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Sonntag, 14. Dezember
ОглавлениеNachdem mich meine Arbeitskollegin Emmy, die mir inzwischen eine gute Freundin geworden war, dazu ermutigen konnte, wenigstens ein bisschen mit ihr bummeln und einen Kaffee trinken zu gehen, fühlte ich mich besser als erwartet. Anfangs war ich noch recht verhalten gewesen, konnte nicht ganz ablassen von der Tatsache, dass ich zurzeit nicht allzu viele Gründe zum Lachen hatte, doch dann hatte ich dieses reduzierte Paar Pumps einer beliebten Marke erspäht und ab da an wusste ich: Gott liebte mich doch!
Ein wenig Mitleid hatte ich dennoch mit den Verkäufern und den Servicekräften des Einkaufscenters, die an diesem verkaufsoffenen Sonntag arbeiten mussten, nur um anderen Menschen ihre Freizeit zu ermöglichen. Andererseits war das Center auch nur vier Stunden geöffnet.
Wir erhaschten einen freien Platz in einem überfüllten Café, ließen die Tüten mit unserer wertvollen (wenn auch nur im ideellen Sinne) Ausbeute einfach zu Boden plumpsen und fielen vor Erschöpfung auf die weich gepolsterten Stühle. Uns qualmten die Füße.
Es duftete herrlich nach frisch gemahlenem Kaffee, nach Gebäck und nach Zimt. Um uns herum herrschte das reinste Stimmengewitter, hinter der Theke krächzten alle möglichen Maschinen zur Zubereitung der warmen Getränke, ein Kinderchor, der seit einer Stunde Weihnachtslieder in der ersten Etage live zum Besten gab, schmetterte gerade »Es ist ein Ros entsprungen« und alle fünfzehn Sekunden ging von irgendwoher ein Handy. Doch über die gesamte Geräuschkulisse hinaus nervte mich nur eine einzige Sache: die rothaarige Frau am Nachbartisch (der allerdings so nahe bei stand, dass sie mir quasi auf dem Schoß saß), die einen Kugelschreiber in der Hand hielt und diesen nonstop klickte. KLICK-KLACK-KLICK-KLACK. Dabei gedachte sie nicht einmal, ihn zu benutzen. Jedenfalls schloss ich darauf, da sie keinen Notizzettel oder etwas dergleichen vor sich auf dem Tisch zu liegen hatte. Sie klickte den Kugelschreiber nur so vor sich hin, während sie mit ihrem Gegenüber in einem Gespräch vertieft war.
»Ich glaube, ich werde für solche wilden Unternehmungen einfach zu alt«, japste Emmy, die übrigens zehn Jahre älter war als ich und darum diese profane Äußerung durchaus seine Berechtigung hatte.
Doch was war meine Ausrede? Denn ich rang ebenfalls wie verrückt nach Luft. »Ich auch«, fiel mir nur dazu ein.
»Lass dir gesagt sein: ab dreißig geht es steil bergab.« Sie schenkte mir ein heiteres Lächeln. »Vielleicht sollten wir das öfter machen, damit wir nicht früher als nötig einrosten, was?«
»Liebend gern.« Oder vielleicht fange ich mit irgendeinem Sport an, überlegte ich. Jeder musste doch einen Vorsatz fürs nächste Jahr haben, oder? Und vielleicht könnte ich Emmy dazu motivieren, es mir gleich zu tun. Zu zweit würde es bestimmt viel mehr Spaß machen. »Aber meinst du nicht, dass wir, auf Dauer gesehen, pleite gehen würden?«
Sie nickte heftig. »Höchstwahrscheinlich. Doch was wäre die Alternative?«
Eine Bedienung, weiblich, Mitte zwanzig, strenger Zopf, riesengroß und spindeldürr, schnellte zu uns an den Tisch. Mit gestresstem Gesichtsausdruck (welchen man ihr nicht verdenken konnte, so turbulent, wie es hier zuging) nahm sie unsere Bestellungen auf. Eine heiße Schokolade für Emmy und einen großen Kaffee für mich.
Als sie sich zum nächsten Tisch durchschlängelte, um weitere Bestellungen aufzunehmen, schlug ich vor: »Fitnesscenter?«
Emmy schaute mich fragend an. Es war ihr anzusehen, dass sie den Faden völlig verloren hatte. »Entschuldige?«
Ich lachte: »Die Alternative.«
»Zu was?«
Was zum Henker war auf einmal los mit Emmy? War das nur ein harmloser Blackout oder litt sie etwa an Alzheimer? »Zum Shoppen.«
Dann schlug sie sich gegen die Stirn. »Donnerlittchen!«
»Das passiert mir auch öfter«, log ich.
»Ich war nur ganz erblasst vor Neid.«
Hatte ich etwas verpasst? »Vor Neid?«
»Schau dir diese Figur an, Leonie«, deutete sie mit einem Nicken auf die Bedienung. »Nach zwei Kindern kann ich davon nur träumen.« Emmy war gar nicht sonderlich aus der Form geraten, sie war nur nicht so hager. Es stand außer Zweifel, dass nur ihre Selbstwahrnehmung gestört war.
»Du siehst doch toll aus.«
Das tat sie wirklich. Sie hatte meine Größe, vielleicht fünf Kilo mehr auf den Rippen, hatte sehr feminine, weiche Gesichtszüge, trug die dunklen Haare kinnlang und Falten suchte man bei ihr vergebens. Na gut, wenn sie lachte, bildeten sich Krähenfüße um die Augen, doch das wirkte apart, nicht alt oder abgewrackt. Also, warum ließ Emmy sich von der Zahl vierzig so einschüchtern?
»Sag das mal Hannes«, erklärte sie nüchtern. Sie war derart emotionslos, dass es weitere Erklärungen überflüssig machte.
»Die Luft ist raus, was?«
Frustriert hob sie die Schultern. »Absolut!«
»Und ist da noch etwas zu retten?«
»Kann sein.« Sie wirkte interessenlos. »Vielleicht der Kinder wegen?«
Ich versuchte, nicht erkennen zu lassen, dass ich dieses Argument ausgesprochen lahm fand. Doch möglicherweise hatte ich als Kinderlose auch einfach nicht die leiseste Ahnung von solchen Dingen. »Wie alt ...«
Emmy unterbrach mich. »Du hast recht, das ist absurd. Basti und Robert sind neunzehn und siebzehn. Beinahe alt genug, um eigene Familien zu gründen.«
»Stimmt.« Ich war nicht wirklich überrascht, dass sie von selbst drauf gekommen war, denn man merkte ihr an, dass sie die Trennung im Grunde genommen mehr wollte als ihr Ehemann und ihr lediglich der Mut fehlte, sich von dem gewohnten Alten, das praktisch ihr ganzes Leben ausmachte, zu trennen.
»So läuft das immer, nicht wahr?«
Endlich brachte die Bedienung unsere Getränke herbei. Wir bedankten uns mit einem Lächeln. Und ganz zu unserem großen Erstaunen bekamen wir eines zurück.
Dieses Mal hatte Emmy sich von den sogenannten Traummaßen der Bedienung nicht aus dem Konzept bringen lassen und fuhr fort: »Du denkst, du hast deine große Liebe gefunden, gründest eine Familie und hast eine Zeit lang deine helle Freude daran. Aber plötzlich schleicht sich die Routine ein. Es gibt keine Überraschungen mehr und alles ist so bieder und vorbildlich. Alles, was man miteinander erleben konnte, hat man erlebt. Irgendwann kommt die Erkenntnis, dass das Leben zu kurz ist, um sich da einfach nur weiter durchzuquälen.« Sie machte eine Pause und seufzte. »Plötzlich ist dieses Leben, das man einmal so sehr wollte, nur noch eine Qual. Ist das nicht grotesk?« Sie schüttelte den Kopf vor sich hin, stieß ein kurzes spöttisches Lachen aus und nahm den ersten Schluck von ihrem heißen Kakao. »Aber weißt du, was noch grotesker ist? Dass man all das, was einem hier und jetzt mit dem aktuellen Partner aus dem Hals hängt, mit jemand Neuem noch einmal genauso durchleben würde, so, als wäre es die Erfüllung und das ganz große Glück.«
Ich hätte lügen müssen, wenn ich sagte, dass mich diese Erkenntnis nicht ängstigte, gerade weil dieser Prozess sich bei Matz und mir wesentlich schneller abspulte als bei Emmy und Hannes. Hieß das nun, dass ich beziehungsunfähig war? Immerhin hatte ich bis heute noch keine anständige Beziehung auf die Beine gestellt. Trotz meiner verrückten Kindheit hatte ich mein Leben vollkommen im Griff, benutzte meine Vergangenheit zu keiner Zeit dafür, Ausreden zu finden, wenn in meinem Leben irgendetwas schiefgelaufen war. Doch heute musste ich mir zum ersten Mal ernsthaft die Frage stellen, ob meine Beziehungen ebendarum immer so chaotisch blieben, wie sie schon immer gewesen waren. Und das spiegelte sich nicht nur in den Liebesbeziehungen wider, sondern auch in den sozialen. Ich hatte es schon immer schwer gehabt, Menschen zu finden, die zu mir passten und mich mit ihnen anzufreunden. Und ja, ich gestehe, nicht selten lag es auch an meiner unzugänglichen, unterkühlten Art, die ich mir ganz bewusst zu eigen gemacht hatte, da ich mir einbildete, dass es das Leben erforderte.
