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Kapitel 6 – Januar 2019

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Mein Geburtstag.

Weihnachten.

Silvester.

Und jetzt Neujahr.

Ich lag auf die Seite gedreht da und starrte gegen die weiße Wand. Ich hatte nicht einmal einen Kater von der letzten Nacht. Nicht einmal das kleinste Anzeichen von Kopfschmerzen oder Übelkeit. Es war beinahe enttäuschend. Da war nur weiterhin dieses dumpfe Gefühl in meiner Brust und meiner Magengegend, das ich versuchte zu unterdrücken.

Ich konnte die Tage an einer Hand abzählen an denen ich in den vergangenen zwei Wochen nüchtern geblieben war. Der Alkohol half mir dabei, weniger nachzudenken. Die Gegenwart wurde immer verschwommener und dadurch erträglich. Wie es sich für eine beste Freundin gehörte, stand Milena mir bei. Sie ließ mich nicht allein und sorgte für Ablenkung. Sie war selbst traurig, wenn auch aus einem anderen Grund als ich. Die Modelagentur hatte sie abgelehnt, wodurch sie abwechselnd traurig und frustriert war, nur, um danach wieder traurig zu werden.

Ich verstand sie. Ablehnung war einfach beschissen. Ein weiterer Punkt, der uns näher zusammenbrachte. Seither hatten wir jeden Abend gemeinsam verbracht. Keine von uns beiden hätte es ertragen allein zu sein. Wir wollten uns nicht mit dem Gefühl der Ablehnung beschäftigen oder damit, was das zu bedeuten hatte.

Vielleicht hatte ich auch deshalb nicht auf Konstantins Nachricht geantwortet. Mein Ego wollte nichts mehr von ihm wissen. Und er hatte mir auch nicht wieder geschrieben. Das Kapitel schien damit abgeschlossen zu sein.

Der Typ neben mir im Bett bewegte sich und gab einen lauten Seufzer von sich. Ich blieb einfach so liegen, wie ich war und regte mich nicht. Milena und ich hatten uns gestern Abend zwei Kerle gesucht, die wir um Mitternacht küssen konnten. Wir waren jung und schön, es wäre eine Verschwendung gewesen, allein zu bleiben. Im Anschluss waren wir noch mit ihnen nach Hause gegangen, was so eigentlich nicht geplant war. Und er war auch nicht schlecht gewesen, das auf keinen Fall. Ich würde es jederzeit wieder tun, aber ich wusste auch, dass es eine einmalige Sache gewesen war. Ich hatte nicht die Absicht, ihn je wieder zu sehen. Er war nur eine Ablenkung für mich. Mehr nicht.

Leise schlug ich die Decke zurück und stand auf. Mit einem kurzen Blick zurück vergewisserte ich mich, dass er mich nicht gehört hatte. Er war mir nicht weiter wichtig. Niemand war das.

Außer Konstantin. Aber von dem hatte ich nichts mehr gehört. Er war auch nicht auf unserer Party gewesen gestern. Vielleicht besser so. Das würde es leichter machen, ihn zu vergessen. Oder zu verdrängen, dass er mich nicht wollte.

Der Stoff meines schwarzen Kleides, das über und über mit funkelnden und glitzernden Steinen besetzt war, raschelte leise, als ich es über meinen Kopf zog. Meinen BH steckte ich in meine Tasche. Später hatte ich noch genug Zeit um mich richtig anzuziehen. Jetzt wollte ich nur noch weg und nicht riskieren, dass der Typ noch aufwachte.

Einen kurzen, letzten Blick warf ich noch über die Schulter zurück zu dem rotblonden Kerl, der wieder leise schnarchte, und schloss dann die Tür hinter mir. Keine zwei Minuten später war ich auch schon ganz aus der Wohnung draußen und stand auf der Straße. Trotz der strahlenden Sonne waren die Temperaturen eisig kalt an diesem Neujahrsmorgen. Ich schlang meinen Mantel etwas fester um mich und ging die Straße entlang.

Am Straßenrand konnte ich die Überreste des Feuerwerks und der Feiern sehen. Umgestoßene Flaschen. Leere Plastikverkleidungen. Stöcke, die einmal zu Raketen gehört hatten. Ich versuchte mich an das Feuerwerk zu erinnern, doch es waren nur noch ein paar lose Fetzen von Lichtern und Wunderkerzen in meinem Gedächtnis. Viel war auf jeden Fall nicht mehr übrig. Der Kerl und ich hatten doch ziemlich heftig rumgknutscht. Jetzt war ich nur eine weitere Kerbe in seinem Bettpfosten. Und er in meinem.

Hatte ich je mehr gewollt als das?

Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann war die Antwort eindeutig. Ja. Und zwar von Konstantin. Der Schmerz, der meine Brust durchfuhr, ließ mich zusammenzucken. Ich hatte es mir lange selbst nicht eingestanden. Es war einfacher für mich wenn ich mir einredete, dass ich ihn nur haben wollte, weil er so unglaublich heiß und sexy war.

Die Erkenntnis war kurz nach dem Gespräch mit Benny gekommen. Ich hatte mehr gewollt. Ich war ein wenig in ihn verknallt gewesen. Keiner wusste davon. Nicht einmal Milena hatte ich es gesagt. Zum Glück war sie nicht aufmerksam genug, um es zu erkennen.

Der Schmerz in meiner Brust raubte mir für einige Sekunden den Atem. Alles fühlte sich eng an. Mein ganzer Körper krampfte sich zusammen. Ich bekam keine Luft mehr. Das Gewicht auf meiner Brust schien mich zu ersticken. Meine Finger gruben sich tief in meine Handflächen.

Es dauerte länger als nur ein paar Sekunden, bis sich meine Atmung wieder einigermaßen beruhigte und ich wieder weitergehen konnte. Diese Art von Attacken hatte ich lange genug durchgemacht. Das war nicht das erste Mal heute. Ich hätte nur nicht zulassen dürfen, dass Konstantin mir in irgendeiner Weise so nahe ging. Warum hatte ich es nicht besser gewusst?

