Sechzehnjähriger sagte. Aber das Alter ist nur eine Zahl, die nichts über dich selbst aussagt. So wie dein Aussehen nichts über deinen Charakter aussagen kann.

Wie schaffte er es, dauerhaft so präsent in meinem Kopf zu sein?

„Schreibt ihr jetzt gerade wieder?“, riss Milena mich aus meinen Gedanken.

„Wen meinst du?“, stellte ich mich dumm. Es gab ja nur einen, auf den sie dauernd anspielte.

„Na wen wohl.“ Ich hörte ihr geradezu an, wie sie mit den Augen rollte. „Dein kleiner Nachhilfeschüler und du natürlich.“

„Nein. Warum sollten wir?“

„Weil er dich mag. Deshalb.“

Jetzt war ich wieder an der Reihe, mit den Augen zu rollen. Es gab keinen Grund, warum ich mit Benny schreiben sollte. Den nächsten Termin für die Nachhilfe hatten wir schon ausgemacht. Ansonsten gab es nichts weiter zu besprechen. Und über alles andere konnten wir schwer schreiben.

„Du solltest ihm besser klar machen, dass du nicht auf ihn stehst. Nicht, dass du dem Kleinen unnötig lange falsche Hoffnungen machst.“

Schweigend strich ich ihr weiterhin über den Rücken, den Blick ins Leere gerichtet. Ganz egal was ich noch sagen würde, es würde nicht bei ihr ankommen.

„…und dann teilst du am Ende noch einmal durch vier Komma fünf“, erklärte ich und deutete auf die Rechnung.

„Vier Komma fünf? Nicht die siebzehn von hier?“ Benny deutete mit dem Stift auf den Anfang der Aufgabe.

Ich unterdrückte ein Seufzen und begann mit meinen Erklärungen noch einmal von vorne. Wir saßen schon eine ganze Weile hier und es ging nicht sonderlich voran, aber ich übte mich in Geduld. Er tat es ja nicht mit Absicht. Mathe und er hatten sich einfach schon vor einer ganzen Weile auseinander gelebt. „Versuch es noch einmal von vorne“, meinte ich und lehnte mich zurück, mit einem halben Auge aber noch immer auf seinem Aufgabenblatt.

Es war das erste Mal, dass wir uns seit dem Kinobesuch wiedersahen. Und Milena hatte falsch gelegen. Diese Verabredung im Kino hatte rein gar nichts verändert zwischen uns. Höchstens, dass wir uns besser verstanden als vorher und noch ein wenig länger geredet hatten als sonst, bevor wir tatsächlich mit Mathe angefangen hatte. Aber er hatte keinerlei Andeutungen gemacht oder sich anders verhalten als sonst. Wir waren einfach Freunde. Mehr nicht. All diese Anspielungen von den anderen waren vollkommen unberechtigt gewesen. Es war kein Date gewesen. Benny hatte auch nichts mehr darüber gesagt. Ich auch nicht. Warum auch? Es war nichts vorgefallen.

Die Haustür fiel laut ins Schloss und die Stimmen von Bennys Mutter und seiner Schwester hallten durch das Haus.

„Oh, hallo Joanna. Ich wusste gar nicht, dass ihr noch am Lernen seid.“ Frau Winter bleib kurz stehen, als sie uns am Tisch sitzen sah. Ariane balancierte eine übervolle Einkaufstüte weiter in die Küche.

„Hallo Frau Winter.“ Höflich stand ich auf und reichte ihr die Hand.

„Einfach nur Marianna, ja? Für diese Förmlichkeiten haben wir uns jetzt wirklich schon zu oft gesehen.“ Lachend drückte sie meine Hand. Um ihre Augen bildeten sich kleine Fältchen.

„Dann einfach nur Jo.“ Ich grinste ebenfalls. Die gute Laune im Haus der Winters war ansteckend. Es musste wohl in der Familie liegen, dass alle lächelten und gut drauf waren.

„Wie macht er sich so?“ Marianna hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte zu ihrem Sohn, der noch immer über der Aufgabe grübelte.

„Denk dran, dass ich alles hören kann“, sagte Benny laut ohne zu uns zu schauen. „Und es ist demotivierend, wenn du etwas Falsches sagst.“

Ich lachte. „Es wird langsam.“

„Sehr schön. Ich danke dir, dass du ihm hilfst.“

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „So schlimm ist er ja meistens nicht.“

„Ja? Er kann sich benehmen?“

„Das habe ich gehört, Mama.“ Jetzt warf er seiner Mutter doch einen vernichtenden Blick zu. Naja, ganz gelang es ihm nicht.

Und dieses Mal lachten wir alle zusammen. „Bleibst du noch zum Abendessen, Jo?“

„Das ist nett, aber…“

„Überleg es dir gut, wir machen Lasagne. Und nichts ist so gut wie Mamas Lasagne“, rief Ariane aus der Küche.

„Ich esse kein Fleisch, von daher wäre das sowieso nichts für mich.“

„Wir machen den vegetarischen Teil einfach etwas größer. Ariane isst auch kein Fleisch.“

„Wirklich, überlege es dir gut. Du verpasst sonst etwas“, meinte Ariane. Sie lehnte locker in der Tür zum Wohn- und Esszimmer.

„Ich möchte euch keine Umstände machen“, erwiderte ich zurückhaltend.

„Tust du nicht, keine Sorge. Und jetzt macht ihr beide weiter. Ariane und ich haben das Kommando in der Küche.“ Marianna zwinkerte mir zu.

„Kann ich euch nichts helfen? Wenn ich schon zum Essen bleibe?“ Ich biss mir auf die Lippe. So viel Offenheit und Freundlichkeit war ich nicht gewohnt.

„Ich habe das Gefühl, dass Benny deine Hilfe viel eher braucht als wir“, schmunzelte Marianna. „Und wenn du dein schlechtes Gewissen beruhigen möchtest, kannst du nachher einfach beim Abwasch helfen“, lachte sie.

Verlegen stimmte ich mit ein, nahm mir aber fest vor, das auch wirklich zu tun. Es war das erste Mal, dass wir uns wirklich unterhielten und sie war so unheimlich nett. War das normal? „Also, wo bist du hängengeblieben?“ Ich setzte mich wieder neben Benny, der mit gerunzelter Stirn auf seinem Bleistift herumkaute.

Unendlich

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