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Kapitel 5 – Heute

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Ich war schon lange nicht mehr hier gewesen. Ob sie wohl noch immer im gleichen Zimmer lag? Würde ich es finden? Ich wollte es nicht ausprobieren.

Meine Hände lagen reglos in meinem Schoß. Mein Blick war starr auf die Wand gerichtet. Das Bild dort hing ein wenig schief. War es noch niemandem vorher aufgefallen? Ich wollte es gerne zurechtrücken, aber mir fehlte die Kraft um aufzustehen.

Julia neben mir schluchzte unablässig. Ich wünschte mir, ich könnte auch solche Emotionen zeigen wie sie. Selbst Marianna zu meiner anderen Seite hatte zu Weinen begonnen. Still und lautlos ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Wir konnten alle nicht mehr stark sein. Wir konnten nur hier sitzen und warten, bis endlich der Arzt zu uns kam und uns sagte, wie es aussah. Selbst Markus, sein Trainer, der sonst immer so streng und kontrolliert war, saß zusammengesunken da und fixierte einen Punkt auf dem Boden, den nur er sehen konnte.

Er hatte kaum ein Wort zu uns gesagt. Nur, dass es gut sei, dass wir da wären. Ob er so etwas schon einmal erlebt hatte? Oder war es für ihn auch das erste Mal? So wie es für uns alle das erste Mal sein sollte.

Marianna und Julia hatten nichts von Markus wissen wollen. Vielleicht wussten sie schon mehr als ich. Ich kam mir vor wie eine Außenseiterin. Ein Eindringling in diese Familie. Ich wollte auch Bescheid wissen. Ich wollte wissen, was passiert war. Aber ich brachte kein Wort heraus. Ich konnte nur hier sitzen und abwarten. Mein ganzer Körper fühlte sich taub an. Ich fragte mich, ob er überhaupt zu mir gehörte. War das überhaupt noch ich?

„Frau Winter?“

Marianna neben mir schreckte auf. Ich reagierte langsamer, fast träge. Mein Körper fühlte sich schwer und unendlich müde an. Eine junge Frau kam auf uns zu. Sie sah so aus, wie ich mich fühlte. Müde und erschöpft. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Sie trug einen weißen Arztkittel, darunter blaue Krankenhauskleidung. Auf einem kleinen Schild stand etwas geschrieben. Ich konnte es nicht lesen.

„Ja?“ Mariannas Stimme war erstickt und leise. Sie war kaum zu hören.

„Ich bin Dr. Bauer, ich gehöre zu dem Team, das für Ihren Sohn verantwortlich ist.“ Sie reichte Marianna die Hand. Ich sah nicht, ob Marianna sie auch ergriff. War es überhaupt noch wichtig? „Würden Sie bitte mitkommen? Ich möchte mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen.“

„Was ist mit ihm? Was ist mit meinem Benny? Bitte, sagen Sie mir, was mit ihm passiert ist.“

Julias Schluchzen neben mir wurde für den Moment leiser. Selbst Markus fixierte jetzt mit leerem Blick die junge Ärztin.

„Das kann ich Ihnen hier nicht sagen. Die Vorschriften besagen, dass…“

„Die Vorschriften sind mir egal!“, schrie Marianna. „Wir wollen alle wissen, wie es ihm geht und nicht, was die Vorschriften in Ihrem Krankenhaus sind. Wir alle lieben ihn und wollen nur wissen, was passiert ist und wann wir ihn sehen können.“

„Was passiert ist, kann ich Ihnen nicht genau sagen. Es war ein Reitunfall, mehr wissen wir nicht. Er ist mit schwersten Verletzungen bei uns eingeliefert worden. Er wird noch immer notoperiert und im Moment können wir keine Prognose abgeben.“

„Oh Gott.“ Marianna schlug sich die Hand vor den Mund. Ein lautes Schluchzen entfuhr ihr. Ihr ganzer Körper zitterte. Die Worte konnten nicht zu mir durchdringen. Ich hörte die Stimmen wie durch eine dicke Watteschicht. Dumpf. Sie konnten mich nicht berühren. Als würden sie mich nichts angehen. Es war, als würde ich nicht dazugehören.

„Was… was heißt das jetzt genau?“, fragte Marianna zitternd und mit bebender Stimme.

