Читать книгу Ärger auf den ersten Blick - Katie Volckx - Страница 3

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Entschuldigen Sie, dass ich Sie noch einmal belästige!« Vor Schreck ließ Amalie den Mopp fallen und wirbelte aufgeregt herum. Sie hatte gerade den Boden im Eingangsbereich gewischt.

Sie fasste sich an die Brust. »Herrgott! Was ist los?«

Er lächelte kleinlaut: »Ich bekomme kein Auge zu! Könnte ich Ihnen nicht Gesellschaft leisten oder Ihnen ein wenig zur Hand gehen?« Er hatte sich von ihr abgestellt gefühlt und hatte schon eine halbe Stunde lang unschlüssig auf dem Sofa gesessen, bis er sich überwinden konnte, an sie heranzutreten.

»Ich ... ähm!« Sie blickte nach links und rechts und musste feststellen, dass es nichts mehr zu tun gab. Jedenfalls nichts, wobei er ihr helfen konnte. »Bin so weit, so gut fertig. Aber wir können gern noch etwas zusammen trinken!?«

Auf einmal war Amalie ganz nett zu dem fremden Mann. Was war passiert?

Sie musste sich eingestehen, dass er auf dem zweiten Blick ein viel sympathischeren Eindruck machte. Ihr gefiel seine Menschlichkeit, die sie ihm auf dem ersten Blick nicht zugetraut hatte. Er war ihr zunächst wie ein verwöhntes Muttersöhnchen vorgekommen, vielleicht auch wie ein Idealist mit einer gewissen Realitätsferne, der seine Mitmenschen schikanierte und sich Freunde kaufte.

Den granitfarbenen Daunenparka und das Jackett hatte er indessen abgelegt und im Hinterzimmer auf dem Sofa liegen gelassen. Die weinrote Krawatte hatte er weit gelockert, die ersten beiden Knöpfe des Hemdes geöffnet und die Ärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Das dunkle, kurze Haar, das zuvor mit ausreichend viel Haargel nach hinten gekämmt war, war nun recht leger aufgewirbelt.

Er erkannte an ihren Augen, dass sie ihn von oben bis unten inspizierte. Er fand es auch gar nicht unangenehm, denn er wusste sehr wohl, wie er auf andere wirkte. Und dann waren sie zumeist (so, wie auch aktuell Amalie) recht überrascht, dass er nicht der Spießer war, der er in seinem steifen Anzug zu sein schien.

Er nahm ihren Vorschlag dankend entgegen. »Ich fürchte, ich brauche etwas Stärkeres für die Nerven.«

Während sie hinter die Theke ging, um sich für ein Getränk zur Verfügung zu stellen, fragte sie schmunzelnd: »Wegen mir? Oder wegen des Unfalls?« Dann wandte sie sich um und ging in die Knie, um eine Flasche Whisky herauszuholen. »Genügen Ihnen in etwa diese Umdrehungen?«

Er begrüßte den Whisky mit einem Kopfnicken.

Dann seufzte er: »Ich verstehe gar nicht, wo plötzlich dieser Schneesturm herkam!« Er richtete seinen Blick leicht beängstigt hinaus. Er befürchtete, dass sein Auto bis morgen ganz und gar von Schnee bedeckt sein und er es nicht mehr wiederfinden würde, obwohl der Sturm sich langsam legte und die Schneeflocken begannen, ausgewogen zu Boden zu segeln.

Nachdem sie ihm den Alkohol eingeschenkt hatte, ließ sich Amalie auf einen der Barhocker vor der Theke nieder und legte ihre Hände auf der Holzplatte ab. Sie fühlte sich erschöpft, doch das ließ sie nicht erkennen. Sie mochte es nicht, wenn sie jemand für schwach hielt. So nahm sie nebenbei den Putzlappen auf, der einsam auf der Theke lag, und ballte ihn in ihrer Rechten, als müsste sie ewige Arbeitsbereitschaft demonstrieren oder sich einfach an irgendetwas Vertrautem festhalten.