Ein erleichtertes Seufzen entfuhr mir, als ich einige Minuten später in eine der Parallelstraßen einbog. Gleich war ich Zuhause. Mir war kalt und ich wurde langsam hungrig. Wir hatten gestern deutlich mehr Zeit mit Trinken als mit Essen verbracht und ich gehörte nicht zu den Frauen, denen ein Salat am Tag reichte.

„Jo!“, rief jemand hinter mir.

Überrascht drehte ich mich um. „Benny? Wo kommst du denn her?“

„Von dort drin. Ich wohne da. Du warst vor zwei Wochen sogar mal da.“ Lachend blieb er stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Seine Wangen waren gerötet und seine Augen strahlten. „Ein frohes neues Jahr.“

„Danke. Das wünsche ich dir auch.“ Etwas verwirrt lächelte ich. Sollte ich ihn jetzt umarmen? Oder die Hand geben? Oder sonst irgendetwas? Es war zu früh für solche Begegnungen. „Habt ihr schön gefeiert?“

„Ja. Gemütlich zuhause eben. Mein Vater war mal da, das war ganz schön. Und du? Gut siehst du auf jeden Fall aus.“ Mir entging nicht, dass sein Blick kurz über mein Kleid glitt.

„Äh, danke“, erwiderte ich und zog meinen Mantel wieder vor mir zusammen. Ich hatte keine Ahnung, ob er durch das Kleid sehen konnte, wie kalt mir war und ich wollte es defintiv nicht darauf anlegen. „Und ja, wir haben bei einer Freundin von mir hier in der Nähe gefeiert.“

„Oh schön. Das ist schön, ja.“ Etwas unbeholfen schob er die Hände in die Taschen seiner dicken Jacke.

„Ja, es hat wirklich… Spaß gemacht.“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Die Situation war komisch. Er wusste mehr aus meinem Leben als gut für ihn war. Und wir hatten uns seit dieser einen Nachhilfestunde nicht mehr gesehen. Vor Weihnachten hatte es sich dann nicht mehr ergeben. „Also, Freitag steht dann noch? 15 Uhr?“

„Ah genau, deshalb wollte ich dich abfangen.“ Verlegen grinsend fuhr er sich durch die Haare. „Ich muss an dem Wochenende weg. Ich hab eine… Veranstaltung. Könntest du auch schon am Mittwoch?“

„Nur abends. Ich bin recht lange Uni.“

„19 Uhr?“

Ich zögerte kurz. Es war mir nicht besonders recht, meinen freien Abend woanders zu verbringen als bei Milena oder meinen anderen Freundinnen. Andererseits war es das letzte Mal mit ihm ja auch nicht allzu übel gewesen. Und mein Vater hatte sich deutlich beruhigt seit der ersten Nachhilfestunde und war mir nicht mehr allzu sehr aauf die Nerven gegangen.

„Du musst nicht“, ruderte er sofort zurück. „Wenn es dir nicht passt können wir auch…“

„Nein, schon in Ordnung, Mittwoch 19 Uhr passt“, erwiderte ich schnell. Noch im gleichen Moment ärgerte ich mich darüber. Ich hätte nicht zusagen sollen.

„Benny! Kommst du? Wir wollen los!“, rief ein junges Mädchen ihm von ein paar Metern weiter hinten zu. Sie stand an einer offenen Autotür und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

„Also, ich muss dann…“ Er deutete in ihre Richtung.

„Ja, klar. Kein Stress. Wir sehen uns dann am Mittwoch.“ Ich lächelte. Bennys Grinsen wurde breiter. Er schien wirklich immer gut drauf zu sein.

„Super. Ich freu mich drauf. Bis dann.“ Und mit einem letzten Blick in meine Richtung drehte er sich um. Wahrscheinlich noch immer breit grinsend.

Mein Lächeln verging in der Sekunde, als er mir den Rücken zudrehte. Warum musste alle Welt in einer glücklichen Beziehung und total verknallt sein? Warum konnte das bei mir und Konstantin nicht einfach genauso sein? War das wirklich so schwierig? Alle anderen schienen das doch auch hinzubekommen.

Gott, das Leben konnte wirklich unfair sein.

Langsam drehte ich mich wieder um. Ich hörte noch das Auto starten und in die andere Richtung davonfahren. Ich war allein auf meinem Weg nach Hause.

Wo mich niemand erwarten würde.

Kein Konstantin.

Nur eine gähnende Leere.

„Heute Abend bei mir. Meine Eltern sind nicht da. Mädelsabend. Seid ihr dabei?“, flüsterte Valentina Milena und mir zu.

„Klar doch. Was sollen wir mitbringen?“ Milena war vor Euphorie etwas zu laut gewesen, was ihr einen tadelnden Blick des Dozenten einbrachte. Es war eine der kleineren Vorlesungen mit nur knapp dreißig Studenten. Hier fiel jedes Wort auf, das zu viel gesprochen wurde.

„Ich kann nicht“, kritzelte ich daher auf den Rand meines Blockes.

„Was?“, entfuhr es Milena laut.

„Frau Groß, ich bitte Sie“, ermahnte der Dozent sie vorwurfsvoll.

„Verzeihung“, nuschelte sie und sank in ihrem Stuhl zurück. Der verständnislose Blick in meine Richtung blieb aber.

„Nachhilfe“, schrieb ich schnell auf eine andere Ecke.

Ohne groß zu warten schnappte sich Valentina den Bleistift aus meiner Hand und schrieb zwei Worte: „Verschieb es.“

Ich schüttelte nur den Kopf.

Sie hob ansatzweise die Arme in die Luft, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Sie brauchte es nicht auszusprechen oder aufzuschreiben. Ich kannte ihre Gedanken. Was soll das? Ist das dein Ernst? Du hast sonst noch nie eine Verabredung ausgelassen!