»Also, was genau ist das verdammte Problem?«, schmiss Emmy in den Raum. Diese Frage hatte sie nicht mir, sondern mehr noch sich selbst gestellt.
Trotzdem antwortete ich darauf: »Na ja, wie mir scheint, liebst du ihn einfach nicht mehr.«
Sie nickte. »Wahrscheinlich hast du recht. Lange Zeit habe ich gehofft, mich würde nur das eintönige Leben schlauchen.«
»Ach Emmy, mach dir keine Vorwürfe. Es ist normal, dass Menschen sich weiterentwickeln. Und manchmal eben nicht in dieselbe Richtung. Mit vierzig möchte man ganz andere Dinge als mit zwanzig. Aber mit vierzig hat man den Vorteil, dass man viel geerdeter und nicht mehr so sprunghaft ist.«
»Offenbar weißt du, wovon du redest?«
»Bin ich ein so offenes Buch?«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Jeder, der von dir und Matz weiß, war sich von vornherein sicher, dass das mit euch keine Zukunft haben kann.«
Ich war erschrocken über so viel Offenheit. Aber noch mehr erschrocken war ich darüber, dass die Allgemeinheit scheinbar Wetten auf unsere Beziehung abgeschlossen hatte. Was machte ein Aus so wahrscheinlich? War es auf Matz oder auf mich zurückzuführen?
Ich rang mich durch und fragte einfach mal nach.
Emmy machte den Eindruck, als ob sie sich scheute, mir nun Rede und Antwort zu stehen, obwohl sie gerade noch selbst damit angefangen hatte. »Nun ja, weißt du ...« Betreten räusperte sie sich. Ich sah ihr an, wie sie Worte in ihrem Kopf formierte, nur damit es mich nicht so sehr treffen würde. Sie wand sich ein wenig auf ihrem Stuhl, so, als ob sie ihre Offenheit inzwischen bedauern würde, und räusperte sich ein weiteres Mal. »Die Sache ist die: er ist ja kein unbeschriebenes Blatt. Er ist bekannt für die ein oder andere Affäre, dafür, dass er sich gern aushalten lässt. Und für seine Faulheit.«
Mein Blick sagte: Ach ja?
Emmys Blick sagte: In der Tat!
Währenddessen drängte sich mir wieder dieses Klickgeräusch des Kugelschreibers auf. Allmählich kam ich mir vor wie ein Tinnitus-Patient und ich musste mich wirklich beherrschen, nicht das Schreien anzufangen, nur damit dieses Geräusch übertönt würde. Doch ich versuchte, mich wieder aufs vordergründige Thema zu konzentrieren: Matz!
Wie kam es, dass mir das im Vorfeld nicht bekannt gewesen war? Plötzlich hatten es alle gewusst! War das die Konsequenz auf mein Leben als Einsiedlerin? Denn, um ehrlich zu sein, wusste ich eigentlich gar nichts von irgendjemandem aus der Kleinstadt und der Umgebung, wenn ich nicht selbst schon einmal näheren Kontakt zu einer Person gehabt hatte. Ich wusste ja nicht einmal etwas über meinen direkten Nachbarn. Ich wusste nur, dass er Rentner war, der dort ganz allein wohnte und sich im Sommer gern nackt auf einer Liege in seinem Garten von der Sonne braten ließ.
»Das höre ich zum ersten Mal«, trotzte ich, um mir nicht anmerken zu lassen, wie dumm ich mir vorkam.
»Im Ernst?«
Jetzt zog auch ich eine Augenbraue hoch und warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
»Ich konnte ja nicht wissen, wie ahnungslos du bist. Man denkt sich seinen Teil, das war's.«
»Willst du mir damit sagen, dass du die ganze Zeit über angenommen hast, dass ich mir über seinen fragwürdigen Ruf bewusst bin und ich es der Liebe wegen gleichmütig erdulde?«
Emmy ließ den Blick auf ihre Hände sinken, die auf der Tischplatte lagen, die Finger ineinander geflochten. »Entschuldige, Leonie, aber du warst glücklich. Das war das Einzige, was zählte. Ich wollte kein Querschläger sein. Man weiß doch, wo das immer endet. Ich meine, ich mag dich. Ich mag dich eben sehr, verstehst du?«
Ja, ich verstand.
Zu jenem Zeitpunkt hatten Emmy und ich einander gerade erst in der Arbeit kennengelernt. Sie war neu gewesen und ich sollte sie einarbeiten. Und aus einem mir unerfindlichen Grund hatte sie einen Narren an mir gefressen. Ausgerechnet an mir! Andere Kollegen waren viel geselliger, aufgeschlossener und einfühlsamer als ich. Ich war eher förmlich und sachbezogen – professionell eben. Doch Emmy hatte mir erklärt, sie hätte es in meinen Augen gesehen, dass wir zueinander passten. (Daraufhin hatte ich meine Augen so lange und gründlich im Spiegel betrachtet wie noch nie zuvor in meinem Leben, um irgendein Merkmal ausfindig zu machen, das ihre These unterstützte. Doch das Einzige, was ich herausgefunden hatte, war, dass das rechte Auge niedriger saß als das linke.) Deshalb hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, meine Fassade zum Bröckeln zu bringen und zu mir durchzudringen. So wäre sie allem, was mich gegen sie aufgebracht hätte, aus dem Weg gegangen.
Ich schenkte ihr ein offenes Lächeln als Antwort. »Ich hätte mir viel Ärger erspart.«
»Seien wir realistisch: hättest du mir geglaubt?«
»Tut man das je, wenn man frisch verliebt ist?«
Emmy seufzte schwer, sank in die Lehne zurück und legte ihre Hände auf den Bauch wie eine Schwangere. »Sitzt der Schock sehr tief?«
»Offen gesagt, nein!«
»Nein?«
Es war eine Sache, dass ich es nicht früher gewusst hatte, eine andere, dass ich immerhin während unserer Beziehung hinter diese unangenehmen Eigenschaften gekommen war. Ich baute mich mit dem Gedanken auf, dass es irgendwo da draußen Leute gab, die nicht einmal das von selbst geschafft hätten.
»Genau wie du stehe ich vor einer schwierigen Entscheidung.«
Emmy machte große Augen. »Warum hast du mich nicht zu Rate gezogen, wenn es derart schlecht um euch bestellt ist? Das wusste ich nicht.« Sie sah ernsthaft gekränkt aus.
»Ich gehe eben ungern an die Öffentlichkeit mit meinen privaten Angelegenheiten.«
»Du nennst mich Öffentlichkeit?«
»Nein, natürlich nicht im klassischen Sinne. Ich bereinige das Problem nur gern an der Stelle, wo es sitzt.« Ich verschwieg, dass ich für Angelegenheiten wie diese üblicherweise auf Paulina, meine ganz persönliche Psychotherapeutin, zurückgriff, weil ich ahnte, dass Emmy es als Beleidigung auffassen könnte. Und jetzt erst recht, da sie wusste, dass Paulina und ich miteinander Knatsch hatten. Aber dass ich lieber ein Problem anpackte, statt stundenlang davon zu sprechen, hatte trotzdem seine Richtigkeit.
»Schon gut.« Scheinbar wollte sie es mir überlassen, wem gegenüber ich mich aussprechen wollte und wem gegenüber nicht. Und doch bohrte sie nach einer kurzen Denkpause nach: »Also beabsichtigst du, die Beziehung zu beenden?«
»Ich schätze schon.«
»Das heißt, du bist dir noch unschlüssig?«
Ich horchte in mich hinein. Nein, eigentlich nicht. »Nein, eigentlich steht es fest.«
Emmy zog die Augenbrauen zusammen. Es war die Art, mir mitzuteilen, dass sie sich ein wenig verschaukelt fühlte. »Wenn du Worte wie ›ich schätze‹ oder ›eigentlich‹ verwendest, weist es nicht gerade darauf hin, dass du dir sicher bist, Leonie.«
»Verdammt, ich weiß, aber ich bin mir sicher!« Ich atmete tief durch. »Ich bin nur der Auffassung, dass Weihnachten nicht gerade der richtige Zeitpunkt ist, um mit jemandem Schluss zu machen, findest du nicht?«
»Es mag durchaus taktlos erscheinen, aber wenn die Fronten klar sind ... Die Fronten sind doch klar?«
»Das nehme ich an.«
»Du nimmst es an?« Sie starrte mich völlig verdattert an. Sie musste meinen, Matz und ich lebten ein Leben reich an Verdrängung und Heuchelei.
