Читать книгу Durchgeknallte Weihnachten - Katie Volckx - Страница 4
Montag, 15. Dezember
ОглавлениеHannes öffnete die Tür zu meinem Haus, steckte den Kopf durch einen schmalen Spalt und rief: »Hallooo?« Dann drückte er sie weiter auf. »Jemand da?« Er schaute hinter sich, wo Emmy und ich darauf warteten, dass Hannes uns ein Zeichen gab, sobald die Luft rein war. »Ich glaube, er ist weg.«
Erleichtert atmete ich auf, doch Emmy traute dem Braten nicht. »Wenn der sich so einfach abfertigen lassen hat, will ich nicht mehr Emmy heißen.« Sie drängte sich an Hannes vorbei und lief den Flur entlang. Hannes folgte ihr instinktiv. Vorsichtshalber blieb ich vor der Tür stehen und verfolgte die Sicherstellung meiner Räumlichkeiten mit Spannung.
Emmy: »Wohnzimmer: Check!«
Hannes: »Küche: Check!«
»Abstellkammer?«, rief ich.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Hannes erwiderte: »Check!«
Inzwischen war Emmy im Obergeschoss angelangt. »Schlafzimmer: Check!«
Und Hannes ebenfalls. »Badezimmer: Check!«
Allmählich wagte ich einen Fuß ins Haus zu setzen. Dabei fiel mir auf, dass die beiden vergessen hatten, im Gäste-WC nachzuschauen, das gleich am Eingang lag. Ich schloss die Haustür hinter mir und blieb vor dem Gäste-WC stehen.
»Ankleidezimmer: Check!«, rief Emmy. Und ein entzücktes »Ui« folgte sogleich. »Woher hast du denn dieses Kleid?« Sie musste das festliche meinen, das ich letzte Woche erstanden hatte und an Heiligabend anzuziehen gedachte. Nun, da es mit Matz aus war und das Festessen mit seiner großen Familie ins Wasser fiel, wusste ich gar nicht mehr, wo und mit wem ich diesen Tag verbringen würde. Ich hatte das Kleid auf einem Kleiderbügel an die Zimmertür gehängt, damit ich nicht vergaß, es zuvor in die Reinigung zu bringen. Es war aus empfindlicher Seide und ich hatte keine Ahnung, wie man es entsprechend wusch. Schande über mich!
»Aus Carla Indihs Boutique.«
»Oh Mann, das muss ein Vermögen gekostet haben«, klang Emmy frustriert. Sie kam zum Flur im Obergeschoss heraus und hielt sich das Kleid vorn an den Körper.
»Nein, eigentlich nicht. Es war um fünfzig Prozent reduziert.«
»Na ja, wenn es vorher achthundert gekostet hat, sind fünfzig Prozent eher Peanuts, fürchte ich.«
Durchaus war Carla Indih für ihre teure, doch dafür qualitativ hochwertige Mode bekannt. Das hieß jedoch nicht, dass sie nicht auch Mode für den kleinen Geldbeutel anbot.
»Es hat ursprünglich dreihundertfünfzig gekostet.«
»Herrgott, Mädels!«, kam nun auch Hannes aus dem Gästezimmer auf den Flur gehetzt und musterte seine Ehefrau skeptisch von oben bis unten. »Ich glaube, wir waren hier noch nicht fertig, oder?« Er räusperte sich und wies aufs Gästezimmer. »Check!«
»Klasse, Hannes!« Emmy warf ihm einen strafenden Blick zu.
»Was denn?« Er hob die Arme. »Du bist nicht gerade eine große Hilfe.«
Emmy schnaubte. »Wir waren doch schon fertig, du Kamel.«
»Ja, notgedrungen, da das Kleid ja scheinbar vorgeht.«
Gerade als sie zum Gegenangriff ansetzen wollte, wurde plötzlich die Tür des Gäste-WCs aufgeworfen. Ein großer Mann stürzte hinaus, schleuderte mich mit aller Gewalt zur Seite, wodurch ich zu Boden ging, und flüchtete zur Haustür hinaus. Der Vorgang hatte mir einen Schock versetzt, so sehr, dass ich nicht einmal zum Schreien imstande war.
»Da ist er!«, bemerkte dafür Hannes lauthals.
»Hinterher!«, brach auch Emmy nach dem ersten Schrecken in mörderisches Kampfgeschrei aus, ließ das Kleid einfach fallen und zeigte in die Richtung, in die sie laufen mussten.
Hannes und Emmy setzten sich zeitgleich in Bewegung und gerieten auf der schmalen Treppe ungünstig nebeneinander. Dadurch behinderten sie sich bloß gegenseitig, statt das Untergeschoss schnell zu erreichen. Mit den Ellenbogen stießen sie sich gegenseitig voneinander weg, brachen schlagartig in Zank und Streit aus, bis Emmy auf dem unteren Treppenabsatz ins Straucheln geriet, sich reflexartig an Hannes festhielt, als die fiel, und ihn mit sich riss.
Und das alles, während ich mich wieder aufgerappelt und diverse Fusseln und andere Dreckkrümel von meiner Hose geschlagen hatte. Angefressen trat ich die Tür ins Schloss. Ich war fertig mit der Welt.
»Geee-eh runter von mir«, stieß Emmy ihren Ehemann, der bäuchlings auf ihr lag, mit den Händen von sich. Dabei führte sie sich auf, als hätte ein grünes, stinkendes Schleimmonster sie überfallen.
»Bleib mal cool, Em, ich glaube nämlich, ich habe mir die Hand verknackst.« Er hievte sich irgendwie auf die Knie. Emmy richtete sich mithilfe ihrer Unterarme auf.
»Oh! Mein! Gott!«, schrie sie nun.
Hannes hielt seine rechte Hand vor sich und begutachtete sie von allen Seiten. Der kleine Finger war völlig deformiert, sah sogar ein bisschen aus wie eine Treppenstufe, und das Handgelenk war schlagartig angeschwollen.
Emmy kreischte wie am Spieß, versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, indem sie mit den Beinen strampelte, als hielte sie jemand daran fest. Dabei trat sie Hannes aus Versehen mehrmals gegen seine Knie, weil sie immer wieder wegrutschte mit ihren glatten Sohlen. Als sie endlich senkrecht stand, schüttelte sie sich heftig vor Grauen.