„Er hat von dem Sturz einige Knochenbrüche erlitten, die wir alle problemlos versorgen konnten.“ Ein leises Ausatmen entfuhr Marianna. „Aber uns machen die inneren Verletzungen sowie die Kopfverletzung viel mehr Sorgen. Derzeit ist unser Neurochirurg dabei, Ihren Sohn zu operieren und die Hirnblutung zu stoppen und zu versorgen. Allem Anschein nach muss er großes Glück gehabt haben, dass das Pferd ihm den Brustkorb nicht zerquetscht hat.“

„Was… Was hat er denn alles? Was ist meinem Jungen alles passiert?“

„Sein rechter Unterarm ist gebrochen, eine Prellung der rechten Hüfte und einen Trümmerbruch der linken Kniescheibe und des linken Wadenbeins. Dazu dann noch die Kopfverletzungen. Der Helm hat ihn vor noch schlimmeren Verletzungen bewahrt.“ Die Ärztin zählte die Fakten ganz sachlich auf. Nicht der Hauch einer Emotion schwang in ihrer Stimme mit. Für sie war es wahrscheinlich etwas Alltägliches. Wie konnte so etwas nur normal werden?

Keiner wusste so recht, was er darauf erwidern sollte. Was konnte man schon sagen bei einer solchen Horrornachricht?

Ich schluckte. Ich wollte irgendetwas tun oder sagen, dass den anderen helfen würde. Aber im Moment konnte ich mir nicht einmal selbst helfen.

„Cookie ist ihm auf das Bein gestiegen“, sagte Markus leise. „Nach dem Sturz. Benny war unten. Cookie hat sich gefangen und ist dann durchgedreht. Er ist einfach…“

„Wie ist es passiert?“, fragte Marianna tonlos. Sie schaute Markus nicht einmal direkt an. „Was hat dieses dumme Vieh angestellt, dass es meinem Sohn jetzt so schlecht geht?“

„Cookie trifft keine Schuld. Er hat…“

„Wäre er nie auf dieses verdammte Pferd gestiegen, wäre alles noch in Ordnung. Ich hätte es meinem Sohn nie erlauben dürfen. Er wusste, wie gefährlich das alles ist. Und trotzdem ist er jeden Tag dorthin gefahren. Mein Mann hatte jeden Tag recht, wenn er sagte, dass wir es ihm verbieten sollten. Ich habe mich immer für ihn eingesetzt, weil er es doch so liebte, sich um die Tiere zu kümmern. Und wo hat ihn das jetzt hingebracht? Hätte mir das vorher nicht irgendjemand sagen können?“, schrie Marianna und sprang auf. Ihr ganzer Körper bebte und zitterte. Es war die pure Verzweiflung, die aus ihr sprach. „Also Markus, sag uns jetzt endlich, wie dieses Vieh es geschafft hat, dass mein Sohn halb tot ist.“

„Er ist noch am Leben, Frau Winter. Er ist tapfer und kämpft.“ Dr. Bauer war ebenfalls aufgestanden. Beruhigend legte sie Marianna die Hand auf die Schulter.

„Noch. Aber sie können mir nicht sagen, wie lange noch oder ob er überhaupt wieder so sein wird wie früher. Oder können Sie das etwa? Hm, können Sie mir das versprechen?“

„Ich würde es sehr gerne, Frau Winter, glauben Sie mir. Aber es gibt Dinge, auf die wir keinen Einfluss mehr haben. Wir tun unser Bestes, damit…“

„Das sollten Sie auch! Gehen Sie gefälligst und schauen Sie, dass mein Kind bald wieder auf die Beine kommt. Er ist doch noch so jung. Er hat doch noch alles vor sich. Mein Kind. Mein armes Kind“, schluchzte Marianna und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken, das Gesicht in den Händen vergraben.

Julia und Markus gingen schnell zu ihr, strichen ihr beruhigend mit den Händen über den Rücken und redeten auf sie ein. Ihre Stimmen verschwammen zu einem monotonen Hintergrundgeräusch, das mein Bewusstsein ausblendete.

Ich wäre auch gerne für sie da gewesen. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nichts fühlen. Ich konnte mich nicht bewegen. Mein Körper war nur eine leere Hülle. Er saß da und bekam alles mit, was um ihn herum passierte. Er hörte die Worte der anderen und nahm wahr, was geschah, während meine Gedanken, mein Geist, unendlich weit entfernt waren. Mit jeder Sekunde, mit jedem Atemzug, der verging, hatte ich das Gefühl, dass ich selbst immer schwächer wurde. Es war die ganze Umgebung hier, das Krankenhaus, das mir meine Energie raubte. Schon wieder war ich hier. Und ein weiteres Mal wusste ich nicht, wie es weitergehen würde.

Was würde mir dieses Mal noch bleiben, für das es sich zu leben lohnte?

Hatte ich jetzt überhaupt noch einen Grund, hier zu sein?

Unendlich

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