»Er scheint nicht direkt unglücklich, nur ein bisschen genervt von meiner zickigen Art, die in letzter Zeit immer häufiger hervorbricht. Außerdem weiß ich auch nicht, wie weit seine Wahrnehmungskraft reicht. Nicht, dass ich ihn für strunzdumm hielte, aber du weißt ja: Männer!«
»Tztz«, erwiderte Emmy Augen verdrehend. »Männer wie er sind sich sehr wohl bewusst, wann es brenzlig wird. Spätestens wenn er nicht mehr widerspricht und sich zurückzieht, um erst einmal Gras über manch strittige Angelegenheiten wachsen zu lassen, solltest du dir Gedanken machen. Aber so richtig schlimm ist es erst, wenn er dir ein Geschenk aus der Reihe macht. Er will dich damit besänftigen, dich daran erinnern, warum du dich einst in ihn verliebt hast. Und wenn gar nichts mehr geht, drückt er auf die Tränendrüse, denn welche Frau fühlt sich nicht geehrt, wenn der Mann, sonst so zäh und potent, sich plötzlich so sensibel und angreifbar zeigt und wegen ihr heult?«
Nun kam ich mir strunzdumm vor. Es ging mir nicht darum, ihn nicht verletzen zu wollen oder darum, nicht in der Rolle der Bösen auftreten zu müssen oder gar darum, dass ich tief im Innern glaubte, da wäre noch etwas zu retten. Es ging einzig darum, dass ich mich nicht in der Lage fühlte, der Beziehung den Gnadenschuss zu geben. Ausgerechnet ich! Ich wusste nicht wann, wie oder wo ich es tun sollte. Doch eigentlich kam es mir mehr noch so vor, als ob es sich nicht gehörte.
»Seit wann bist du so zimperlich?«, war Emmy, die sich inzwischen an meine raue Art gewöhnt hatte, zu Recht erstaunt. Obwohl ich ja der Meinung war, dass ich gar nicht mehr so rau war, sobald ich einen Menschen in mein Herz geschlossen hatte. Aber nun tat sie ja gerade so, als käme ich einem wilden, mordlustigen Tier gleich, das unter Umständen seine Beute am lebendigen Leibe begann zu verspeisen.
»Womöglich bin ich es einfach nur gewohnt, dass sonst immer ich die Verlassene bin (in jeder Hinsicht).« Es gab Dinge im Leben, die konnte man nun einmal nicht erklären, auch wenn ich dazu neigte, es trotzdem immer wieder auf einen Versuch ankommen zu lassen. Und seit Neuestem scheiterte ich immer öfter daran – so wie jetzt.
Wieder verdrehte sie die Augen. »Und seit wann zergehst du in Selbstmitleid?«
»Das tue ich doch gar nicht!«, protestierte ich so energisch, dass ich die Kontrolle über meine Stimme verlor und einige Leute, die sich unmittelbar in unserer Nähe befanden, nach mir schauten. »Außerdem windest du dich ja auch und kannst keinen plausiblen Grund dafür angeben, aus dem du nicht längst die Scheidung eingereicht hast.« Ja, ich weiß, es war kein feiner Zug, von mir auf sie zu lenken, nur um irgendwie den Kopf aus der Schlinge zu bekommen, aber mir schien, dass ihre Vorwürfe ausufern wollten. Ich mochte mich nicht rechtfertigen, schon gar nicht, wenn ich mir mein zaghaftes Verhalten selbst nicht richtig erklären konnte.
»Und könnten Sie das mit Ihrem Scheißkuli endlich mal bleibenlassen?«, brachte ich dank meiner Rage endlich den Mut auf, die rothaarige Frau am Nachbartisch auf ihre Macke anzusprechen. Gut, es glich eher einem Fauchen, aber das war wirklich nicht mehr zum Aushalten gewesen. Friede, Freude, Weihnachtszeit hin oder her.
Mit tellergroßen Augen und steifgefrorenem Gesicht wandte die Frau sich mir zu. Sie umklammerte den Kugelschreiber und hielt den Daumen in die Höhe, als hätte irgendwer auf Pause gedrückt.
»Entschuldigen Sie bitte«, pendelte sich mein Tonfall reflexartig ein, als ich sah, dass ihre Augen sich langsam mit Tränen füllten und ihr Kinn zu zittern begann, »aber dieses Geräusch«, zeigte ich auf den Kugelschreiber, »treibt mich in den Wahnsinn.« Sogar ein freundliches Lächeln warf ich hinterher. Allerdings wagte ich zu bezweifeln, dass ich damit jetzt noch Eindruck schinden konnte.
»Ich ... ähm ... gewöhne mir gerade das Rauchen ab«, war ihre Stimme nur ein Hauch.
»In Ordnung, Gratulation, aber«, sprach ich nun so elfenhaft wie nur möglich, »könnten Sie dann nicht auf etwas weniger nervtötende Maßnahmen zurückgreifen wie Kaugummikauen oder Stricken? Es besitzt nämlich nicht jeder so ein starkes Nervenkostüm wie Ihre Begleitung.« (Nebenbei bemerkt war die Begleitung männlich. Er musste schon sehr verliebt in sie sein, um darüber hinwegsehen zu können.)
»Ja ... ja klar.« Gleich darauf steckte sie den Kugelschreiber in ihre kleine schwarze Handtasche und kramte darin herum. Offensichtlich suchte sie tatsächlich nach Kaugummis.
Es tat mir in der Seele weh, dass ich sie so angefahren hatte. Im Grunde konnte sie doch überhaupt nichts dafür, dass ich mein Liebesleben nicht auf die Reihe bekam. So war ich ihr wenigstens diesen verdammten Kaugummi schuldig, oder? Also wühlte auch ich in meiner Tasche herum, während Emmy mich schmunzelnd dabei beobachtete, statt Hilfe zu leisten und für alle Fälle auch ihre Handtasche abzusuchen.
Doch dann hatte ich die Packung Kaugummis gefunden, nachdem ich den halben Inhalt meiner Tasche auf dem Tisch verstreut hatte, und reichte der Frau gleich das ganze Päckchen. Sie nahm es nur zögernd an sich (vermutlich dachte sie, ich wolle sie zu allem Überfluss auch noch vergiften) und wisperte irgendetwas. Ich deutete es als ein Danke.
Und während ich meine Sachen wieder in die Handtasche einsortierte, überdachte ich mein Benehmen. Ich meine, ich hatte doch nicht im Sinn, Menschen grundsätzlich Angst einzujagen, vor allem dann nicht, wenn es um Bagatellen wie Kugelschreiberklicken ging. Aber die Tatsache, dass die rothaarige Frau sich nicht zur Wehr gesetzt hatte, zeugte dafür, dass meine Wirkung genau das tat. Es stimmte mich gar traurig.
Außerdem überkam mich das Gefühl, mich bei Emmy entschuldigen zu müssen. Schuldbewusst sah ich zu ihr auf. »Es ist nicht anständig von mir, dich und mich zu vergleichen. Bei dir hängt so viel mehr dran.« Nein, es waren nicht nur die Kinder, die alt genug waren, um zu verstehen, dass Liebe viel zu komplex war, als dass sie nicht auch dessen Eltern das Genick brechen könnte (ganz bestimmt hatten sie selbst bereits ihre ersten, ganz eigenen Tragödien hinter sich). Vielmehr waren es die vielen Jahre, die Emmy und Hannes zusammengeschweißt hatten – so sehr, dass man sich die beiden gar nicht als ein Einzelwesen vorstellen konnte. Und was hatten die popeligen zwei Jahre aus Matz und mir gemacht? Auf was konnten wir schon zurückblicken? Es gab nichts, was nur annähernd so sehr von Bedeutung war, dass es sich mit Emmys Ehe entgegensetzen lassen konnte.
»Der Stress mit den Männern zermürbt unsere Köpfe. Lass uns den Frust nicht aneinander auslassen.« Im Gegensatz zu mir waren Emmys Gesichtszüge entspannt.
»Und an anderen«, deutete ich unauffällig auf die rothaarige Frau, die mich keines Blickes mehr würdigte, aber immerhin meine Kaugummis in Anspruch genommen hatte.
»Zeig mir lieber noch einmal deine neuen Pumps.«
Bei diesen Worten strahlte ich wieder, griff die Tüte, in der diese sich befanden und reichte sie ihr. »Der Hammer, was?«
»Auf jeden Fall.«
»Ist das nicht Paulina da hinten?«, zeigte Emmy zwanzig Minuten später mit dem Finger auf eine gackernde Gestalt vor dem offenen Eingang des Cafés, die sich dabei an der Schulter ihres Begleiters festhielt. Vermutlich brach sie vor Lachen jeden Moment zusammen.
Ich verschluckte mich beinahe an dem letzten Schluck meines Kaffees, der schon ekelhaft erkaltet war. (Mit Emmy vergaß ich einfach die Zeit.) »Sieht ganz danach aus«, raunte ich bitter, mehr ihres Begleiters wegen: Thor (Ja, so heißt er wirklich!) - Ein Grund unseres Streits.
»Ich habe sie nicht gleich erkannt. Sie sieht ... ganz anders aus«, sprach Emmy hinter vorgehaltener Hand, als hätte Paulina sie aus dieser Entfernung hören können.