„Amelie kommt auch“, schrieb Valentina in ihrer sauberen, schnörkellosen Schrift weiter. Vielsagend hob sie eine Augenbraue. Natürlich wusste sie, dass ich auf Konstantin stand. Es wusste einfach jeder.

Ich runzelte die Stirn. Jetzt war ich an der Reihe mich zu fragen, was das sollte. Ein fester Knoten bildete sich in meiner Magengegend. Sie gehörte nicht dazu. Und wenn es nach mir ging würde sie das auch nie. Ich wollte nicht daran erinnert werden, was ich nicht hatte.

Valentina hatte wieder zu schreiben begonnen. „Wollen sie ein bisschen ausquetschen. Willst du nicht wissen, wie ernst das ist mit denen? Wahrscheinlich sagt sie, dass es schon fast wieder vorbei ist.“

Ich zögerte nur kurz, nachdem ich ihre Worte gelesen hatte, bevor ich mir meinen Stift wieder aus ihrer Hand nahm. „Ich beeile mich.“

Zufrieden lächelnd lehnte Valentina sich zurück und zwinkerte Milena vielsagend zu, die nur kurz den Daumen unter dem Tisch reckte.

Mit einem leisen Seufzen ließ ich mich in meinem Stuhl zurücksinken. Das ungute Gefühl in meiner Magengegend wollte nicht verschwinden.

Und das änderte sich auch bis zum Abend nicht. Stattdessen schien der Knoten immer größer zu werden. Mir war fast schlecht, als ich vor der Haustür der Winters stand und darauf wartete, dass mir endlich jemand aufmachte. Es war verdammt kalt hier draußen. Und ich wollte weiter zu Valentinas Mädelsabend. Valentina hatte den Start unserer kleinen Privatparty extra meinetwegen etwas nach hinten verschoben auf zwanzig Uhr. Es war nur eine Stunde später und ich befürchtete, dass ich auch das nicht schaffen würde. Das letzte Mal war ich auch viel länger als gedacht bei den Winters geblieben. Egal, dieses Mal würde ich mich beeilen. Vorausgesetzt natürlich, irgendjemand würde mir endlich aufmachen. Ungeduldig stieß ich die Luft aus.

„Oh hi“, begrüßte ich lächelnd die zierliche Blondine, die mir die Tür öffnete. Sie war das Mädchen vom Neujahrsmorgen, das auf Benny gewartet hatte. Sie war süß und entsprach genau dem Bild, wie ich mir Bennys Freundin vorgestellt hatte. Zierlich, brav und zum Anbeißen süß.

„Hey. Du bist Jo, richtig? Komm rein.“

„Ja, genau. Hi, freut mich.“ Ich streckte ihr kurz die Hand hin, die sie sogleich ergriff.

„Ariane. Benny ist noch oben. Ich schicke ihn zu dir runter.“

„Das wäre super“, murmelte ich, während sie schon die Treppe hinaufging. Wie beim letzten Mal hängte ich meine Jacke über einen Bügel und stellte meine Schuhe ordentlich zu allen anderen dazu. Von oben hörte ich Benny und Ariane kurz reden.

„Benny, Jo ist da.“

Eine Türe öffnete sich. Dann Bennys Stimme: „Danke, du hast was gut bei mir.“

Und keine Minute später stand Benny vor mir. Die Wangen leicht gerötet, die Haare wie auch schon das letzte Mal ein wenig zerzaust und, wie immer, mit einem Funkeln in den Augen. „Hey Jo.“ Etwas unschlüssig stand er da. Ich ebenfalls. Es war etwas merkwürdig. Gerade eben hatte ich seine Freundin kennengelernt. Sollte ich ihn darauf ansprechen?

„Hi.“ Ich entschied mich dazu, einfach zu lächeln und meine Handtasche wieder zu schultern. „Also, wollen wir?“

„Wow, auf einmal so voller Tatendrang?“, neckte er mich und zwinkerte mir zu. „Das ist überraschend. Komm, lass uns wieder ins Wohnzimmer gehen. Mum kommt erst spät nach Hause, da haben wir dann unsere Ruhe.“

„Ist es für deine Freundin überhaupt in Ordnung, wenn ich dich ihr ausspanne?“, fragte ich nicht ohne Hintergedanken. Womöglich würde ich es dann doch noch pünktlich auf den Mädelsabend schaffen, wenn er lieber bei ihr sein wollte. Würde ich an seiner Stelle zumindest so machen.

„Welche Freundin meinst du?“

„Die hübsche Blonde, die mir gerade die Tür aufgemacht hat. Ariane. Sie hat doch auch an Neujahr auf dich gewartet.“ Gelassen zog ich meine eigenen Bücher aus meiner Handtasche heraus und legte sie auf den Tisch.

Benny fing laut an zu lachen. Seine Augen sprühten geradezu vor Lebensfreude. „Ariane“, begann er noch immer breit grinsend, „ist meine Schwester.“

„Oh, echt? Du hast eine Schwester?“ Verdutzt hielt ich inne. Damit hatte ich nicht gerechnet. Es war viel zu offensichtlich gewesen. Und es machte mir einen dicken Strich durch die Rechnung. Verdammt. Ich wollte doch Amelie ein bisschen ausspionieren und ausquetschen und nicht erst dazukommen, wenn die ganzen interessanten Themen schon durch waren.

„Ja, das soll vorkommen.“ Seine Lippen zuckten noch immer amüsiert. „Gott, bitte nicht. Meine Schwester als meine Freundin…“ Er schüttelte sich und musste schon wieder anfangen zu lachen.

Ich rollte mit den Augen. „Ist schon gut. Können wir bitte vergessen, dass ich das gesagt habe und einfach anfangen?“

„Tut mir leid, das war nicht so gemeint“, ruderte er zurück. Der Blick aus seinen großen, braunen Augen war so unschuldig, dass ich ihm einfach nicht böse sein konnte.