Auch ich konnte nicht hinsehen, nichtsdestotrotz musste ich mich aus Respekt zu Hannes zusammennehmen, um nicht schallend loszulachen dank Emmys filmreifer Reaktion.
»Kann vielleicht mal irgendeiner den Arzt rufen?«, blieb Hannes die Ruhe in Person, obwohl er kreideweiß war.
»Ja ... ja, klar.« Ich suchte das Telefon. Natürlich stand es in solchen Momenten nicht auf der Ladestation und war prinzipiell nirgends auffindbar. Also rief ich mich in meiner Verzweiflung vom Handy aus selbst an, bis Hannes, der sich derweil auf der untersten Treppenstufe niedergelassen und die verkrüppelte Hand in den Schoß gelegt hatte, mich darauf aufmerksam machte, dass ich den Arzt auch von meinem Handy aus anrufen könnte.
Aufgrund meiner Trotteligkeit lachte ich nervös und nahm seinen Vorschlag dankend an. Als ich den Anruf erledigt hatte, ärgerte ich mich über die freche Äußerung, ob es Hannes nicht irgendwie eigenständig ins Krankenhaus schaffen könnte. Schließlich hätte er ja, nach eigener Aussage (was so viel hieß wie: wir, die keine Medizin studiert hatten, hätten nicht die geringste Ahnung), lediglich einen gebrochenen Finger und ein enorm geschwollenes Handgelenk – es gäbe nun wirklich schlimmere Fälle. Da das nächstgelegene Krankenhaus fünfzehn Kilometer von hier entfernt lag und Hannes der einzig Anwesende in Besitz eines Pkw-Führerscheins war, hatten wir uns eben nicht anders zu helfen gewusst.
»Ist schon gut, reg dich nicht auf. Ich kriege es schon irgendwie hin, das Auto zu führen.« Er wollte nur noch eben den ersten Schock überwinden, damit er das Auto nicht in der nächsten Kurve gegen einen Baum lenken würde.
Seufzend setzte ich mich zu ihm auf die Stufe, während Emmy krampfhaft versuchte, ihren Ehemann beziehungsweise die Verletzung zu ignorieren. Stattdessen liebäugelte sie mit dem funkelnden Kronleuchter an der Flurdecke. Mir saß der Schreck allerdings nicht weniger in den Knochen. Meine Knie zitterten und schwindelig war mir auch.
»Traust du dir das denn wirklich zu?«, war ich dafür umso skeptischer.
»Aber natürlich!«
»Das Gäste-WC hab ich nicht bedacht«, wechselte Emmy geflissentlich das Thema, als ob sie es so gar nicht mochte, dass wir, Hannes und ich, so gut miteinander auskamen.
»Ich schon«, gestand ich, »aber ich habe mich nicht getraut, hineinzusehen.«
»Dann hättest du wenigstens etwas sagen können«, warf Hannes mir vor.
»Zwar habe ich eine Vorahnung gehabt, aber woher sollte ich wissen, dass der Typ sich wirklich darin aufgehalten hat?« Es war mir sogar absurd vorgekommen, wenn nicht sogar paranoid.
»Na ja, nun ist es zu spät«, merkte Emmy an.
Hannes und ich sahen sie nachdenklich an.
»Übrigens war das nicht Matz«, raunte ich ihm zu, während ich den Blick zur Haustür richtete, damit mir der Anblick seiner Hand ebenfalls erspart blieb.
»Nicht?«, war Hannes sichtlich erstaunt.
»Warum sollte er denn in einem Weihnachtsmannkostüm herumlaufen?«
»Nun, es hätte ja gut möglich sein können, dass er als Weihnachtsmann jobbt.«
Auf der Stelle prusteten Emmy und ich los.
»Ich schätze, das war der Einbrecher von vorgestern«, erklärte ich dann mit routinierter Gelassenheit.
Hannes sah mich entsprechend baff an, während sich auf seiner Stirn eine Sorgenfalte bildete. »Was für ein Einbrecher?«
»Hat Emmy ihn dir gegenüber nicht erwähnt?«
Er schüttelte den Kopf und blickte vorwurfsvoll zu ihr hinüber. Sie starrte noch immer zum Kronleuchter, nur dass sie jetzt leise vor sich hin pfiff.
Als ich gestern Abend bei Emmy und Hannes zu Hause eingetroffen war, war die Stimmung besser als erwartet. Man hatte kaum glauben können, dass ihre Ehe vor dem Aus stand. Erst hier und heute wurde das Problem, das Emmy geschildert hatte, sichtbar. Dennoch fragte ich mich, was sich von gestern auf heute geändert hatte.
Ich erzählte ihm von dem Vorfall, doch nicht mit all seinen Details, da mir das Thema allmählich aus dem Hals hing.
»Und nun lässt du ihn einfach so davonkommen?«
»Was soll ich sonst tun? Ich will die Polizei mit ihrem schwarzen Pulver nicht schon wieder in meinem Haus haben, wenn eh nichts dabei herumkommt.« Es mochte einfältig klingen, doch seit er dieses Bild hatte mitgehen lassen, war ich mir fast sicher, dass keine Gefahr von ihm ausging, auch wenn er sich nicht gescheut hatte, mich schon ein zweites Mal durch recht energisches Schubsen aus dem Weg zu räumen. Mir war nur schleierhaft, was ihn erneut hierher geführt hatte. Sollte das nun zur Gewohnheit werden?
»Dann schaff dir wenigstens eine Alarmanlage an«, riet Hannes mir, »damit du nicht immer wieder solch eine unangenehme Überraschung erlebst.«
»Hm«, grübelte ich.
»Hm?«
»Ich habe mir überlegt, dass ich das nächste Mal auf ihn vorbereitet sein werde. Ich möchte mit ihm Kontakt aufnehmen, will wissen, was er mit meinem Foto vorhat.«
Es war unübersehbar, dass Hannes gerade vom Glauben abfiel. Er war regelrecht betäubt, sodass seine Lippen sich bewegten, aber nichts drüberkam.