»Ganz anders« bedeutete in diesem Fall, dass Paulina sich die Haare blond färben (vor drei Wochen waren sie noch haselnussbraun) und bis zur Taille verlängern lassen und ihre sonst so sportliche Kleidung gegen hohe Stiefel und einen knieumspielten Mantel aus braunem Fellimitat eingetauscht hatte. Und ihre Schminkgewohnheiten hatten sich natürlich auch massiv verändert. Plötzlich waren Smokey Eyes sexy (früher völlig widernatürlich) und rot bemalte Lippen und Fingernägel sinnlich (früher total billig).
»Ganz anders« bedeutete in diesem Fall also: nuttig.
»Ganz anders« bedeutete in diesem Fall allerdings auch: Der zweite Grund unseres Streits.
Ich machte mich klein auf meinem Stuhl und betete, dass sie mich nicht entdeckte. Ihre Aufmachung war einfach zu beschämend und ich wollte mit dem, was diese aussagte, nicht in Verbindung gebracht werden.
Doch da war es schon zu spät.
»Ach, sieh mal einer an«, keifte Paulina vom Eingang aus durch das Café. Ich tat so, als wäre nicht ich gemeint. Dennoch lief ich hochrot an. Plötzlich fühlte ich mich von jedem im Raum angeglotzt, dabei glotzte ein jeder (inklusive der Pudel einer älteren Dame) vollkommen entrüstet zu Paulina. »Neue beste Freundin gefunden?«
Ich hatte noch eine reelle Chance, einigermaßen heil aus dieser Nummer herauszukommen, denn sie hatte noch nicht meinen Namen gerufen, sodass automatisch alle Augenpaare nach der betroffenen Person suchen würden. Denn wenn sie das erst einmal täte, wüssten alle ganz genau, wer Leonie Sophia Pfeiffer war (sie hatte die dusselige Angewohnheit, meinen vollen Namen auszusprechen, wenn sie verärgert war oder ich sie aus verschiedenen Gründen nicht beachtete, was äußerst unvorteilhaft war, wenn ich mich an einem öffentlichen Ort wie dem jetzigen aufhielt und mir alle Anwesenden gänzlich fremd waren), schließlich gäbe es nur eine einzige Person in diesem Café, die ihr glühend rotes Gesicht verzweifelt hinter den Händen zu verstecken versuchte. Und die rothaarige Frau würde sich ganz sicher in den Hintern beißen, weil sie sich von einer solchen Thusnelda wie mir hatte einschüchtern lassen. Wie könnte man mich auch ernst nehmen mit einer Erscheinung wie Paulina (im gegenwärtigen Zustand) an meiner Seite?
»Bedienung?«, näselte Emmy mit einem Mal gespielt schnippisch. »Könnten Sie bitte diese wüste Gestalt entfernen? Ich fühle mich in meinem Frieden gestört.« Auf der Stelle wollte ich in Gelächter ausbrechen, doch ich biss mir auf die Lippen, um es nicht noch schlimmer zu machen – für Paulina. Immerhin war sie nach wie vor meine beste Freundin, nahm ich jedenfalls an.
Ein junger Mann kam hinter der Theke hervor. Er erweckte den Anschein, dass ihm der Laden gehörte, aber auch, dass er bereits vor Emmys Aufforderung auf dem Weg zum Eingang gewesen war. »Ich bitte Sie ...«, wies er wie ein Verkehrspolizist mit einer Hand vom Café weg, mit der anderen berührte er Paulinas Arm sanft.
Thor baute sich mit seinen ein Meter achtundneunzig und dem muskelbepackten Oberkörper vor dem Cafébetreiber auf, der weder in der Höhe noch in der Breite mit ihm mithalten konnte. »Nimm deine Schmalzfinger von ihr.«
Entwaffnend hob der Cafébetreiber die Hände. »Die Gäste wünschen nur, in Ruhe gelassen zu werden.«
»Sind wir etwa keine Gäste?«, schrillte Paulina.
»Im Augenblick machen Sie mir nicht den Eindruck, nein.«
Paulina wollte sich an dem Cafébetreiber vorbeidrängen. »Okay, das können wir ändern.«
Doch er versperrte ihr den Weg. »Ich fordere Sie erneut auf zu gehen.«
Thors Gesichtszüge verfinsterten sich. Ich sah den Cafébetreiber schon bewusstlos und völlig verknotet in einer Ecke liegen, doch Thor machte nur einen raschen Schritt nach vorn, um ihn in Schrecken zu versetzen.
Da verhielt sich Paulina weitaus giftiger. »Passen wir etwa nicht in dein High-Snobiety-Lokal, oder was?«
»Wenn Sie so auftreten, nicht!« Ich hatte immer gedacht, ich wäre mutig, aber der Cafébetreiber belehrte mich heute eines Besseren.
»Ha!«, rief sie. »Was willst du damit sagen? Dass ich aussehe wie eine Nutte?« Dass sie das Thema zuweilen von sich aus anschnitt, lag lediglich daran, dass sie, seit ihrem Imagewechsel, alle naselang darauf aufmerksam gemacht wurde, und nicht daran, dass es ihr tatsächlich bewusst war.
»Wer redet denn von Ihrem Erscheinungsbild?«, wunderte er sich anscheinend ernsthaft und machte ein Gesicht, als hätte sich Paulina gerade vor seinen Füßen übergeben. »Ich rede von Ihrem Geschrei von eben.«
Und irgendwie hatte diese Antwort gesessen, denn sie sah plötzlich zerstreut aus, so, als hätte er ihr gerade eröffnet, dass ihre Mutter zu Tode gekommen war. Das bemerkte auch der Cafébetreiber und wandte sich wieder entspannt seiner Arbeit zu. Wir alle konnten wohl damit rechnen, dass der Tumult nun vorüber war.
Ehe sie mit ihrem Thor sprachlos von dannen zog, trafen sich unsere Blicke, und wenn mich nicht alles täuschte, standen ihr Tränen in den Augen.
Ich war noch immer erschrocken von Paulinas respektlosem und aufständischem Verhalten, als Emmy mir zuflüsterte: »Also, Benehmen ist in letzter Zeit wirklich Glücksache bei ihr, was?«
Ich grinste halbherzig. »Ich weiß auch nicht, was dieser Thor an sich hat, dass sie sich so umbiegen lässt.«
»Er sieht aus wie ein Zuhälter. Vielleicht ...«
»Das ist er nicht«, fuhr ich ihr ins Wort, »das habe ich schon überprüft. Es ist etwas anderes.«
»Es ist sehr schade um sie. Sonst ist sie so nett. Etwas zickig, aber nett.« Gelegentlich hatten Emmy, Paulina und ich zusammen etwas unternommen oder uns einfach nur für einen gemütlichen DVD-Abend bei mir zu Hause versammelt, wenn Matz mit seinen Jungs am Wochenende losgezogen war. Daher wusste Emmy, wovon sie redete.
»Danke übrigens.«
»Wofür?« Offensichtlich durchforstete Emmy ihr Unterbewusstsein nach einem wertvollen Hinweis, der ihr die Antwort vor mir gab.
»Na ja, du hast vermieden, dass sie meinen Namen wieder raus krakelt.«
Emmy lachte. »Eigentlich kannst du froh sein, dass sie nicht auch noch deine Adresse und Telefonnummer hinten anfügt.«
»Und du hast die Leute hier glauben gemacht, dass du diejenige bist, die Paulina angesprochen hat.«
Darüber schien sich Emmy nicht ganz klar gewesen zu sein. »Oh!«, brachte sie daher nur hervor.
Nun musste ich lachen.
»Meinst du wirklich?«
Demonstrativ schaute ich mich um. »Es hat sich niemand sonst beschwert. Das ist so eine psychologische Sache, schätze ich.«
»Oh Mann«, jammerte sie, »dann lass uns besser aufbrechen, bevor mich hier irgendeiner nach meinen Dienstzeiten fragt.«
Ja, vielleicht war es gemein, dass wir Paulinas nuttiges Outfit unentwegt verspotteten, andererseits taten wir das nur, weil es nun mal nicht Paulinas Lebensart war. In Wirklichkeit thematisierten wir es nur, weil es uns belastete.
***
Während ich darauf wartete, dass der Barkeeper meinen Cocktail mixte, spielte ich mit dem Zeigefinger nachdenklich an einem der Dekoelemente, das direkt vor meiner Nase auf dem Tresen stand. Ich wusste nicht einmal, was genau es darstellen sollte, ich wusste nur, es sollte weihnachtlich anmuten mit den Kiefernzweigen und den goldenen Schleifchen.
Noch immer konnte ich es nicht fassen, dass ich den dritten Adventsabend in einer Bar ausklingen ließ, nur weil mich zu Hause plötzlich die Einsamkeit übermannt hatte. Auf einmal fühlte sich mein Leben so leer an. Da konnten die neuen Pumps auch nichts dran ändern. Aber heute war hier nicht sehr viel los. Warum auch? Es gab Menschen, die fühlten sich im Kreise ihrer Familien gut aufgehoben, speziell an diesen Tagen.
Nun gut, ich hatte ja gar keine Familie! Meine leiblichen Eltern kannte ich nicht, denn ich war schon als Baby zur Adoption freigegeben worden, meine Adoptiveltern waren einesteils tot und anderenteils im Knast, und für eine eigene Familie hatte mir bislang entweder der richtige Partner oder der Eisprung zur passenden Zeit gefehlt.