„Schon gut. Können wir anfangen?“, wiederholte ich ungeduldig. Mein Blick wanderte zu der Uhr über dem Esstisch. Schon zehn nach sieben. Verdammt, so würde das nichts mehr werden heute. „Wie lief deine Klausur?“

„Soweit ganz in Ordnung, denke ich. Also ich habe bestanden, das ist das Wichtigste. Aber das ist durchaus noch ausbaufähig.“ Er verzog etwas das Gesicht. „Die Aufgaben waren wirklich gemein.“

„Ach, daran arbeiten wir noch. Wann ist die nächste?“

„Zum Glück dauert das noch eine Weile. Mathe dürfte erst wieder Anfang des nächsten Halbjahres im März dran sein. Wie war dein Gespräch mit dem Kerl?“

„Mein… was?“ Ich stockte. Das kam unerwartet. Und es war kein Thema, über das ich sprechen wollte. Er wusste genug. Mehr als genug und ich hatte nicht das Bedürfnis, noch mehr darüber zu reden.

„Der Typ, von dem du das letzte Mal erzählt hast. Du wolltest doch mit ihm reden. Und mach dir keine Sorgen wegen Ariane, die würde uns nie belauschen. Sie ist froh, wenn sie ihre Ruhe hat. Also? Wie ist es gelaufen?“

„Ich dachte ich bin hier, damit ich dir etwas über Mathe erzähle?“

„Hast du doch das letzte Mal auch nicht die ganze Zeit, was auch nicht schlimm war. Ich rede gerne mit dir. Außerdem will ich doch wissen, ob meine Tipps hilfreich waren. Anfangs warst du ja ziemlich skeptisch.“ Er blinzelte mir vielsagend zu. „Oder hast du etwa nicht mit ihm gesprochen?“

„Lass uns doch lieber mit Mathe anfangen“, versuchte ich wenig elegant das Thema zu wechseln. Meine Finger zitterten auf einmal und mein Herz pochte eine Spur zu schnell. Nein, ich wollte definitiv nicht darüber reden.

„Warum hast du es nicht getan?“

„Ich habe nicht unendlich viel Zeit.“ Wütend funkelte ich ihn an. Konnte er nicht verstehen, dass ich darüber nicht sprechen wollte? Warum interessierte es ihn überhaupt? Es ging ihn nichts an. „Ich bin nicht hier, damit wir über mein Leben reden, sondern damit ich deinen Hintern rette, oder?“

„Das stimmt. Und trotzdem darfst du mir immer gerne davon erzählen.“

„Hatten wir das nicht schon? Dass ich auch noch andere Freunde habe, mit denen ich darüber reden kann?“ Eine gewisse Gereiztheit schwang in meiner Stimme mit. Mein Blick wanderte wieder zu der Uhr an der Wand. Die Uhr tickte wortwörtlich. Ich wollte weiter.

„Ich habe nie gesagt, dass du keine Freunde hast. Ob sie dir zuhören weiß ich natürlich nicht.“ Seine Stimme blieb ruhig.

Es war ansteckend. Ich zögerte und ließ im Bruchteil einer Sekunde die letzten Wochen Revue passieren. Nur einen kurzen Moment lang zweifelte ich an meiner Freundschaft zu Milena, Valentina und allen anderen. Nur eine Sekunde und doch war es eine Sekunde zu lange. Er hatte nicht das Recht dazu, so etwas zu sagen.

„Du musst natürlich nicht mit mir darüber sprechen, wenn du nicht möchtest. Ich biete es dir an, mehr nicht. Manche meinen, dass ich sogar ganz gut zuhören kann.“

„Warum tust du das?“ Meine Wut verpuffte mit einem Schlag. Ich konnte nicht einmal sagen ob es an seinen Worten oder an seiner ruhigen Ausstrahlung lag. Was es auch war, es war ansteckend.

„Was genau meinst du?“

„Na das alles. Du willst dich mit mir über mein Leben unterhalten, obwohl wir uns kaum kennen und willst mir bei meinen Problemen weiterhelfen. Das tut sonst niemand.“ Ich biss mir auf die Lippe. Ich hatte ihm nicht Recht geben wollen in seiner Vermutung.

Ein sanftes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Es sollte selbstverständlich sein, findest du nicht auch? Ich finde es so wichtig, mir Zeit für die Menschen um mich herum zu nehmen. Wir rennen doch geradezu durch unser Leben.“

„Findest du echt, dass das niemand mehr macht?“

„Wenn es so wäre, würden wir dann hier sitzen und diese Unterhaltung führen? Oder was glaubst du?“ Er zuckte mit den Schultern und rückte ein Stück an den Tisch heran. „Naja, dann lass uns anfangen. Ich habe das Gefühl, dass du schnell weiter willst und dich nicht unnötig lange mit mir unterhalten möchtest. Keine Sorge, ich nehme dir das nicht übel. Ich muss nur gestehen, dass ich ein wenig neugierig war. Sag einfach Bescheid, wenn dir meine Fragen zu anstrengend sind. Ich kann es auch bleiben lassen.“

„Nein, es ist einfach nur…“ Ich zögerte. Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich. Es fiel mir schwer, sie irgendwie zu ordnen. „Ich habe nicht mit ihm gesprochen, okay? Ich habe mich nicht getraut. Und heute Abend macht eine Freundin von mir einen Mädelsabend und seine Freundin ist auch da.“

„Ah und du willst sie ein bisschen unter die Lupe nehmen. Da kann ich natürlich nicht mithalten.“ Er grinste, er schien es mir kein bisschen übel zu nehmen, sondern tat so, als sei alles ganz normal.

„So attraktiv ist Nachhilfe geben nun mal nicht“, gestand ich und fuhr mir durch meine langen blonden Haare.

„Autsch, das hat gesessen.“ Lachend griff er sich ans Herz, seiner guten Laune tat es keinen Abbruch.