»Und wann hast du dir das überlegt?«, mischte jetzt auch Emmy mit. »In den letzten fünf Minuten?«
Natürlich war das leichtsinnig, wenn nicht sogar ein bisschen gaga, aber mich wollte der Gedanke nicht loslassen, dass er wegen mir da gewesen war und meine Gäste ihn nur eingeschüchtert hatten.
»Meint ihr denn, er war heute wieder da, weil er das letzte Mal versäumt hat, mein Haus leer zu räumen?«, klang ich trotzig.
»Das ist einfach zu gefährlich, Leonie.« Hannes legte die gesunde Hand auf meine Schulter. »Zumindest, wenn du das allein durchziehst.«
»Tzz«, warf Emmy ein, »wer soll ihr denn beistehen? Du etwa?« Ihr Blick wanderte zu seiner lädierten Hand. Dabei verzog sie die Mundwinkel und würgte einmal. »Boah, ich glaube, ich muss gleich brechen.«
Verärgert kniff Hannes die Augen zusammen. »Wir wollen mal nicht vergessen, wem ich dieses Unglück zu verdanken habe!«
»Bitte?«, war Emmy empört.
»Warst du es nicht, die über ihre eigenen Füße gestolpert ist und mich dann auch noch mit reingezogen hat?«
»Wenn du nicht so gedrängelt hättest ...«
»Ich habe gedrängelt?«, klang seine Stimme hell vor Ärger. »Und selbst wenn, was hättest du denn schon ausrichten können, wenn du ihn zu fassen bekommen hättest?« Da lag er nicht so falsch. Emmy hätte ihren körperlich leistungsfähigeren Ehemann nun wirklich den Vortritt lassen können.
»Ist doch egal! Der Wille zählt, oder?«
»Na ja, wenn dabei so etwas rumkommt ...« Feierlich hielt er die ramponierte Hand hoch.
»Wenn du einen Schuldigen suchst, sieh in den Spiegel!« Schmollend verschränkte Emmy die Arme vor der Brust und drehte ihm demonstrativ den Rücken zu. Und irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass es bei dieser Äußerung nicht mehr um seine Hand ging.
Ich vergrub mein Gesicht in die Hände und rief genervt: »Oh Leute!«
Hannes war im Begriff, etwas darauf zu erwidern, als er gerade noch rechtzeitig erkannte, dass er besser daran täte, sich nachsichtig zu zeigen und nicht partout auf sein Recht zu bestehen. Vor allem dann nicht, wenn es sich um eine Diskussion handelte, die nur dazu diente, Frust abzulassen und zu nichts, außer Unsinn, führen konnte.
Einen kleinen Augenblick wurde es still um uns.
»Sag mal, tut das nicht weh?«, deutete ich blind auf die Hand.
»Nö!«
Ungläubig verzog ich die Mundwinkel.
»Wirklich nicht«, schwor er Stein und Bein.
»Sehr wahrscheinlich steht er unter Schock«, prognostizierte Emmy. »Die Natur hat es so arrangiert, dass Schmerz für den Körper Gefahr bedeutet. Um sich in Sicherheit bringen zu können, schaltet der Körper den Schmerz zunächst aus.«
Verblüfft glotzten Hannes und ich zuerst einander, dann Emmy an. Nicht, dass wir heute zum ersten Mal von diesem Phänomen gehört hätten, es lag nur an ihrer trockenen, leicht doktorenartigen Sprechweise, bei der wir uns fragten, woher diese so plötzlich kam. Außerdem schien es sie völlig kalt zu lassen, dass es sich um ihren Ehemann handelte, dessen Hand immer mehr nach irgendeinem undefinierbaren Kadaver aus der wilden Natur aussah.
»Auch beim Sex schüttet der Körper schmerzstillende Opiate aus. In Extremsituationen ist der Körper also quasi sein eigener Arzt und schützt sich ein Stück weit selbst«, war Emmy noch nicht fertig mit ihrem Vortrag.
Es wunderte mich nicht nur, wie sie in einer solchen Situation in der Lage war, an Sex zu denken, auch, dass Sex eine Extremsituation für Emmy darstellte. Oder interpretierte ich das gerade nur falsch?
Unauffällig inspizierte ich Hannes' Profil.
Auf jeden Fall war er ein Sympathieträger, um den es mir ein wenig leidtat. Andererseits betrachtete ich ihn aus der unbeteiligten, eher freundschaftlichen Perspektive. Wie fühlte es sich wohl an, seine Ehefrau zu sein? Andersrum gesehen hatte Emmy nicht ihn, sondern das viel zu routinierte Leben bemängelt. Möglicherweise zuckte doch noch ein kleines, leises Flämmchen Liebe in irgendeiner Ecke ihres Herzens und möglicherweise galt es, dieses wieder vollständig emporschlagen zu lassen.
Ich schien zwar nicht sehr viel von der Liebe zu verstehen, nachdem gerade erst meine eigene Beziehung mit Matz gescheitert war, trotzdem wollte ich nicht zulassen, dass Hannes und Emmy ihre Ehe an den Nagel hängten, ohne alles dafür getan zu haben, sie zu retten.
»Der Schock, ja«, murmelte Hannes.
Nachdem Hannes klar und beherrscht genug war, um sich ins Auto zu setzen, und Emmy sich bei mir mit den Worten: »Lass uns morgen Abend ausgehen« verabschiedet hatte, hatte ich mich daran gemacht, sorgfältig nachzusehen, was von meinem Eigentum Matz sich unter den Nagel gerissen hatte. Es stand außer Zweifel, falls etwas von meinen Sachen fehlte, dann nicht, weil Santa Claus (ich weigerte mich, ihn weiterhin Einbrecher oder derartiges zu nennen) es mitgenommen hatte, denn als er mich umgerannt hatte, sah er kein bisschen verbeult aus. Und seine Hände waren ebenso frei gewesen.
Ich stimmte Emmy zu: es war kaum vorstellbar, dass Matz sich so ohne Weiteres in die Wüste hatte schicken lassen. Doch allen Anschein nach hatten wir uns mächtig geirrt.
Erst am Ende meines Kontrollgangs hatte ich den handgeschriebenen DIN A4-Zettel auf einem Stapel Modezeitschriften auf dem Esstisch im Wohnzimmer entdeckt. Wer hätte gedacht, dass Matz sich dazu bereitfand, mir einen Abschiedsbrief zu schreiben? Im ersten Moment war ich bestürzt über dessen Inhalt, doch im nächsten wurde mir klar, dass sich nur bewahrheitete, was schon lange im Raum gestanden hatte.