Na ja, sie saß nach wie vor einem fremden Mann zur Seite, der, zugegeben, von Minute zu Minute attraktiver auf sie wirkte (auch ganz ohne Alkohol), und trotzdem nicht wusste, über was sie sich mit ihm unterhalten sollte. Bisher hatte sie lediglich die vergrämte Gastgeberin gegeben, was ihr selbst gar nicht gefiel, da Gustav sich viel galanter zeigte.

Er nahm das Whiskyglas zur Hand, roch daran und nahm einen großzügigen Schluck daraus. Er schüttelte sich. »Scheiße!« Seine Augen wurden feucht. Er lachte: »Ich trinke selten so was Hartes.«

»Wieso sagen Sie das denn nicht gleich? Ich habe auch Wein da.« Sie war im Begriff, erneut hinter die Theke zu eilen, als er seine Hand auf ihren Arm legte.

»Nein, lassen Sie es gut sein. Ich sagte, ich brauche etwas für die Nerven und nicht, dass ich mich betrinken will.« Sein Lächeln war sanft. Beinahe so, als wolle er sie schonen.

Sie fixierte sein Gesicht. Es hatte wunderbar markante Züge. Besonders das breite, stoppelige Kinn mit dem Grübchen fiel ihr sofort ins Auge. Und dann blickte sie in seine klaren grünen Augen. Der Blick scheute ihren nicht. Es war, als würden diese Augen tief in ihre Seele eindringen.

Innere Panik ergriff sie. Sie musste seinem Blick weichen. So geht das nicht! Sie drehte ihren Kopf verstört weg. »Nun gut! Wie kommt es, dass niemand Sie vermisst?«

Er versuchte, ihr zu folgen. Erfolglos. »Bitte?«

»Sie haben das Telefon abgelehnt. Erwartet Sie denn niemand daheim?«

Dann lachte er etwas überfordert, wie sie fand. Er winkte ab: »Nicht diese Nacht.«

Sie spürte, dass er ungern darüber sprechen wollte. Deshalb wechselte sie geflissentlich das Thema. Sie wollte sich nicht in die Nesseln setzen. »Und? Was machen Sie so beruflich?«Die Frage musste ja früher oder später kommen, wenn man ihn im Anzug kennen lernte. Doch er verstand es, sich in dieser Hinsicht gelassen zu geben. »Ich bin Architekt.«

»Architekt«, wiederholte sie nachdenklich. Irgendwie konnte sie damit nichts anfangen. Vielleicht, weil es ihr wenig produktiv erschien. Und vielleicht auch, weil es offenbar in einem solchen Leben unentwegt um Geld ging. Eigentlich sogar mehr ums Geld als um die Arbeit. »Und das sind Sie so richtig mit Leib und Seele, ja?« Das klang ziemlich provokant.

Er verstand nicht, warum sie dieser Beruf so anstieß! »Na ja, offen gesagt ...« Er unterbrach sich. Sollte er mit dieser fremden Frau wirklich derart private Details teilen? Irgendwie kam ihm der heutige Abend rätselhaft vor. War es ein Zeichen? Sollte dieser ihm irgendetwas Wichtiges mitteilen? Gut, es konnte auch sein, dass er sich abermals verrückt machte. Doch warum hatte er das Bedürfnis, mit der Fremden, die so gar nicht in das Leben, was er führte, passte, darüber zu reden?

»Warum drücken Sie plötzlich auf die Bremse?«

»Na, weil ich gerade feststellen musste, dass ich Sie gar nicht kenne, und es ist ganz schön eigenartig, dass Sie mir das Gefühl geben, als wären wir alte Freunde. Ist das nicht absurd?«

Ja, das war es, wenn sie bedachte, dass keine Frau nur ein Kumpel für dieses Bildnis von einem Mann sein konnte. Ein solcher Mann war nicht dafür gemacht.