„Oje, das war gemeiner, als es sein sollte.“ Ich musste ebenfalls lachen. „Nein, es war… also vor Weihnachten, es war tatsächlich nicht ganz so übel, sich mit dir zu unterhalten“, gestand ich. „So offen war sonst noch niemand zu mir. Aber hebe deshalb jetzt bitte nicht ab.“

„Tue ich nicht, keine Sorge. Es ist auch nichts Tolles, auf das ich mir etwas einbilden würde. Immerhin hat es dich verletzt.“

Ich zuckte mit den Schultern und wich seinem Blick aus. „Daran kann man jetzt auch nichts mehr ändern“, murmelte ich. Für eine Sekunde blickte ich an ihm vorbei ins Leere.

„Also, fangen wir an?“, fragte Benny sanft. „Dann kannst du weiter zu deinem Mädelsabend und ein bisschen spionieren.“

„Was? Du hast keine klugen Sprüche für mich?“ Leiser Spott schwang in meiner Stimme mit.

„Im Moment wäre es nicht besonders angebracht, denke ich. Außer… Naja, wenn du ein offenes Ohr brauchst, kann ich dir nur weiter anbieten, dass ich für dich da bin. Vergiss das nicht, okay?“

„Warum? Du kennst mich doch eigentlich gar nicht. Warum tust du das dann?“

„Das hat damit nichts zu tun. Ich kenne dich jetzt nicht, aber warum sollte ich dir deshalb nicht den gleichen Respekt und die gleiche Aufmerksamkeit entgegenbringen wie meinen Freunden? Ich möchte den Menschen um mich herum ein gutes Gefühl geben, wenn ich sie sehe und mich mit ihnen unterhalte. Ganz egal, ob ich sie kenne oder nicht. Ich glaube daran, dass ich das zurückbekomme, was ich anderen gebe.“

Ich nickte und wandte mich dem Mathebuch zu. Mein Kopf brummte etwas von seinen Worten. Ich wollte es ihm wirklich glauben, aber ich war weiter skeptisch. Wer tat denn schon noch etwas ohne Eigennutzen? Jeder erwartete doch eine Gegenleistung. Jeder. Auch Benny. Er wollte es wohl nur nicht zugeben.

„Endlich! Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr“, murmelte Milena mir zu, als ich eine ganze Weile später bei Valentina auftauchte. Die anderen hatten es sich schon in Valentinas großem Zimmer gemütlich gemacht. Amelie saß etwas zusammengekauert in dem gemütlichen Sessel am Fenster. Valentina streckte sich auf ihrem Bett aus. „Wir hatten schon Angst, dass du dich verlaufen hast.“

„Wir haben extra mit dem Essen auf dich gewartet“, meinte Selina, eine weitere Kommilitonin, die sich mit dem Rücken an Valentinas Bett angelehnt hatte.

Zusammen mit Milena machte ich es mir ihr gegenüber auf dem flauschigen Teppich bequem. Auf dem Boden stand ein Teller mit verschiedenstem Fingerfood. Auf einem weiteren stapelten sich Muffins und Macarons, die mit Sicherheit die Haushälterin der Motinas gebacken hatte.

„Ätzend, dass du so lange Nachhilfe geben musstest“, bemerkte auch Xenia und griff nach einem der Muffins.

„Es ging.“ Ich zuckte mit den Schultern und bediente mich ebenfalls an dem Fingerfood. Mein Magen hatte den ganzen Weg über hierher geknurrt. Kein Wunder, ich war schon wieder knapp zwei Stunden lang bei Benny gewesen. Erst als seine Mutter wieder nach Hause gekommen war, war mir aufgefallen, wie spät es schon war und dass ich eigentlich noch weiter wollte.

„Ist er süß? Dein Nachhilfeschüler?“, fragte Valentina und drehte sich auf den Bauch. Sie stützte sich halb auf und nahm mit einer Hand einen Macaron von Selina entgegen. Ihr Spitzentop war etwas nach oben gerutscht.

„Er ist sechzehn.“ Ich rollte mit den Augen.

„Ja und? Er kann ja trotzdem süß sein“, bekräftigte Selina.

„Ich bin auch drei Jahre jünger als Konstantin“, bemerkte Amelie schüchtern und sofort lagen alle Augen auf ihr. Sofort wurden ihre Wangen puterrot und sie schien noch ein bisschen mehr in dem riesigen Sessel zu versinken. „Ich meine, es funktioniert auch.“

„Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt? Erzähl es uns ganz genau, wie du es geschafft hast, Konstantin Morakies an dich zu binden.“ Neugierig lehnte Selina sich etwas nach vorne. „Wir kennen Konstantin schon eine ganze Weile und wenn eines nicht zu ihm passt, dann ist es eine feste Beziehung.“ Sie übertrieb maßlos. Wir kannten Konstantin nur vom Sehen und die Geschichten über ihn nur vom Hörensagen. Aber da war ich ganz Selinas Meinung, das musste Amelie nicht wissen.

Verlegen wandte sie den Blick ab. „Keine Ahnung. Das hat sich irgendwie so entwickelt.“

„Seid ihr zusammen in der Kiste gelandet? Und dann wollte er dich nicht mehr gehen lassen?“ Valentina blinzelte ihr vielsagend zu, woraufhin die Kleine noch röter wurde. Süß.

„Nein, wir… wir haben noch gar nicht“, murmelte sie verlegen und schien nahezu in den Sessel hineinzukriechen.

Ich verschluckte mich an meiner Minipizza. „Tut mir leid, aber das passt so gar nicht zu dem Konstantin, den ich kenne.“

„Dann kennst du ihn wohl nicht besonders gut.“ Ein zaghaftes Lächeln schlich sich auf Amelies Lippen. „Er… er ist so viel mehr als nur diese Fassade. Unheimlich zärtlich und tiefgründig. Ich… ich könnte mir wirklich keinen besseren Freund vorstellen als ihn. Er ist wirklich… Ich bin so glücklich mit ihm.“

„Hattest du vor ihm schon einmal einen Freund?“, fragte Milena nahezu beiläufig nach und nahm sich ebenfalls eine von den Minipizzen.