Geliebte Leonie, erst wollte ich Front machen gegen deine Entscheidung, ab sofort getrennte Wege zu gehen, doch je mehr Zeit ich zum Nachdenken hatte, desto mehr wurde mir bewusst, dass die Trennung mehr als gerechtfertigt ist, nachdem mein Verhalten dir gegenüber so schäbig war. Ja, ich habe schon lange kapiert, dass unser Zusammenleben von Tag zu Tag lausiger wurde, was, zugegeben, hauptsächlich an mir lag. Ich brauche nun einmal meine Freiheit! Das ist aber nicht der Grund, aus dem ich vor drei Monaten Sex mit einer anderen Frau hatte. Ich weiß, dass du es schon lange geahnt hast. Aus irgendeinem Grund hast du mich mit deinem Verdacht nie konfrontiert. Und ich habe mich gefragt, warum wohl? Für mich gibt es nur eine einzige Erklärung dafür: auch du hast mich schon lange nicht mehr aufrichtig geliebt.
Viel Glück, Matz.
Also irrte ich nicht und er hatte mich wirklich betrogen!
Ich rief mir die Punkte, die mich stets hatten zweifeln lassen, ins Gedächtnis zurück:
1) Der nächtliche Anruf, in dem er mir mitgeteilt hatte, dass er die Nacht nicht nach Hause kommen und bei Etienne pennen würde, ich aber im Hintergrund klar und deutlich eine Frauenstimme hatte hören können, die Matz aufgefordert hatte, sich endlich dieses »kontrollsüchtige Muttchen« vom Halse zu schaffen.
2) Der Duft eines unbekannten, femininen Parfums an seinem Hemd, der so penetrant war, dass ich ihn lange nicht mehr aus den Nasengängen bekommen hatte.
3) Und diese spezielle Heiterkeit, die er jedes Mal nach dem Sex hatte, hatte er am nächsten Morgen mit nach Hause gebracht.
Ich hatte für all das Erklärungen gesucht und sie im Prinzip auch gefunden:
1) Die Schnepfe mochte vielleicht unverschämt gewesen sein, konnte aber genauso gut eine Liebelei von Etienne gewesen sein, die er in der Diskothek aufgegabelt hatte.
2) In Diskotheken befanden sich wohl oder übel auch andere Frauen, und wenn er mit der ein oder anderen das Tanzbein geschwungen hatte, war das noch lange nicht moralisch verwerflich – allenfalls taktlos, aber bei weitem nicht als treubrüchig zu werten.
3) Das Anzeichen war zwar sehr charakteristisch für ihn, aber eben auch nur, wenn es sich um unseren Beischlaf gehandelt hatte.
Mir hatten also die eindeutigen Beweise gefehlt. Und solange ich diese nicht hatte, mochte ich Matz nicht darauf ansprechen. Ich war davon ausgegangen, dass er mir von sich aus niemals die Wahrheit erzählt hätte. Das, und kein anderer, war der Grund, aus dem ich ihn zu keiner Zeit meinem Zweifel gegenübergestellt hatte.
Nun hatte jedoch all das an Relevanz verloren. Schließlich waren wir seit gestern Abend kein Paar mehr. Die Tatsache, dass unsere Beziehung auch ohne dieses Geständnis und aus ganz anderen Gründen in die Brüche gegangen war, stand für mich an oberster Stelle.
Und doch verfolgte mich eine dringende Frage: Wer war dieses dreckige Flittchen?
Eine halbe Stunde später hatte Emmy noch eine ganz andere Frage dazu: »Warum hat er das überhaupt erwähnt?« Dann hörte ich sie am anderen Ende der Leitung knuspern und schmatzen. »Ich meine, es wirkt auf mich gar provokant, weißt du? Er hätte es einfach dabei belassen können, stattdessen würgt er dir zum krönenden Abschluss lieber noch eins rein und lässt dich dazu mit der Frage zurück: Mit wem und warum?«
»Ja, jetzt wo du das sagst.« Vielleicht wäre ich da später auch noch von selbst drauf gekommen ... Na ja, eher nicht.
»Ich glaube sogar, das ist seine Rache an dir.«
Ich hielt den Hörer ein Stück von meinem Ohr weg. »Was für eine alberne Rache.«
»Er scheint dich gut genug zu kennen, um zu wissen, dass es in dir mehr auslöst als du jetzt zugeben willst.« Ununterbrochen war sie am Knuspern und Schmatzen.
»Kommt mein Anruf irgendwie ungelegen?«, hielt ich es nicht mehr aus.
Abrupt hielt sie mit allen Geräuschen, die sie machte, inne. »Nein, wieso?«
»Bist du beim Mittagessen?«
»Nein, am Knabbern. Stört dich das?« Daraufhin konnte ich ein Knistern vernehmen, das man verursachte, wenn man eine Tüte zum Schließen mit beiden Händen aufrollte.
»Eigentlich nicht, wenn dein Mund nicht gewissermaßen direkt an meinem Ohr läge«, erklärte ich kichernd.
»Es ist nur, ich habe einen Bärenhunger, habe aber lediglich diese Kartoffelchips in meiner Handtasche finden können.«
Okay, jetzt war ich etwas verwirrt. Also, wenn man meine Handtasche durchstöberte, waren das einzig oral Konsumierbare, das man darin fand, Hustenbonbons, Kaugummis, Schmerzmittel, Kautabletten gegen Sodbrennen und im Bedarfsfall etwas Gesundes wie ein Apfel oder eine Banane – zur Weihnachtszeit auch gern eine Clementine. (Sollte ich den Lippenpflegestift mit Erdbeergeschmack erwähnen?) Allerdings suchte man in meiner Tasche vergebens nach Chips.
»Ich verstehe«, gab ich vor, weil mir schwante, dass es kompliziert werden würde.