Bei Matz kam beides zusammen. Es gab das erste Jahr, in dem er sehr darum bemüht war, mich glücklich zu machen und in dem wir uns schon recht früh über Zuwachs einig gewesen waren. Doch ich war nie schwanger geworden (gottlob). Im zweiten Jahr konnte er sein zweites (wahres) Ich kaum noch länger verbergen und hatte sich fast unmerklich zu einer faulen, selbstsüchtigen Hohlfigur entwickelt. Dazu lag die Vermutung nahe, dass er mich mit einer anderen Frau betrogen hatte.
Allerdings war ich mir erst vor einigen Wochen darüber bewusst geworden, dass nicht nur er, sondern auch unsere Beziehung aus den Fugen geraten war. Dennoch konnte ich ihn ja nicht erbarmungslos auf die Straße setzen. Nicht, dass ihn seine Eltern seinem Schicksal überlassen würden, aber sie wussten nur zu gut um seine wahre Natur und waren es ebenso leid wie ich. Im Grunde genommen wollte ich ihnen mein Elend nicht aufbürden, auch wenn unser Verhältnis nicht das beste war (na ja, vor allem das zwischen Margret und mir) und es mir daher vollkommen gleich hätte sein können.
Ein Typ setzte sich direkt neben mich.
Warum direkt neben mich? Der Tresen war etwa acht Meter lang, an dem zwölf Barhocker standen, von denen neun nicht besetzt waren. Aber er setzte sich ausgerechnet neben mich und raubte mir unnötigerweise meine Armfreiheit. Frechheit!
Unauffällig schielte ich zu ihm, ohne meinen Kopf zu bewegen, doch allein aus dem Augenwinkel erkannte ich nicht mehr als eine unscharfe Gestalt, die die Arme auf den Tresen gelegt hatte. Also war ich gezwungen, meinen Kopf auf meiner Erkundungsreise nun doch ein wenig zu drehen. Sofort fing ich seinen Blick ein, der unangenehm an mir klebte. Ich erschrak und wandte meinen Kopf blitzartig wieder ab. Er nahm mir also nicht nur meine Armfreiheit, sondern starrte mich auch noch an. Hatte er denn keine gute Kinderstube genossen?
Wütend kaute ich und verengte meine Augen.
Doch dann wurde mir meine abweisende Art irgendwie peinlich. Ich konnte doch nicht so tun, als wäre er nicht da, wenn sich unsere Blicke ohnehin schon getroffen hatten. So entschied ich mich, ihn noch einmal spontan bei drei anzusehen. Sein Blick haftete immer noch an mir, was meine Wut steigerte.
»Entschuldige«, ergriff ich die Initiative, »habe ich Dreck an der Backe oder warum glotzt du mich so blöd an?«
Jetzt grinste der Typ auch noch breit. »Du kommst mir unheimlich bekannt vor, aber mir will partout nicht einfallen, wo ich dein Gesicht schon einmal gesehen habe.« Seine Sprechweise war sympathischer als sein Benehmen, aber seine Anmachsprüche genauso wenig originell wie meine Geldverstecke.
»Deshalb musst du dich ja nicht gleich so aufdrängen, oder?«
»Wie lernst du dann für gewöhnlich Leute kennen? Ich meine, wir sind hier in einer Bar.«
Ich grübelte kurz. »Na, jedenfalls nicht, indem ich ihnen auf die Schultern springe.«
Plötzlich schnellte er vom Hocker und ließ sich auf dem nächsten wieder nieder. »Besser so?«, rief er so übertrieben laut, als hätte er sich ganz ans andere Ende des Tresens gesetzt.
Der Barkeeper brachte mir endlich meinen Cocktail, dann nahm er die Bestellung von dem Scherzkeks auf. Der wollte nur ein belgisches Bier. Wenn er nur Bier wollte, warum war er in eine Bar gekommen? Hätte es nicht auch eine Kneipe getan? Denn da hätten seine frechen Umgangsformen wesentlich besser hineingepasst und sicher viel mehr Anklang gefunden.
Nun trennte uns jedenfalls ein Hocker und ich musste zugeben, dass sich das wirklich gleich viel angenehmer anfühlte. »Da fragst du noch?« Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Herrje, immerhin gab er sich Mühe!
»Sicherheitshalber! Es hätte ja durchaus sein können, dass dir das noch zu nahe ist.«
»Na ja, dein Aftershave rieche ich noch.« Das tat ich wirklich. Es roch würzig-penetrant.
Er hob eine Augenbraue an. »Soll ich mich jetzt auch noch duschen gehen?«
»Das klingt ein bisschen danach, als hättest du eine Aversion gegen Wasser«, zog ich ihn auf und hatte sogar richtig Spaß daran.
Er anscheinend ebenfalls. »Ich habe wohl eher eine Aversion gegen Stinkstiefel wie dich.« Er zwinkerte mir mit einem Auge zu. »Wie kann ein einziger Mensch so mies gelaunt sein? Und das auch noch an diesen heiligen Tagen.«
Trotzig zuckte ich mit den Schultern und drehte nervös mein Glas. »Ich habe mir Weihnachten auch etwas anders vorgestellt. Stattdessen stehe ich a) kurz vor einer Trennung, habe b) Stress mit meiner besten Freundin, werde c) immer runder um die Hüften herum und bin d) zu allem Überfluss gestern auch noch überfallen worden – in meinem eigenen Haus, versteht sich.« Ich beobachtete ihn dabei, wie seine Augen bei jedem Punkt größer wurden vor Erstaunen. Nur Punkt C veranlasste ihn, einen kurzen prüfenden Blick auf meine Hüften zu werfen.
Er nahm einen großen Schluck aus seinem Bierglas, ein Akt, der mich ahnen ließ, dass er es für seine Nerven brauchte. »Okay! Zu Punkt A: Warum? Zu Punkt B: Warum? Zu Punkt C: Es ist alles da, wo es hingehört. Und zu Punkt D: Jetzt weiß ich, warum du mir so bekannt vorkommst.«
»Ach ja?«, bezog ich mich lediglich auf die Antwort auf Punkt D. »Und woher?« Ich war richtig überrascht, dass das doch nicht nur eine doofe Anmache gewesen war.
»Na, der Überfall steht doch im Tagesblatt. Und über dem Artikel ist ein kleines – sehr kleines – Bild von dir abgedruckt.«
»Im Ernst?«, klang meine Stimme hell vor Aufregung. »Woher wissen die davon?«
Der Barkeeper hatte unser Gespräch aufmerksam verfolgt und griff unter den Tresen. Da holte er die Zeitung von heute hervor, legte sie mir direkt vor die Nase und tippte mit dem Finger auf den Artikel auf der Titelseite. Sofort hob ich diese auf und hielt sie mir dicht vors Gesicht, weil ich meinen Augen nicht trauen wollte.
»Das darf ja wohl nicht wahr sein!« Beim Lesen klappte mein Kinn herunter. »›Leonie Pfeiffer stundenlang in der Vorratskammer der Küche eingesperrt, als ihr Verlobter Matz Grimm sie befreit und die Polizei ruft‹«, las ich vor, mehr vor mich hinmurmelnd.
»Deshalb habe ich dich auch nicht gleich erkannt. Das Bild in der Zeitung macht einen ganz anderen Menschen aus dir. Aber diese Augen«, warf er mir ein vor Sehnsucht zergehendes Lächeln zu, »die sind dieselben.«
Ich stellte mich taub. »Woher haben die das überhaupt? Das ist sechs Jahre alt.« Dann flog mein Blick weiter über den Artikel. Zwischendurch stieß ich immer mal wieder ein fassungsloses: »Die sind doch wohl ... (bescheuert)« oder ein verärgertes: »Die haben doch wohl ... (den Schuss nicht gehört)« aus, konnte die Sätze aber nie beenden. Das war einfach zu grotesk. »Hör mal zu«, richtete ich mich an den Fremdling, der mir doch eben noch mit seiner Existenz auf den Wecker gefallen war. »›Der Einbrecher klaute den transportablen Tresor samt zwanzigtausend Euro aus dem Rollcontainer des Schreibtisches, als er den dazugehörigen Schlüssel nicht finden konnte.‹ Wir besaßen noch nie einen transportablen Tresor. Und schon gar keine zwanzigtausend Euro. Ist das zu fassen?«
»Na, da hat dein Verlobter seinen Nachnamen ja völlig zu Recht, hm?«, bemerkte der Barkeeper trocken, während er leger ein Glas polierte und es zum Quietschen brachte.
Der Fremdling lachte herzhaft und fuhr sich mit den Händen durch seine dunkle Sturmfrisur. »Stimmt, an ihm scheint ein guter Märchenerzähler verloren gegangen zu sein.«
Der war zwar gut (!), aber mir war, wenig überraschend, derzeit nicht zum Lachen zumute. »Woher wollt ihr denn wissen, dass das von ihm aus kommt, hm? Hm?«
»Ich kenne Matz Grimm gut genug, um zu wissen, dass er dauerarbeitslos und chronisch pleite ist«, antwortete der Barkeeper. »Der Überfall ist offensichtlich die Gelegenheit für ihn, ganz groß abzusahnen.«
Leider musste ich zugeben, dass nur einer in Frage kam, der für diesen Artikel verantwortlich sein konnte: Matz! Dennoch musste ich das hier ja nicht so breittreten. Nicht seinetwegen, mehr noch meinetwegen. Augenblicklich war es mir nämlich ziemlich unangenehm, dass ich mit dieser Lusche in Verbindung gebracht wurde. Was war heute los? Erst Paulina, jetzt Matz.