»Ja, vor allem, wenn man bedenkt, wie unhöflich ich eben noch zu Ihnen war.« Sie grinste kess.

Er nahm ihr die Reaktion seiner Ankunft nicht mehr übel. Ehrlich gesagt war es ihm sogar schon wieder entfallen. Es hatte kein Gewicht mehr, nachdem sie nun so gesellig war. Außerdem bemerkte er durchaus, dass sie ihn sympathisch fand und es ihr gar Vergnügen bereitete, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Er sah es daran, dass sie schon längst ins Bett hätte gehen können, da sich doch die Müdigkeit so augenfällig in ihren Zügen abzeichnete, sich jedoch entschieden hatte, ihm Gesellschaft zu leisten.

»Okay!« Er traute seinem Bauchgefühl, sich Amalie gegenüber offen äußern zu können. »Eigentlich hat mich mein Vater als Teilhaber eingetragen. Ich habe nicht einmal Architektur studiert, so wie mein Vater. Ich bin damit aufgewachsen, wurde von ihm gelehrt, besitze also all das nötige Wissen, um das Unternehmen voranzutreiben, aber das Werk hat mein Vater vollbracht.«

Ihr schwante, worauf Gustav hinaus wollte. »Lassen Sie mich raten: Und eigentlich sind Sie in dieser Stellung total unglücklich und Sie träumen von etwas ganz anderem?«

Er war etwas verunsichert, zugleich bewunderte er ihre Menschenkenntnis. Doch was hatte er von jemandem erwartet, der in einem lokalen Gewerbe tätig und tagtäglich mit vielen verschiedenen Charakteren konfrontiert war?

»Was hat mich verraten?«

»Dass Sie sich so außen vor lassen. Nun gut, und das Wort ›eigentlich‹ finde ich außerdem sehr fehl am Platze, wenn man im Grunde seines Herzen glücklich ist.«

Er nickte bestätigend. »Ich mache meine Arbeit pflicht- und verantwortungsbewusst. Ich werde dafür bezahlt, dass ich meine Arbeit gut mache. Aber genau genommen habe ich mich immer schon für Autos interessiert. Ich wollte meinen Vater lediglich nicht enttäuschen.«

»Dafür haben Sie aber genug Geld, um so«, sie wies mit der Hand auf sein Erscheinungsbild hin, »herumlaufen und kleine Cafébetreiberinnen beeindrucken zu können.« Sie zwinkerte ihm neckisch zu. Dabei wollte sie gar nicht flirten.

Er lachte kurz. »Ich bin mir durchaus klar darüber, dass mich viele für einen Angeber halten. Aber nachdem Sie mich ja nun kennen gelernt haben, denken Sie das doch nicht wirklich immer noch, oder?« Er war weder darauf bedacht, gut anzukommen noch war er überheblich; er wusste nur, dass er nicht der war, für den er gehalten wurde.

Sie hob die Schultern unbeeindruckt. »Im Moment können Sie noch alles sein!« Menschenkenntnis hin oder her! Die half ihr nicht weiter, wenn sie einem Mann begegnete, der ihr gefiel. Und überhaupt, fand sie, hatten Männer ein Talent dafür, sich als bestmöglichen Traummann zu verkaufen, solange die Beute nicht im Sack war. Und aus irgendeinem Grund glaubte sie, dass Gustav zu dieser Sorte Mann gehörte, der ganz genau wusste, wie er auf Frauen wirkte. Sie wollte ihm nicht unterstellen, dass er es für sich ausnutzte, doch sie nahm an, dass er all die Bewunderungen insgeheim genoss und sich für nur eine Frau zu schade hielt.

Dachte sie das ernsthaft?