„Nein. Er… ist mein erster.“

„Keine Knutscherei? Kein gar nichts?“ Xenia zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe.

„Nein.“ Schüchtern schüttelte sie den Kopf. „Ich… ich komme vom Dorf. Da gibt es so etwas nicht.“

„Was meinst du mit so etwas?“, entfuhr es mir.

„Naja, Konstantin hat mir einiges erzählt. Aus seiner Vergangenheit und allem. Er fand es wichtig, dass ich es weiß. Und so… einmalige Sachen und alles, das kenne ich so nicht. Und das… das gab es auch nie.“ Ihre Wangen glichen mittlerweile überreifen Tomaten. „Bei uns im Dorf wäre man dann mindestens einen Monat lang das Gesprächsthema Nummer eins.“

„Bestimmt gab es das. Du hast es nur nie mitbekommen“, bemerkte Valentina und wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger.

„Nein, wirklich nicht. Der Ort hatte vielleicht hundert Einwohner, da kennt jeder jeden. Da war eine Scheidung schon etwas Außergewöhnliches. Solche… einmalige Sachen und so, das hätte da schnell die Runde gemacht.“

„Einmalige Sachen, bist du süß. Sag doch einfach, was es ist. Ein One Night Stand. Oder eine Freundschaft Plus“, meinte Selina.

„Was ist eine Freundschaft Plus?“ Amelie biss sich auf die Lippe, als wäre ihr das alles unheimlich unangenehm.

Ich wechselte einen vielsagenden Blick mit Milena. Sie war also doch das Mauerblümchen, das keine Ahnung von irgendetwas hatte. Ich gab ihnen noch zwei Monate. Höchstens. „Du bist miteinander befreundet und vögelst nebenher“, erklärte ich kurz und trocken.

Amelie sah mittlerweile aus, als würde sie am liebsten im Boden versinken. Ach Gott wie süß. Es blieb mir nur weiterhin ein Rätsel, was Konstantin von ihr wollte. Das war doch absolut langweilig.

„Ach, jetzt lasst sie doch in Ruhe“, bemerkte Valentina, die wohl doch Mitleid mit Amelie bekam. „Jo, willst du uns nicht etwas erzählen?“

„Ich? Was wollt ihr denn wissen?“ Betont gelassen lehnte ich mich zurück auf meine Ellenbogen. Alle hier wusste von meiner Schwärmerei für Amelies Freund. Ich glaubte kaum, dass mich hier und jetzt eine von den Mädels darauf ansprechen würde. Keine von ihnen würde mich überhaupt darauf ansprechen. Bennys Worte kamen mir wieder in den Kopf. Er hatte doch Recht gehabt.

„Ich muss dich das einfach nochmal fragen. Ich würde ja auch sagen, dass mir das leid tut, aber ich bin zu neugierig, um nicht zu fragen.“ Leise kicherte sie. „Dein Nachhilfeschüler. Benjamin, richtig?“ Valentina legte den Kopf schief. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen.

„Ja?“ Ich legte den Kopf schief.

Selina und Xenia stießen sich kichernd an und wechselten eindeutige Blicke. Ich hatte eindeutig etwas verpasst.

„Vögelt ihr?“

„Was?“ Ich lachte laut auf. „Habt ihr irgendetwas genommen, bevor ich gekommen bin? Warum habt ihr damit nicht auf mich gewartet? Ich hätte gerne das Doppelte davon.“

„Du warst jetzt schon das zweite Mal für eine halbe Ewigkeit bei ihm. Komm schon, ihr habt doch nicht etwa die ganze Zeit Mathe gemacht. Oder habt ihr es einmal praktisch ausprobiert?“ Selina wackelte vielsagend mit den Augenbrauen.

„Milena! Du hast es ihnen erzählt?“ Empört schaute ich meine beste Freundin an, die nur mit den Schultern zuckte.

„Mir hast du auch keine Details erzählt.“

„Der Junge ist sechzehn“, wiederholte ich ein weiteres Mal.

„Ist er süß?“, fragte Xenia. Schon wieder. Als würde sich meine Meinung auf einmal ändern.

Ich rollte mit den Augen. „Er ist ein Kind für mich.“

„Und trotzdem verbringt ihr viel Zeit miteinander. Also? Habt ihr was miteinander?“, bohrte Selina weiter nach. „Komm schon, uns kannst du es sagen. Wir kennen dich doch.“

„Ihr habt einen Knall.“ Ich schüttelte nur den Kopf. „Zwischen Benny und mir läuft nichts. Weniger als nichts. Er ist für mich so interessant wie… wie… keine Ahnung, ein Wochenende ohne eine gute Party.“

„Und was macht ihr dann die ganze Zeit?“

„Mathe.“ Und wir reden. Ein bischen mehr, als es eigentlich angebracht wäre. Aber das würden sie nicht verstehen und ich wollte es ihnen nicht erzählen.

„Was denkst du über ihn? Komm, erzähl uns ein bisschen etwas. Wir haben uns schon die ganze Zeit gefragt, was ihr wohl macht und was er hat, dass du so lange bei ihm bleibst“, drängte Xenia.

Ich zögerte. Was dachte ich über ihn? Anfangs, dass er ein verwöhnter, kleiner Junge war. Und jetzt, nachdem wir zum zweiten Mal etwas Zeit miteinander verbracht hatten, war es ganz anders. Er war klug und unheimlich empathisch. Er war für andere da. Selbst für mich, obwohl wir uns kaum kannten. Er hatte mir in den paar Stunden so viel gegeben, dass ich es nicht einmal in Worte fassen konnte. Den anderen gegenüber wollte ich nicht zugeben, dass er mich mit seinen ganzen Fragen zum Nachdenken brachte.

„Lasst sie doch. Sie möchte nicht darüber reden“, mischte sich Amelie schüchtern ein und warf mir ein kleines Lächeln zu. Als wären wir Verbündete.