»Nein, das tust du nicht!«, kicherte Emmy nun. Anscheinend war kein allzu gutes Schauspieltalent an mir verloren gegangen. »Ich wollte mir mal wieder einen gemütlichen DVD-Abend machen. Dafür hatte ich die Chips vorhin gekauft. Nun sitze ich aber bei Bastis Herzdame fest. Babysitten! Kühlschrank leer! Ach, frag nicht, Chaos!« Basti war, nebenbei bemerkt, der ältere der beiden Söhne.
Frag nicht? Dabei warf all das so einige Fragen auf, zum Beispiel: »DVD-Abend? Etwa so ganz allein?«
»Na ja, ich dachte, es wäre kein guter Zeitpunkt, dir jetzt mit so etwas auf den Pelz zu rücken.« Sie seufzte laut und schwer. »Du hast weiß Gott andere Sorgen.«
»Du meinst, aufgrund von Matz?«
»Es geht nicht nur um Matz.« Ich vernahm, dass sie sich einen einzelnen Kartoffelchip möglichst leise zwischen die Zähne schob und beim Kauen die Hand vor die Sprechmuschel hielt.
Ich grinste in mich hinein. »Sondern?« Sollte ich das denn nicht besser wissen? Immerhin sprachen wir hier gerade über meine Sorgen.
»Dieser Einbrecher ...«
»Santa Claus«, bestand ich drauf.
»Okay, dieser Santa Claus, dann der Streit mit Paulina ...«
Ich hatte das dringende Bedürfnis, sie zu unterbrechen: »Meinst du nicht, dass mich so ein DVD-Abend vielmehr von diesen Sorgen ablenken würde?« Außerdem war ich deswegen gar nicht so deprimiert, wie ich eigentlich hätte sein sollen.
»Und dann der Zoff mit Hannes und mir heute Morgen. Du musst doch die Nase gestrichen voll haben von mir.«
Aha, da kamen wir der Sache schon sehr viel näher. Nicht, dass ich sie für wenig mitfühlend hielt, doch für gewöhnlich wären Santa Claus und Paulina kein allzu triftiger Grund gewesen, mich aus derartigen Aktivitäten auszuschließen. Siehe gestern, als sie mich zu dem Weihnachtsshopping animiert hatte.
»Nun mach dich mal nicht lächerlich.«
»Ich kam mir nur so kindisch vor. Ich bin vierzig!«
»Na und!«
»Nicht gerade vorbildlich ...« Schämte sich Emmy etwa? Und das nur, weil sie älter war als ich?
Das trieb ich ihr gleich darauf aus: »Hey, ich brauche keine Mama! Und Unvernunft kennt kein Alter, wenn es um die Gefühlswelt geht.«
»Nun ja«, druckste sie dann herum, »und hinzu kommt, dass du und Hannes ...«
»Emmy, mach mal einen Punkt!«, reagierte ich ein wenig ungehalten.
»Ihr versteht euch so gut. Ich fürchte, du nimmst an, dass ich das eiskalte Biest bin und er der arme, verlassene Tropf ist.«
Für einen Moment hatte es mir die Sprache verschlagen, musste das Gesagte vorerst in meinem Kopf sortieren, nachdem ich gedacht hatte, sie würde Hannes und mir mehr als nur stinknormale Sympathie andichten.
Armer, verlassener Tropf! Verlassen? Wann hat sie ihn verlassen? »Wann hast du ihn verlassen?«, wiederholte ich meinen Gedanken sogleich laut.
»Das ... ähm ... habe ich noch nicht.«
Na schön, das mit dem eiskalten Biest und dem armen, verlassenen Tropf war also nur eine Phrase. Erleichtert atmete ich durch. »Also ist er die eiskalte Bestie und du die arme, verlassene Sau?«
»Nein«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen, »so war das nicht gemeint. Keiner von uns ist besser oder schlechter als der andere. Es war eben nur diese Furcht davor, du könntest der Meinung sein, ich würde überreagieren und die Trennung nur aus rein egoistischen Gründen wollen.«
»Und wieso gibst du ihm dann das Gefühl, er allein träge die Schuld für die ganze Misere?«
»Weil er es nicht anders will, Leonie!« Ich konnte ihrer Stimme einen gewissen Grad an Erschöpfung entnehmen. »Außerdem geht es im Augenblick nicht um Hannes und mich, sondern um dich und Matz.«
Erst jetzt fiel mir auf, wie selbstlos ich war. Oder lag es vielmehr daran, dass ich erstaunlich gut über der Trennung stand und es somit keinen übermäßigen Klärungsbedarf mehr gab? Ich war mir selbst ein bisschen unheimlich.
»Schon gut, schon gut!«
»Ist dir denn nicht aufgefallen, dass Matz dir am Ende seines Briefes sogar noch ein schlechtes Gewissen einreden wollte? Das ist seine Art, um von sich und seinem Verhalten abzulenken.«
Gut möglich, denn statt ihm nun Vorwürfe zu machen, war ich schlicht froh, dass ich das Schwerste durchgestanden hatte, und zwar das Schlussmachen. Das Einzige, was mich noch immer brennend interessierte, war der Name der Frau, mit der er mich betrogen hatte. Doch wenn ich den Namen der Frau erführe, was würde ich schon tun? Vielmehr war Matz nun irrelevant für mich. War das nicht das einzig Wichtige?
»Tja, da muss ich ihn wohl enttäuschen, denn ich habe kein schlechtes Gewissen.«
»Du bist ganz schön abgeklärt«, bemerkte Emmy. Ihrer Tonlage konnte ich entnehmen, dass sie das geradezu erschütterte, besonders da ich ihr gestern noch zu erklären versucht hatte, mit wie vielen Unannehmlichkeiten das Ganze verbunden war.