»Woher kennst du ihn denn?«, hakte ich neugierig nach und schob die Zeitung auf eine Weise von mir, als würde sie nach faulen Eiern riechen.
»Meine Mutter bekommt nur eine kleine Rente und hat das Obergeschoss ihres Hauses in ein hübsches Apartment umbauen lassen. Vor etwa drei Jahren hatte er es bezogen. Da bekommt man so einiges mit.« Er zwinkerte mir vielsagend zu. Klatsch und Tratsch lauerte eben an jeder Ecke. »Und es dauerte auch nicht lang, da hat er die Miete nicht mehr gezahlt.«
Ich wollte mir nicht ausmalen, dass ich die Dumme war, die er zu seinem Glück gefunden und ihm ein neues, sicheres Heim geschenkt hatte. Es passte alles zusammen.
Ich musste unwillkürlich laut schlucken. »Um wie viele Mieten wurde sie geprellt?«
»Um sechs. Sie war einfach zu gutgläubig und jovial.« Er seufzte. »Er ist ein pathologischer Lügner. Aber du wohnst mit ihm zusammen – das wirst du wohl längst herausgefunden haben, nicht wahr?«
Na ja, ich hatte so einiges herausgefunden, aber ein so soziopathisches Verhalten hatte ich ihm nicht zugetraut. Oder traute ich es ihm doch zu, wollte mir aber nicht eingestehen, dass ich genauso auf ihn hereingefallen war wie die Mutter des Barkeepers? War unsere gesamte Beziehung etwa wirklich nur auf einer einzigen Lüge aufgebaut? Immerhin hatte die Fassade vor einigen Monaten zu bröckeln begonnen. War es ihm irgendwann zu anstrengend geworden, die Maskerade aufrechtzuerhalten?
Ich nickte nur. Was sollte ich darauf auch schon sagen? Als ich mich daraufhin wieder dem Fremdling zuwandte, war dieser plötzlich verschwunden. Ich sah mich nach allen Seiten um, dachte, er hätte sich nur woanders hingesetzt, doch er war nirgends zu sehen.
»Wo ist er hin?«, zeigte ich auf den leeren Hocker. Wahrscheinlich war dieser noch warm.
»Er ist gegangen. Hast du das nicht mitbekommen?« erwiderte der Barkeeper schmunzelnd. Machte er sich jetzt auch noch lustig über mich?
»Ähm, nein, ich habe mich doch mit dir unterhalten.«
»Gib jetzt bloß nicht mir die Schuld daran.« Er schmunzelte.
»Nein, gewiss nicht. Ich denke, meine Art hat ihn verjagt.« Machte mich das jetzt etwa traurig?
»Na ja, vielleicht liegt es auch daran, dass du nicht gerade von ihm angetan warst. Ich meine, er hat sich sogar von dir weggesetzt.«
Missmutig stützte ich mein Kinn in die Hand. »Schon gut! Musst es mir ja nicht so aufs Butterbrot schmieren.«
»Ich wollte dich bloß daran erinnern.« Er gackerte. »Was hat denn plötzlich deine Meinung geändert?«
Ich zuckte mit den Schultern, simulierte Ahnungslosigkeit. Aber dann konnte ich nicht mehr an mich halten und platzte heraus: »Er hat mir einfach gefallen, okay?«
»Okay, okay!«
»Weißt du wenigstens seinen Namen?« Ich war nicht einmal dazu gekommen, es von dem Fremdling selbst zu erfahren, nur wegen des blöden Artikels.
»Nein, woher denn?« Er schien sich köstlich zu amüsieren.
Aber vielleicht sollte es ja auch nicht sein? Immerhin hätte er sich ja nicht so klammheimlich davonschleichen müssen. Das bewies doch eigentlich nur, dass er kein weiteres Interesse an mir verfolgt hatte. Vermutlich wollte er mich sogar nur für eine Nacht. Also hätte ich doch froh sein müssen, dass mir das heute Abend erspart geblieben war. Schließlich hatte ich wirklich allerhand andere Probleme, mit denen ich mich herumschlagen musste.
»Auch gut!«, tat ich es ab, rutschte vom Hocker und warf mir den Mantel über, um zu verduften. »Wie viel macht das?«, fragte ich und holte mein Portemonnaie aus der Seitentasche meines Mantels.
»Lass gut sein, ich lade dich ein.«
»Himmel nein, das musst du nicht tun.« Demonstrativ klimperte ich durch mein Hartgeld.
»Es ist mir ernst! Bei all den Schwierigkeiten, von denen du offenbar zurzeit mehr als genug befallen bist, brauchst du definitiv eine kleine Aufmunterung.« Seine Züge deuteten darauf hin, dass er es weder ironisch noch anderweitig boshaft meinte, sondern meine Lage einfach nur aufrichtig bedauerte.
»Oh danke!« Ich war wirklich dankbar.
»Hey-hey, komm schon, wir stecken mitten in der Weihnachtszeit.«
Auf halbem Wege nach Hause war mir eingefallen, dass ich das Tagesblatt des Barkeepers hätte mitnehmen können. Ich war der festen Überzeugung, dass er es nicht mehr gebraucht hätte. Da ich zu faul gewesen war, noch einmal zur Bar zurückzukehren, hatte ich an einer Tankstelle Halt gemacht, die ohnehin auf meinem Weg gelegen war, mit dem Fünkchen Hoffnung, dass ich um diese Tageszeit (es war so gut wie 21 Uhr 30 gewesen) noch eine Zeitung bekäme. Und das Glück war mit mir gewesen.
Nun saß ich hier auf meinem Sofa mit sogenanntem Tagesblatt im Schoß und wartete mit wippendem Bein ungeduldig darauf, dass Matz nach Hause kam. Ich hielt die Zeitung eingerollt, als wäre ich entschlossen, eine Maus zu vertreiben oder sie Matz direkt über den Schädel zu ziehen, sobald er in die Tür hereinkommen würde.
Wer hätte gedacht, dass der Abend so enden würde? Ich meine, ich war in diese Bar gegangen, um mir einen schönen Abend zu machen, bevor ich zu Hause versauert wäre. Matz hatte Pläne mit seinen Jungs gehabt, hasste es, mit seinen Eltern einen auf happy family zu machen und hatte deshalb nicht eingesehen, an diesem dritten Advent dorthin zu gehen. Er hatte aber auch nicht eingesehen, den Tag mit mir zu verbringen, denn das Wochenende widmete er ausschließlich seinen Jungs. Was konnte er auch schon dafür, dass einmal im Jahr Weihnachten war und die vier Adventssonntage ausgerechnet immer auf sein geehrtes Wochenende fielen?
Und dann fiel mir der Fremdling wieder ein. War er ebenso einsam wie ich? Ich dachte nur an mich, aber wie erging es ihm? Doch wohl nicht besser als mir, oder warum war er allein in der Bar gewesen?
Ich versuchte, mir sein Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Würde ich ihn wiedererkennen, wenn ich ihm zufällig auf der Straße begegnen würde? Ich meine, die Wahrscheinlichkeit war groß, dass es dazu käme, sollte er in der gleichen Stadt wie ich leben. Da war es wichtig, sich zu erinnern. Doch egal, wie sehr ich mich anstrengte, mich zu erinnern, ich landete immer wieder bei seiner Sturmfrisur und diesem würzig-penetranten Aftershave.
Warum tat ich das überhaupt? Warum grübelte ich über diesen Fremdling nach? Wenn er wichtig gewesen wäre, dann hätte ich mir doch sein Gesicht eingeprägt, oder? Ich konnte nicht einmal ausmachen, was ihn auf einmal derart interessant für mich machte. Ich hatte das Gefühl, je mehr Zeit über das Zusammentreffen in der Bar wuchs, er sich desto mehr in ein Phantom verwandelte. Irgendwann würde ich nicht einmal mehr wissen, wie das Aftershave gerochen hatte. Es war unlogisch, dass ich ihn scheinbar mit jeder schwindenden Stunde interessanter und interessanter fand, während ich seine Nähe total unerträglich gefunden hatte, als wir noch beieinander saßen.
Dann vernahm ich den Schlüssel im Haustürschloss.
Gott sei Dank, dachte ich, nun hat das Warten endlich ein Ende. Und außerdem führte es mich von den sinnlosen Gedanken weg und ließ mich zum wesentlichen Teil meines Lebens übergehen.
Im hohen Bogen sprang ich vom Sofa, dabei fiel mir die Zeitung vom Schoß. Ich bückte mich schnell, um sie wieder aufzuheben und zusammenzurollen, und sauste in den Korridor, um ihn des Artikels wegen zur Rede zu stellen. Da rannte ich Etienne blind in die Arme.