Und das gab mir den Anreiz, genau das nicht zu tun. „Ich habe nichts zu verheimlichen. Er ist nett und braucht dringend Hilfe bei Mathe. Aber ich will definitiv nichts von ihm.“

„Ist er denn süß? Jetzt sag schon. Du sagst nur, dass du nicht mit ihm ins Bett willst. Aber die wichtigen Details verschweigst du uns“, wiederholte Xenia ihre Frage erneut.

„Er sieht nicht schlecht aus“, räumte ich ein. „Wenn du auf Sechzehnjährige stehst.“

„Das hast du mir bisher verschwiegen“, beschwerte Milena sich.

„Ich wusste gar nicht, dass Minderjährige neuerdings dein Typ sind“, bemerkte ich trocken.

„Beschreib ihn mal ein bisschen“, drängte Xenia.

„Bist du so verzweifelt, dass du unbedingt alle Details von meinem Nachhilfeschüler wissen willst?“ Skeptisch schaute ich zu ihr. „Denk dran, er ist viel jünger als du.“

Sie seufzte. „Seit meine Beziehung mit Mario vorbei ist, läuft nichts mehr und ich lerne kaum neue Leute kennen. Das ist echt frustrierend.“

Ich verkniff mir die Bemerkung, dass sie dafür viel zu unscheinbar war. Etwas schüchtern und unauffällig was ihren Kleidungsstil betraf. So würde sie mit Sicherheit niemanden aufreißen, aber ich behielt es für mich. Wir waren immerhin Freundinnen. „Er ist groß, breite Schultern, kantiges Gesicht, braune Augen und Haare. Also voll dein Typ, Xenia. Und ich glaube er ist Single, soll ich dich wirklich vermitteln?“

Nun wurde Xenia rot. Sie murmelte nur etwas von wegen, dass sie mir meinen Nachhilfeschüler nicht ausspannen wollte.

„Du kannst ihn gerne haben. Ich habe kein Interesse an ihm.“

„Besser so. Was willst du auch mit einem kleinen Jungen?“, bemerkte Milena und nahm sich einen Macaron. Sie schien die Einzige zu sein, die so mehr oder weniger auf meiner Seite stand.

„Danke.“

„Wir wollen dich ja auch nicht verkuppeln, nur ein paar Details“, meinte Selina. „Außer Xenia, die will sich selbst verkuppeln.“

„Das hätte bestimmt was“, überlegte Xenia laut. „Ich meine, stellt euch das einmal vor…“

„Nein!“, sagten wir anderen alle gleichzeitig. Sogar Amelie stimmte zu meiner Überraschung mit ein. Auch wenn sie die Einzige war, deren Wangen schon wieder leicht rot geworden waren.

„Vielleicht steht er aber auf dich. Die Möglichkeit gibt es ja auch noch“, sagte Milena leise zu mir, während die anderen sich schon wieder einem anderen Thema zuwandten. Es ging um Xenias nicht vorhandenes Liebesleben.

„Bestimmt nicht.“

„Ich glaube schon. Man verbringt nicht einfach so mehrere Stunden mit seiner Nachhilfelehrerin.“

Ich zuckte mit den Schultern. Was Benny anging war ich mir da längst nicht mehr sicher. Sonst konnte ich die Menschen um mich herum ganz gut einschätzen, aber bei ihm fiel es mir schwer. Er war so anders als die Männer, die ich sonst kannte. Wobei… Mein Blick fiel auf Amelie, die verlegen über irgendeinen zweideutigen Witz von Selina lachte.

Bei Konstantin war ich mir auch sicher gewesen. Mein Gefühl hatte mir gesagt, dass daraus etwas werden könnte, was auch immer es hätte sein sollen. Und wo hatte es mich hingebracht? Ich saß hier mit meinen Freundinnen und der Freundin des Typen, auf den ich stand. Und das nur, damit ich mich besser fühlen konnte als sie. Nicht, dass ich daran zweifelte. Sie war nur ein kleines, schüchternes Mauerblümchen ohne jegliche Erfahrungen. Sie war hübsch, ja, aber das allein war nicht alles. Konstantin würde das auch noch merken. Früher oder später. Aber hoffentlich früher. Viel früher. Ich wollte nicht noch mehr Zeit mit Amelie verbringen als unbedingt nötig.

„Hey, danke, dass du schon wieder Zeit für mich hast.“ Benny begrüßte mich mit einem verlegenen Lächeln.

„Kein Problem. Es ist Sonntag und ich hatte sowieso nichts anderes vor“, erwiderte ich mit einem Schulterzucken. Mein Schädel pochte noch immer unangenehm. Eine Nachwirkung von der Party gestern Abend. Immerhin war sie gut gewesen. Ich hatte schon lange nicht mehr so gut und viel gefeiert wie gestern Abend. Der Knoten, den Konstantin in meiner Brust hinterlassen hatte, begann sich langsam wieder zu lösen. Schritt für Schritt. Aber es wurde ein kleines bisschen besser.

„Trotzdem, danke, dass du herkommen konntest. Es war ja doch ziemlich spontan.“

„Vor allem hast du mich aufgeweckt.“ Etwas langsamer folgte ich ihm in das Wohnzimmer der Winters.

„Es war zwei Uhr nachmittags.“

„Und ich habe erst um acht heute Morgen geschlafen“, bemerkte ich trocken und setzte mich an den Esstisch. Vor ein oder zwei Stunden war die Sonne schon wieder untergegangen.

„Dann warst du noch feiern gestern?“, fragte Benny.

„Geburtstag von einer Studienkollegin.“ Ich gähnte hinter hervorgehaltener Hand.

„Du bist viel unterwegs.“

„Was soll ich sagen? Ich lebe mein Leben. Warum sollte ich meine Zeit damit verschwenden, immer nur Zuhause rumzusitzen? Ich bin jung und will etwas erleben.“ Grinsend streckte ich mich. Nein, ich wollte mein Leben definitiv nicht gegen ein anderes tauschen.