»Oh nein, Emmy«, meine Stimme klang hart, »du irrst dich. Ich fühle mich schlicht und ergreifend befreit.«
***
Zum ersten Mal in diesem Jahr konnte ich mich aufraffen, über den Weihnachtsmarkt zu schlendern, in der Hoffnung, dessen besinnliche Atmosphäre würde mich ein klitzekleines bisschen in Weihnachtsstimmung versetzen. Es war früh am Abend, doch die Dunkelheit war längst hereingebrochen, und so weit das Auge reichte, konnte man bunte Lichter tanzen sehen. Rundum hysterisches Kreischen, laute Kirmesmusik und das Pfeifen und Rauschen der Fahrgeschäfte. An den Fressbuden aus hellem Holz, dessen Dachgiebel Tannengirlanden und Lichterketten zierten, herrschte dichtes Gedränge und die Luft war erfüllt von süßen, fetten und zu mächtigen Gerüchen. Ich wagte nicht, tief einzuatmen. Nicht nur, dass ich der Verführungskraft der ganzen Köstlichkeiten erliegen könnte, außerdem beschlich mich das Gefühl, dass mich allein das Inhalieren der Kalorien aufgehen ließ wie einen Hefekuchen. Doch immerhin zeigte diese typische Marktatmosphäre nach fünf Minuten tatsächlich Wirkung und gab mir ein Stück Behaglichkeit zurück.
Als mir der Geruch von Glühwein um die Nase schwirrte, übermannte mich das plötzliche Verlangen, mich damit von Innen aufzuwärmen und meine Nerven zu beruhigen. Und ganz besonders musste ich mal etwas lockerer werden. Also schloss ich mich einem wilden Haufen Jugendlicher an, der offensichtlich dasselbe im Sinn hatte. Na gut, womöglich hatten sie auch nur die Absicht, sich sinnlos zu besaufen.
Als ich meine Tasse Glühwein endlich mit beiden Händen, die in Fäustlingen steckten, entgegennehmen konnte, sprach mich auf einmal eine mir bekannte Stimme von der Seite an.
»Leonie? Bist du das?« Anscheinend war es nicht gerade ein Einfaches, mich unter meiner tief in die Augen gezogenen Kapuze meines Mantels und dem bis zur Nase hochgezogenen Schal zu identifizieren. (Es war mir völlig klar, dass dieses Outfit keine Männerherzen höher schlagen ließ, aber es war wirklich bitterkalt geworden.)
Ich trat beiseite, um dem nächsten Kunden Platz zu machen, hielt gleichzeitig Ausschau nach der Stimme.
»Rainerrr!«, war dagegen Matz' Vater eindeutig zu erkennen. Daraufhin trat auch die Mutter hinter Rainer hervor. »Und Maaargret!«, verschüchterte mich besonders ihre Präsenz. Dennoch versuchte ich, möglichst unverkrampft aufzutreten, wobei ein unverstelltes Lächeln unmöglich schien. Also unterließ ich es gleich. Zum Glück war mein Gesicht ja fast vollständig verdeckt, da machte Mimik ohnehin wenig Sinn.
»Wir wären beinahe an dir vorbeigegangen«, versuchte Margret das laute Gelächter vorbeizwängender junger, sehr aufgedonnerter Mädels mit Biermischgetränken in den Händen, die Flaschen aus Sicherheitsgründen teils in die Höhe haltend, teils dicht an die Körper pressend, zu übertönen.
Da herrschte an diesem Ort ein solch unübersichtliches Treiben, obendrein machten mich meine dicken Klamotten nahezu unkenntlich, trotzdem hatten sie mich ausfindig gemacht wie verdammte Trüffelschweine. Da blieb einem glatt die Spucke weg.
»So was aber auch!«, fiel mir nur dazu ein und zog den Schal auf recht umständliche Weise ein Stück herunter, um vorsichtig an dem heißen Glühwein nippen zu können. Ich hatte die Flüssigkeit noch im Mund, da zog ich den Schal schon wieder hoch.
Wir entfernten uns ein wenig von der Menschenmenge, die alle Wege verstopfte und sich nur kriechend fortbewegte, um ungestört plaudern zu können. Dabei war ich wirklich nicht in der Stimmung, wollte nur etwas Frieden in mir finden, nachdenken und mich mit literweise Glühwein zuschütten.
Ich konnte ihnen nicht in die Augen schauen, sah entweder an ihnen vorbei oder senkte den Blick verlegen auf meine dampfende Tasse, während ich mit der Schuhspitze im leicht gefrorenen Boden herumstocherte. Die Situation war derart Respekt einflößend, dass mich das schlechte Gewissen nicht einfach nur sachte packte, sondern mich blutrünstig auffraß. Was natürlich albern war, denn die Eltern wussten weitaus besser als ich, was für ein Quadratesel ihr Sohn war. Andererseits gab mir die Trennung von Matz das Gefühl, dass ich mich auch automatisch von den Eltern getrennt hatte, darum kam es mir so vor, als ob ich mich mit dem Feind abgäbe.
»Bist du allein hier?«, fragte Margret mich sensationshungrig aus und hielt nach allen Seiten Ausschau nach einer potenziellen Begleitung. Vermutlich erhoffte sie sich eine männliche Person an meiner Seite, um die ganze Stadt darüber in Kenntnis setzen zu können, wie schnell ich Matz ersetzt hätte und was für ein billiges Flittchen ich sei. Ob sie wusste, dass in Wirklichkeit ihr werter Sohn das »Flittchen« war?
»Ja, ich muss einmal für mich sein, um den Kopf frei zu kriegen«, packte ich die Gelegenheit beim Schopfe und ließ meine Missstimmung durchklingen.
»Oh, okay, dann wollen wir nicht weiter stören«, hatte zumindest Rainer den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden.
Margret leider nicht: »Nun warte doch mal!« Sie packte ihren Gatten am Arm, dabei hatte er sich noch gar nicht abgewandt. »Matz ist wieder bei uns eingezogen«, klang sie eine Spur zu vorwurfsvoll.
»Schnubbi!« Rainer säuselte den Kosenamen nur vor sich hin, war völlig ohne Biss – die Stimme so sanft wie die eines Chorknaben, der Blick so angsterfüllt wie der eines geprügelten Hundes.
Rainer war die Sorte Mann, die sich meinungslos unterordnete und sich den Dingen ergab, um jeden Konflikt zu vermeiden. Dafür trug er ein großes Herz in der Brust, Margret hingegen trug ihres auf der Zunge und hatte unbedingt eine Therapie gegen krankhaftes Alles-an-sich-reißen nötig. Als ich das erste Mal auf die beiden getroffen war, waren mir ihre ungleichen Persönlichkeiten sofort aufgefallen. Seither wunderte es mich jeden Tag ein Stück mehr, wie diese Ehe nur bestehen konnte.