Ich schrie vor Schreck. »Eeetienne!«
Auch er schrie: »Scheiße, Leonie!«
Wir scherten zwei Schritte nach hinten aus, um uns wieder voneinander zu lösen, während Matz sich halb totlachte. Doch ich dachte: Dir wird schon noch das Lachen vergehen, Freundchen.
»Was machst du hier? Etienne?« Seinen Namen sprach ich immer wieder gern aus, da er so eigentümlich klang. Ich würde mich wohl niemals an ihn gewöhnen – also an den Namen, nicht an Etienne selbst. Der war nämlich schwer in Ordnung. Zu naiv, um zu begreifen, wer Matz war und was er im Schilde führte.
»A-a-ach na ja ...«, stammelte er. Etienne war nicht nur naiv, er war auch unsicher und hatte in Augenblicken wie diesem immer das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. »Matz ha-a-at ...«
»Ich habe ihn auf ein Bierchen eingeladen, Schatz.« Er streichelte meinen Oberarm, während er die Worte sprach. Das tat er nur, wenn er sich bei mir einschmeicheln wollte.
»Etienne, du weißt, ich habe dich wirklich gern, aber ich möchte heute meine Ruhe haben.« Ich drängte ihn zur Haustür, was nicht schwierig war, denn er hatte einen Riesenrespekt vor mir und vor der Tatsache, dass dies mein Haus war und ich damit noch immer das letzte Wort hatte.
Matz kam Etienne zu Hilfe. »Was soll das, Leonie? Muss ich mir jetzt von dir sagen lassen, wen ich mit nach Hause bringen darf?«
»Wo du es gerade ansprichst: ich denke nicht, dass das hier noch länger dein Zuhause ist.« Ich schlug die eingerollte Zeitung einige Male in meine andere Hand, um ihn auf sie, die Zeitung, aufmerksam zu machen. Also, wenn er diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstand und immer noch wollte, dass Etienne hierblieb und Zeuge einer für Matz recht unangenehmen Diskussion würde, musste ich ihn endgültig für verrückt erklären.
Doch ich machte mir entschieden zu viele Sorgen. Flugs landete Etienne nämlich im Vorgarten, bekam einen feuchten Handschlag und die Haustür vor der Nase zugeknallt.
Geht doch, dachte ich und grinste in mich hinein. »Was? Dachtest? Du dir? Dabei?« Ich unterdrückte meine Wut und hielt ihm die Zeitung ins Gesicht. Dann ließ ich sie einfach fallen. Dabei stellte ich fest, dass die Druckerschwärze auf meine Handinnenfläche abgefärbt war.
»Ich dachte nur, wir könnten etwas Geld aus der Geschichte rausholen.« Er schien überhaupt nicht verstehen zu können, warum ich deshalb so ein Fass aufmachte, schließlich war es doch nur zu unserem Vorteil.
Vor Empörung quietschte ich kurz auf. »Wir? Matz, als technische Zeichnerin verdiene ich genug Geld und bin in der Lage, mein Leben bestens zu bestreiten. Daher muss ich keine linken Touren abziehen. Also rede nicht von WIR!«
»Herrje, was machst du für einen Stress?« Genervt wandte er sich von mir ab und ging ins Schlafzimmer hinauf, wohin ich ihm natürlich folgte.
»Und warum läufst du jetzt weg? Wir haben etwas zu klären, oder erwartest du wirklich, dass ich es mir gefallen lasse, dass du dich mit dieser Überfallgeschichte an die Zeitung gewandt und all diese Lügen erzählt hast? Warum willst du dich so profilieren?«
»Meine Güte«, stöhnte er und begann damit, ein Kleidungsstück nach dem anderen abzustreifen. Anscheinend wollte er ein Duschbad nehmen. Verständlich, denn er stank nach zu viel Alkohol und zu viel Nikotin. »Übertreib doch nicht so maßlos, nur weil ich vorgegeben habe, uns sei ein bisschen Geld geklaut worden.«
Allmählich stellte ich mir die Frage, wie ich das all die Zeit mit ihm aushalten konnte. Ich schien ganz vergessen zu haben, dass er nicht von Anfang an so kindisch war und an meinen letzten Kräften zehrte.
»Ein bisschen? Zwanzigtausend Euro nennst du ein bisschen??« Angespannt und mit aufgerissenen Augen stand ich da und warf dramatisch die Arme in die Höhe. »Ein bisschen???«
Wieder stöhnte er. Doch dieses Mal erwiderte er nichts. Schweren Herzens musste er sich eingestehen, dass er wohl gerade derjenige war, der übertrieben hatte.
»Außerdem rede ich nicht von dem Tresor-Märchen, ich rede von dem ganzen Artikel.« Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. »Da wäre zunächst einmal das Bild von mir. Was fällt dir ein, denen ein Bild zu geben, auf dem ich vierundzwanzig bin?« Inzwischen hatte ich mich von meinen blonden Haaren verabschiedet und trug sie brünett. Deshalb konnte ich mir schon denken, was ihn dazu veranlasst hatte. Er hatte noch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er eine Vorliebe für Blondinen hatte. Hinzu kam, dass ich zu jener Zeit dem Magerwahn verfallen war und bei einer Größe von eins neunundsechzig gerade einmal achtundvierzig Kilo gewogen hatte.
Seelenruhig und splitterfasernackt stand er nun vor mir. »Ich hatte einfach kein anderes parat, Mann.« Er hatte kein anderes parat? Überall standen hier irgendwelche Bilder von mir herum, somit hätte er nur nach rechts oder nach links greifen müssen. Gut, auf ihnen war ich nicht allein zu sehen, aber eine Zeitungsredaktion hätte mich da ja bestimmt fein säuberlich herausschneiden können.
»Willst du mich verarschen?«, brüllte ich ihn an.
Er kniff die Augen fest zusammen, um mir zu signalisieren, dass ihm beinahe das Trommelfell geplatzt wäre.
Dann zeigte ich auf seinen Nachttisch. »Wie wäre es mit diesem Bild gewesen?« Schön, es war von mir mit Herzchen und Sternchen via Photoshop romantisch herausgeputzt worden, aber immer noch besser als eine sechs Jahre alte Fotografie, auf der ich den Anschein erweckte, dass ich ein schwerwiegendes Drogenproblem gehabt hätte.
»Machst du Witze? Du regst dich über das Bild auf?« Er ließ sich auf dem Bett nieder, da er ahnte, dass die Auseinandersetzung einige Zeit beanspruchen würde und seine Dusche noch warten musste.
»Nein! Ich meine, ja! Ich meine, ich rege mich über alles auf! Wie konntest du angeben, dass wir verlobt sind?«
»Warum nicht? Haben wir denn nicht schon einmal über Kinder und das Heiraten gequatscht? Ist das plötzlich nicht mehr aktuell?« Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien er sich ernsthaft zu wundern.
»Ich weiß ja nicht, welchen Planeten du dein Zuhause nennst, aber diese beiden Themen sind schon lange nicht mehr aktuell. Oder hast du mein Ultimatum schon wieder vergessen?«
»Du meinst, dass ich mir einen Job suchen soll?« Ich bestätigte das mit einem Kopfnicken. »Ich habe dir doch gesagt, dass ein Job keinen Sinn ergäbe, denn wenn erst einmal ein Kind im Haus wäre, müsste sowieso einer von uns beiden zu Hause bleiben und es hüten.«
Es machte mich immer rasender, wie er sich alles so zurechtbog, wie es ihm gerade passte. Denn es ging mir in erster Linie um eine gewisse Bodenständigkeit, die mit einem Job einherginge. Was sollte ein Kind mit einem Vater anfangen, der sich gegen jede Verantwortung und jede Pflicht sträubte, als würden diese Eigenschaften innerhalb eines Jahres tödlich enden? Ich wollte einem Kind lediglich die Stabilität bieten, die es verdiente.
»Matz, wir sind nicht verlobt!«
»Na gut! – Darf ich endlich duschen gehen?«
Wollte er mich absichtlich auf die Palme bringen oder fühlte er sich meiner wirklich so sicher? »Und warum hast du dich in dem Artikel als Held verkauft? Ich konnte ja schon froh sein, dass du dir beim Verrücken des Schranks nicht das Rückgrat gebrochen hast.« Ich wollte aus Wut anfügen: »Du Schlappschwanz«, aber das kam mir dann doch sehr unsachlich vor.
Diese Äußerung schien auch schon ganz ohne den ordinären Ausdruck an seinem Stolz zu kratzen, denn plötzlich fuhr er vom Bett hoch und stellte sich mir bedrohlich nahe. Er schaute von oben auf mich herab. »Du musst mich jetzt auch nicht schlechter machen als ich bin, verstanden?«, zischte er durch die Zähne.