„Wie war der Mädelsabend am Mittwoch? Hast du die Antworten bekommen, die du wolltest?“ Benny schob mir ein Glas Wasser hin.

Dankbar nahm ich es entgegen. Die Kopfschmerzen wurden nur langsam besser. „Sie hat mir nur das bestätigt, was ich mir von Anfang an gedacht habe.“

„Und zwar?“

„Dass sie unheimlich schüchtern und langweilig ist und ich besser bin als sie.“

„Was macht dich besser als sie?“

Ich zuckte mit den Schultern. Was war das für eine Frage? „Alles.“

„Und warum? Was ist es, das dich zu einem besseren Menschen macht?“ Benny lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.

„Ich bin selbstbewusster und habe mehr Erfahrung und traue mich mehr. Sie ist einfach… Sie ist nur ein nettes Mädchen von nebenan. Mehr nicht.“

„Warum macht dich das besser?“

„Wolltest du nicht Nachhilfe bekommen weil du nächste Woche eine Klausur hast?“, konterte ich. Mit dem Thema kam auch der pochende Schmerz in meinen Schläfen wieder zurück. Nachdenken war anstrengend gerade.

„Ich gebe dir gerne auch etwas zurück.“

„Inwiefern willst du mir dadurch etwas geben?“ Ich runzelte die Stirn und verschränkte ebenfalls meine Arme vor der Brust. Es klang herablassender, als ich es eigentlich beabsichtigt hatte und es tat mir im nächsten Moment schon wieder leid.

Seine Lippen zuckten. „Du wirst es merken, wenn es soweit ist.“

„Wie auch immer.“ Ich winkte ab und lehnte mich nach vorne. Auf dem Tisch lag schon Bennys aufgeschlagenes Buch. „Ist das euer Thema für die Klausur?“

„Unter anderem. Kannst du etwas damit anfangen? Ich nämlich nicht.“ Er rückte mit seinem Stuhl etwas näher zu mir heran. Unbeabsichtigt streifte meine Hand kurz seinen Unterarm, als ich eine Seite nach vorne blätterte.

„Mehr als mit deinen komischen Fragen“, brummte ich und überflog die Zeilen. Es war nicht allzu kompliziert. Englisch war schon immer eines meiner besten Fächer gewesen.

„Ich könnte wetten, dass du irgendwann dankbar bist für meine komischen Fragen, wie du sie nennst“, schmunzelte er.

„Das bezweifle ich.“

„Warum? Nur weil ich ein paar Jahre jünger bin als du? Macht dich das auch besser als mich?“ Abrupt lehnte er sich zurück. Er hatte den Kopf schief gelegt und schaute mich abwartend an. Nicht ein Funken Wut lag in seiner Mimik.

„Nein, aber… Ich habe schon viel mehr erlebt als du. Es macht mich nicht besser. Wie ich schon gesagt habe, habe ich dir einiges an Erfahrung voraus.“

„Erfahrung in manchen Dingen, ja, das lässt sich nicht bestreiten. Aber das ist nicht alles. Es ist vor allem unsere Einstellung zum Leben, die uns voneinander unterscheidet. Das ist nichts, was mich zu einem besseren und dich zu einem schlechteren Menschen macht. Ganz im Gegenteil, wir können uns nicht miteinander vergleichen. Warum sollten wir das auch tun? Wir sind alle unterschiedlich in unserem Aussehen und unserem Denken. Und das ist etwas, was nicht bewertet werden kann, wenn du mich fragst. Ich bin der Überzeugung, dass es ganz egal ist, wie alt man ist oder wie man aussieht. Weil nur das zählt, was in dir ist. Die inneren Werte sind es doch, die zeigen, wer du bist und was für ein Leben du führst.“ Er machte eine Pause. „Ich befürchte, ich bin etwas abgeschweift. Entschuldige, das ist nur meine Meinung dazu. Du musst sie nicht teilen.“

„Schon gut. Es ist… interessant.“ Ich zögerte. „Aber du hast Recht, es ist nicht meine Meinung.“

Er zuckte mit den Schultern. Es lag schon wieder ein Lächeln auf seinen Lippen. „Und das ist vollkommen in Ordnung so. Ich bin dir immer noch sehr dankbar, dass du mir hilfst und deine Zeit dafür opferst. Und ich bilde mir ein, dass ich manchen Menschen sehr gut damit helfen kann, wenn ich ihnen einfach nur etwas zuhöre und ab und an komische Fragen stelle.“ Er blinzelte mir zu.

„Ist schon okay. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Jeder hat seine eigene Meinung und das respektiere ich auch. Aber vergiss nicht, dass deine Mutter mich dafür bezahlt, dass ich hier bin. Und eigentlich auch dafür, dass ich dir ein bisschen was beibringe.“

„Und das tut sie hoffentlich gut“, warf Benny lachend ein.

„Klar. Ich kann mich nicht beklagen. Also gut, wollen wir anfangen? Ist auch gar nicht so schlimm wie Mathe.“

„Na hoffentlich.“ Lachend rückte Benny wieder zu mir heran. Gemeinsam machten wir uns an die Arbeit und die kurze Anspannung, die zwischen uns herrschte, verflog schnell wieder.

Und sie kam auch in der ganzen Zeit, in der ich bei Benny war, nicht wieder. Erst, als ich knapp zwei Stunden später wieder auf dem Heimweg war, holten mich meine Gedanken wieder ein. Die Fragen, die er mir gestellt hatte, schwirrten in meinem Kopf herum und doch hatte ich keine Antwort darauf.

Was machte mich besser als Amelie?

Gab es überhaupt etwas, das mich besser machen konnte als sie?

Und wie kam es, dass ich schon wieder so viel Zeit bei dem Jungen verbracht hatte? Die Zeit war wieder einfach so verflogen und es hatte mir sogar Spaß gemacht, mit ihm über und auf Englisch zu diskutieren. Was lief nur falsch bei mir?

Unendlich

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