»Was ist denn passiert? Mätzchen erzählt gar nichts«, ließ Margret nicht locker.
Gleichgültig hob ich die Schultern. Womöglich war ich auch nur völlig ausgebrannt, was diese Angelegenheit anbelangte. Aber so viel Rücksicht konnte ich von der Mutter nun einmal nicht erwarten. »Das ist aber wirklich eigenartig«, gab ich etwas zynisch zurück, »ich hätte meinen Arsch darauf verwettet, dass er seinen auf Biegen und Brechen retten würde.«
Empört schnalzte Margret mit der Zunge und warf mir den dazu passenden Blick zu. »Leonie!« Und als sie erkannte, dass Rainer meine Ausdrucksweise (es könnte aber auch an der Wahrheit, die dahintersteckte, gelegen haben) amüsierte, ermahnte sie auch ihn, indem sie seinen Namen ebenfalls streng zitierte.
»Was willst du von mir hören?«, gab ich hörbar gestresst von mir. Alle Anspannung fiel schlagartig von mir ab, weil ich erkannt hatte, dass sie mir überhaupt nichts anhaben konnten, jetzt, da ich nicht mehr zu dieser Familie gehörte. Ich war ihnen zu nichts verpflichtet. Und es war auch völlig nebensächlich, was sie über mich dachten. Nein, mehr als das – es war mir vollkommen schnuppe.
»Warum ihr euch getrennt habt, zum Beispiel.«
»Nun ja ...« Ich machte eine dramatische Pause, um sie auf die Folter zu spannen, versuchte, auf dieselbe komplizierte Weise an einen Schluck von meinem Glühwein zu kommen wie eben und ließ dann meinen Blick über den Markt wandern. Die Leute waren putzmunter und in Feierlaune, die Fahrgeschäfte standen kaum still und die Lichter flackerten um die Wette. Alles schloss darauf, dass dies nicht der richtige Ort war, um Probleme zu wälzen. »Ihr kennt doch euren Sohn. Irgendwie war es doch absehbar, dass er und ich keine Zukunft haben.«
Während Rainer meine, zugegeben, eher spartanische Erklärung mit einem bartagamartigen Kopfnicken bestätigte, erklärte Margret sich nicht so richtig einverstanden damit, verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und machte einen pikierten Gesichtsausdruck.
»Zu einer Beziehung ...«
»... gehören immer noch zwei!«, stieg ich in diese recht kalkulierbare Floskel gelangweilt ein. Doch galt diese auch für zwischenmenschliche Beziehungen? Wie würde Margret wohl reagieren, wenn ich ihr vorhielte, dass es den Eltern zur Hälfte zuzuschreiben war, dass ihr Sohn so missraten war? Vor Wut käme ihr Dampf aus den Ohren, todsicher!
»Das hier ist doch alles nichts wert, Schnubbi«, merkte Rainer scharfsinnig an. Dann wandte er sich an mich, indem er meinen Unterarm leicht berührte und sich ein Stück zu mir vor neigte. »Im Grunde geht es uns ja auch nichts an.«
»Das sehe ich nicht so«, legte Margret Einspruch ein, was hier natürlich niemanden erstaunte. »Schließlich ist er ja seit Leonies Rauswurf obdachlos und fällt uns wieder zur Last. Aber daran denkt ja keiner.«
Als hätte sie einen wunden Punkt getroffen, feuerte ich zurück: »Jetzt ist aber mal genug, Margret. Meiner Auffassung nach habe ich nicht zu verantworten, dass er so unselbstständig und so ein Faulpelz ist. Das ist ja wohl eure konfuse Erziehung, nicht?« Ich bedauerte den umgänglichen Rainer mit einem flüchtigen Blick, weil ich ihn da mit hereinziehen musste, doch, um bei der Wahrheit zu bleiben, während Margret es mit der Strenge zu genau genommen hatte, war dementgegen sein kulantes Verhalten einfach des Guten zu viel. Kein Wunder, dass ihr Kind in der Erziehungsphase allmählich den Faden verloren hatte.
»Du hättest ihm wenigstens die Gelegenheit geben können, sich eine neue Bleibe zu suchen, oder?«
»Und wie hätte er diese finanzieren sollen?«, gab Rainer zu bedenken.
»Mit Mietprellung kennt er sich doch bestens aus«, warf ich dazwischen und konnte mir das süffisante Grinsen nicht verkneifen.
Just standen ihre Münder still und ihre Gesichter waren erstarrt. Doch es dauerte nicht lange, bis Margret wieder ganz und gar zu sich fand und die Krallen ausfuhr. »Nicht jeder hat das Glück und erbt ein Haus.«
Stimmt genau! Vor sieben Jahren hatte ich das Haus meiner »Oma« geerbt, noch dazu einhundertfünfzigtausend Euro. Es war mir natürlich sehr entgegengekommen, denn ich war Studentin gewesen – arm wie eine Kirchenmaus – und das Haus recht sanierungsbedürftig. So hatte es viel zu tun gegeben, ehe ich es hatte beziehen können. Es war ja nicht so, dass ich je regen Kontakt zu meiner »Oma« gehalten hätte, es hatte schlichtweg keinen anderen Nachlassempfänger vor oder nach ihrer Tochter – meiner Adoptivmutter – gegeben, die nach einem letzten Clou vor zwölf Jahren (ich war gerade erst achtzehn geworden und hatte endlich meine erste eigene Wohnung bezogen) lebenslänglich hinter Gitter gewandert war.
»Darauf habe ich mich allerdings nicht ausgeruht. Ich habe trotzdem studiert und gehe arbeiten, um mein Leben zu bestreiten.« Was konnte sie dem nun entgegensetzen? Ich war gespannt und überlegte kurz, ob ich mir der Stimmung wegen Popcorn dazu holen sollte.
An ihrem wirren Blick erkannte ich dann in der Tat Überforderung. Dabei wäre sie dem nur zu gern entgangen, sich selbst anklagen zu müssen. Natürlich war es hart, sich eingestehen zu müssen, dass man in der Erziehung des einzigen Kindes mit Pauken und Trompeten durchgefallen war.
»Haben wir jetzt genug Frust aneinander ausgelassen?«, rang Rainer mit einer Art von Sanftmütigkeit um Harmonie, dass ich unvermeidlich die Augen verdrehen musste. Ich wünschte, er schlüge nur ein einziges Mal mit der Faust auf den Tisch.