Ich ließ mich nicht einschüchtern. »Verstehst du das nicht? Der ganze Artikel ist komplett gelogen. Ich war weder stundenlang in der Kammer eingesperrt noch hast du die Polizei gerufen noch haben wir je einen transportablen Tresor besessen ... Mein Schreibtisch hat nicht einmal einen Rollcontainer. Er ist aus massivem Holz und hat nur eine Schublade vorn unter der Tischplatte. Ich meine, da stimmt einfach vorne und hinten nichts, und wenn das die Polizei herausfindet, bist nicht nur du, sondern auch ich dran.«
»Da kommen wir der Sache schon näher.« Skeptisch zog er eine Augenbraue nach oben und massierte sich das Kinn mit dem Zeigefinger und Daumen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte man meinen können, er wäre unter die Detektive gegangen. Ich blickte ihn fragend und auffordernd zugleich an, während er seine Erleuchtung in einer Kunstpause ausgiebig zelebrierte. »Es geht hier mal wieder einzig und allein um dich. Du-du-du-du-du!«
Und das war die Erleuchtung?
Fassungslos schüttelte ich den Kopf und wandte mich von ihm ab. »Du hast recht«, gab ich überspitzt von mir, damit er die Ironie in meiner Stimme klar und deutlich heraushören konnte (sicher war sicher), »der größere Egoist von uns beiden bin selbstverständlich mal wieder ich.« Geschäftig fummelte ich über eine Kommode, um mich davon abzuhalten, ihm die Augen auszukratzen oder ihm einen kräftigen Tritt in die Weichteile zu verpassen oder ihm eine der drei Tischlampen in diesem Raum über den Kopf zu braten.
»Ist es nicht so? Die einzige Person, die hier ständig irgendwelche Anforderungen stellt, bist doch du!«
»Pfff!«, stieß ich empört aus, und es war mir egal, dass mir hierbei ein paar Speicheltropfen nach allen Seiten entwichen. »Anforderungen, was? Ich nenne das schlicht und ergreifend den Appell an einen gesunden Menschenverstand. Schlimm genug, dass ich mich an deiner Seite wie deine Mutter und nicht wie deine Lebenspartnerin fühlen muss.«
»Lass meine Mutter aus dem Spiel!« Nackt wie er war, stampfte er durch den Korridor ins Bad. Dabei schaukelten seine Kronjuwelen hin und her und verleiteten mich zu der Vorstellung, sie in einen Schraubstock einzuspannen und Matz zum Winseln zu bringen.
Ist der so doof oder tut er nur so?, fragte ich mich, als ich ihm hinterherdackelte wie der letzte Depp. »Es geht hierbei doch nicht um deine Mutter, verdammt ...« RUMS! Er schlug mir die Tür vor der Nase zu, gerade als ich Luft holte, um seine Unterstellung für null und nichtig zu erklären.
Er machte es mir wirklich einfach. Ich hatte befürchtet, ich müsste über meinen Schatten springen, um der Beziehung das inzwischen heiß ersehnte Ende zu setzen, doch allmählich schwand auch noch der letzte Hoffnungsschimmer, was meine Gewissensbisse ein für alle Mal mattsetzte.
Wutschnaubend klopfte ich an die Tür und schrie: »Es geht darum, dass ...« Wie beknackt war ich eigentlich? Nicht nur, dass er sehr wohl verstanden hatte, dass es hier nicht um seine Mutter ging, noch dazu hatte er nicht einmal die Tür verriegelt. Also, was tat ich hier? Warum ließ ich mich so rotzfrech ausbremsen, anstatt einfach das Bad zu stürmen und ihm den Marsch zu blasen?
Das tat ich dann auch. Also, das Bad stürmen!
Matz stand gerade vor dem Spiegel und drückte sich seelenruhig Mitesser an der Stirn aus. »Was willst du?« Er wandte seinen Kopf zu mir, sah mich mit zuckenden Mundwinkeln an, als wäre ich nur irgendeine lächerliche Figur, und widmete sich dann wieder ganz seiner unreinen Haut.
Nun gut, seine Mitesser waren ihm wichtiger als ich – das wollte er mir doch damit mitteilen, richtig? Aber darüber würde ich mich nun nicht aufregen. Vielmehr sollte mir das als Anlass dienen, die Trennung zu beschleunigen, denn mir ging die Kraft aus. In dieser Sekunde erkannte ich es und konnte es wohl kaum länger ignorieren.
»Was ich will?« Ich stemmte die Arme in die Hüften und ließ meinen Kopf energielos nach vorn fallen. »Die Tatsache, wie gut du lügen kannst, macht mich stutzig«, kam ich noch einmal auf den Artikel in der Zeitung zurück. »Noch dazu musste ich erfahren, dass du eine Mietnomade bist und dich durchs Leben schummelst.« Bei diesen Worten war meine Wut in Enttäuschung umgeschwungen. »Aber am schlimmsten war der Moment, in dem ich mir zum ersten Mal eingestehen musste, dass du mich nicht liebst. Nicht nicht mehr, nein, du hast es niemals getan.«
Er ließ Mitesser Mitesser sein und wandte sich mir mit leichenblassem Gesicht wieder zu. In meinen Augen flackerte wütende Entschlossenheit. Endlich hatte er begriffen, dass er bei mir verspielt hatte. Doch vor Entsetzen war er außerstande, etwas darauf zu erwidern, hatte nicht damit gerechnet, dass ich ihm jemals auf die Schliche kommen würde.
»Die ganze Zeit habe ich gedacht, du hättest dich auf eine unangenehme Weise verändert, dabei war unsere ganze Beziehung von Anfang an nur ein fake, was?«
Er blinzelte sich aus seiner Schockstarre. »Ein – was?«
Wollte er mich zum Narren halten? »Ein fake, herrje! Hattest du denn kein Englisch in der Schule?«
Mit einem Mal schrie er: »Doch schon, aber welche Rolle spielt das, wenn wir in Deutschland leben?« Er war vollkommen außer sich, da er sich offensichtlich bloßgestellt fühlte. Mit großen Schritten kam er zu mir herangebraust, weshalb ich fest davon ausging, dass er mir gleich ein paar scheuern würde, doch in seinen Augen flimmerte nur Verzweiflung statt blanker Zorn.
»Ich verlange, dass du ausziehst. Das Thema ist durch. Wir sind durch!« Ich wandte mich zum Gehen ab. Ich sah seine Hand kommen, die beabsichtigte, meine Schulter zu packen, um mich aufzuhalten, doch ich konnte diese rechtzeitig herunterreißen, weshalb er sie verfehlte, und rannte die Treppe hinunter in den Eingangsbereich.
»Du kannst doch nicht einfach die Beziehung beenden!?«, rief er und rannte mir mit wedelnden Genitalien hinterher.
Hastig schlüpfte ich in meine warm gefütterten braunen Stiefel, an dessen äußeren Seiten kleine Bommeln baumelten. »Du siehst doch, dass ich das kann!« Und gleichzeitig fühlte ich mich in meinem Entschluss bestärkt, denn wenn das das Einzige war, was er nach meiner Vorhaltung hervorzubringen wusste, konnte er längerfristig sowieso nicht an meiner Seite bestehen. Oder sollte ich sogar so weit gehen zu behaupten, dass er meiner nicht würdig war?
»Was soll das jetzt? Wo willst du hin?«
Ich griff nach meinem langen Schal und wickelte ihn wirr und unsystematisch um den Hals. »Bitte pack deine Sachen und verschwinde!« Nun warf ich mich in meinen Mantel und stülpte mir meine rote Mütze über. »Sowie ich wieder da bin, will ich dich hier nicht mehr sehen.« Ich öffnete die Tür bewusst weit, um die Kälte hineinströmen zu lassen. Seine Gänsehaut konnte ich bis hierher erkennen. »Falls doch ...« Ich hielt inne. »Lass dich überraschen.«
»Leonie«, rief er mir hinterher. »Verdammte Scheiße!«, fluchte er dann, weil ich fort war.
Ich hatte ihn nicht zu Wort kommen lassen. War das unfair? Hätte das andererseits etwas genützt? Schließlich war ich mir sicher, dass ich diese Beziehung nicht mehr wollte. Und jetzt, wo ich auf dem Weg zu Emmy war, war ich es sogar mehr denn je. Auf einmal fühlte ich mich leicht, sodass mich ein Glücksgefühl ergriff, so, wie ich es das letzte Mal bei unserem ersten Date empfunden hatte. Aberwitzig, nicht wahr? Prompt erinnerte ich mich an Emmys heutigen Worte im Café: »Plötzlich ist dieses Leben, das man einmal so sehr wollte, nur noch eine Qual.«
Mir fiel auf, dass ich nur selten bei Emmy zu Hause gewesen war, weil sie ihre Zeit lieber auswärts verbracht hatte. Ich nahm an, dass es eine Art Flucht aus ihrem Alltagsleben gewesen sein musste.
Ich suchte ihre Nummer aus dem Telefonbuch meines Handys, um sie anzurufen, wollte sie nicht einfach überfallen, schließlich war es schon 22 Uhr. Und seit ich wusste, dass ihre Ehe mit Hannes auch nicht mehr die beste war, fürchtete ich, möglicherweise in einen Streit hineinzuplatzen.
Während ich Emmys Nummer wählte, musste ich zu meinem Erstaunen feststellen, wie sehr sie mir ans Herz gewachsen war und wie sehr ich jetzt besonders ihre Nähe brauchte.