Angefressen wandte Margret ihr Gesicht ab und schürzte die Lippen. Wenn sie mir nun mit Ignoranz begegnete, würde das trotzdem nichts an der Wahrheit ändern. Doch sie war nun einmal stur wie ein Panzer, besonders jetzt, da sie nicht mehr auf mich als Kindermädchen und Förderer für ihren Sohn zählen konnte.
»Rainer, bei allem gebührenden Respekt, aber ehe ich euch getroffen habe, ging es mir gut.« Ja, ich weiß, das war eine Lüge, aber ich wollte unmissverständlich darauf hinweisen, dass dieses Affentheater nicht auf meinem Mist gewachsen war, auch wenn ich mich zwangsläufig daran beteiligte.
Bei diesen Worten wandte Margret sich vollständig ab und entfernte sich einige Meter von uns.
»Sie ist nur mit sich im Hader«, flüsterte Rainer mir mit vorgehaltener Hand zu. »Du kennst sie doch.«
Ich nickte wild. »Mag sein, aber warum auf Kosten anderer?«
»Nun, da müssen wir eben durch.«
Ich runzelte die Stirn. »Müssen wir das?«
»Sie ist eben ... sensibel.«
»Andere haben auch Gefühle, Rainer, und ich lasse auf meinen nicht herumtrampeln. Wenn du das aushältst, dann bitte, viel Vergnügen!« Mit diesen Worten verabschiedete ich mich. Ich wollte doch nur ein bisschen – ein kleines – ein winziges bisschen Frieden in mir finden. War das denn wirklich zu viel verlangt?
Dreißig Minuten und zwei Tassen Glühwein später lief ich Hannes buchstäblich in die Arme. Er hatte mich erst erkannt, als ich rief: »Oh Mann, Hannes, hast du keine Augen im Kopf?« Dabei war es eine Kunst für sich, unter den gegebenen Umständen niemandem zu nahe zu kommen, denn je später der Abend wurde, desto dicht gedrängter war die Menschenmenge.
Mit anderthalb Händen zog er meine Kapuze ein Stück aus meinen Augen und sah tief hinein, um auf Nummer sicher zu gehen, dass es sich bei mir wirklich um Leonie handelte. Dabei beugte er sich ein Stück nach unten, da er einen halben Kopf größer war als ich, und kam mir dadurch unangenehm nahe. Doch ich zog meinen Vorteil daraus und genoss seinen Körper, der wie ein Ofen Wärme spendete.
»Leonie!«, überschlug sich seine Stimme. Vor Freude begannen seine Augen zu strahlen. Charmante Furchen bildeten sich drumherum. Daraufhin drückte er mich fest an sich wie eine alte verschollen gegangene Freundin. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich wohl einen ganz guten Eindruck bei ihm hinterlassen haben musste.
»Du? Hier? Jetzt? Heute?« Ich war total aus dem Häuschen vor Verwunderung. »Ich meine, wie geht es dir? Wie geht es deiner Hand?«
»Ach, halb so schlimm«, winkte er mit der lädierten Hand ab. »Das ist nur ein mittelschwerer Bruch.«
»Mittelschwer?« Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, so deformiert, wie der Finger gewesen war.
»Ja, wirklich. Der Doc hat eine Röntgenaufnahme gemacht. Der muss das ja wissen! Und dann hat er den Bruch zusammengesetzt und diese Schiene angelegt.« Er hielt die Hand hoch und drehte sie nach allen Seiten, damit ich mir auch ja ein genaues Bild davon machen konnte.
»Und was ist mit dem Handgelenk?«
»Ach, das ist nur verstaucht. Muss es schonen, kühlen und so weiter. Was man eben so tut bei Verstauchungen.«
»Was man eben so tut?« Seine Gelassenheit versetzte mich in Staunen, denn normalerweise neigten Männer doch schon bei einem harmlosen Schnupfen dazu, den sterbenden Schwan zu geben.
»Na ja, ich habe früher Fußball gespielt. Ich glaube, es gibt keine einzige Körperregion, die nicht auf irgendeine Weise in Mitleidenschaft gezogen worden ist.« Er bog sich vor Lachen.
»Du meinst, auch ...« Ich räusperte mich, konnte es nicht aussprechen, deutete aber mit einem gezielten Blick, begleitet von einem kurzen Fingerzeig, auf seinen Schritt.
Sein Lachen verstärkte sich.
»Ja, auch dort«, keuchte er völlig außer Atem, »aber meine beiden Jungs beweisen wohl, dass die Wunden seit ewigen Zeiten verheilt sind.« Er zwinkerte mir neckisch zu.
Röte schoss mir ins Gesicht. Selbst schuld, dachte ich, was bist du auch so unverschämt neugierig?
»Und wo hast du deine Ehefrau gelassen?« Demonstrativ schaute ich ringsum, in der Annahme, sie würde sich zurzeit nur an einer anderen Stelle des Marktes aufhalten.
»Sie hat andere Pläne.« Bei diesem Thema war sein Gesichtsausdruck maskenhaft und kühl und sein Blick schweifte in die Ferne, nicht grüblerisch, vielmehr so, als hielte er Ausschau nach jemandem. »Lass uns doch ein Stück zusammen gehen, oder willst du schon abhauen?« Daraus schloss ich, dass er alleine war. Es schien gar, als ob er aus demselben Grund hier war wie ich: Ablenkung! Also, warum sollte ich sein gutgemeintes Angebot ablehnen?
»Eigentlich komme ich jetzt erst richtig in Fahrt«, erklärte ich und zeigte auf die nächstliegende Bude, an der Glühwein ausgeschenkt wurde.
»Super«, er zog mich am Arm mit sich, »dann ist der Abend ja einigermaßen gerettet.«
Sbrupt blieb ich stehen. »Was heißt denn hier bitte einigermaßen?«
Er lachte: »Okay, dumm von mir. Streich das Wort!«
Das tat ich auch. Und außerdem würde ich ihm schon zeigen, dass man mit mir durchaus Spaß haben und er dieses Wort künftig vollständig aus seinem Vokabular streichen konnte. Jawohl!