»Ich verstehe.« Er grinste spitzbübisch. »Ich habe auch irgendwann einmal gehört, dass Frauen mit roten Haaren im 15. und 16. Jahrhundert auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden.«

Sie lachte: »Diese Farbe ist aber gekauft.«

»Gott sei Dank! Sonst hätte Ihr Vater bei Ihrer Geburt annehmen müssen, er wurde mit Pumuckl betrogen.«

Sie verschränkte die Arme ineinander: »Wollen Sie mir also sagen, ich gefalle Ihnen nicht?«

Er räusperte sich. Er wusste, dass sie gerade nur miteinander scherzten, doch ihm war daran gelegen, sie wissen zu lassen, wie ernst er seine Antwort meinte. »Sie gefallen mir sogar sehr!« Sein Blick war leidenschaftlich. Das gruselte Amalie ein wenig.

Was passierte hier eigentlich gerade? Sie hatte es zuvor für ein Ammenmärchen gehalten, wenn jemand ihr von der Liebe auf den ersten Blick erzählt hatte, doch nun war sie selbst drauf und dran, sich in einen Fremden zu verknallen, der ihr binnen einer einzigen Stunde vertraut war. Und dabei verstand sie nicht einmal, was ihr an ihm so gefiel. Sie hielt sich nicht in der Position, es überhaupt beurteilen zu können, denn musste man einen Menschen nicht erst dafür kennen? Oder war sie auf einmal unter die Oberflächenkratzer gegangen? Immerhin hatte sie sich ja selbst dabei ertappt, dass seine übergroße Attraktivität sie nicht losließ.

Nein!

Ganz bestimmt hatte Amalie etwas anderes überzeugt. Oder? Oder???

Sie wollte aber nicht überzeugt sein!

Über diese Feststellung war sie derart schockiert, dass sie vom Hocker sprang und so tat, als wäre sie schlagartig müde geworden, zu müde, um das Gespräch weiterzuführen. Dabei hätte sie gerade nichts sehnlicher getan. Sie hatte nur vor der Entwicklung Angst. Was würde nach einer weiteren Stunde passieren? Würde sie ihm einen Heiratsantrag machen?

»Verzeihen Sie, morgen steht eine Hochzeit an. Ich muss dafür möglichst ausgeruht sein, sonst stehe ich das nervlich nicht durch«, verkündete sie scheinheilig, wenngleich der Inhalt der Wahrheit entsprach.

Er sah verdutzt aus. Da es ihm vorkam, als hätte sie mitten im Gespräch abgebrochen, fragte er besorgt: »Habe ich irgendetwas Falsches gesagt?«

»O nein!«

»Doch, das habe ich! Sie sind auf einmal so ablehnend.« Er sah sogar ernsthaft enttäuscht aus.

»Es ist nur ...« Nun trat sie auf die Bremse, so dass er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.

»Na, sagen Sie schon!«

Sie setzte sich wieder, wandte sich ihm verlegen zu. »Jetzt halten Sie mich bestimmt für eine unentschlossene, anstrengende Zicke, was?«

Das empfand er nicht so. Was hatte sie schon derart Entsetzliches getan? Sie war nur unsicher, das war alles. Trotzdem antwortete er in der Art eines Scherzes: »Einen klitzekleinen Knall scheinen Sie wohl zu haben, ja.« Wie klitzeklein ihr Knall war, zeigte er mit Daumen und Zeigefinger und lächelte sein charmantestes Lächeln.

Sie stöhnte innerlich und dachte: Und schöne Zähne hat er auch noch! So perfekt konnte doch keiner sein! Sie suchte nach irgendeinem Fehler. Und sei es nur eine winzige Narbe. Doch sie vermutete, dass selbst eine solche liebenswert an ihm ausgesehen hätte.

»Sie wissen doch: Menschen ohne Macke sind Kacke!«

Auf dieses Stichwort hin begutachtete er sie. Nachdem sie es ja schon mit ihm getan hatte, konnte sie ja nichts dagegen haben.

Auch wenn quietschrotes Haar völlig gegen die Natur war, war es, als ob sie zu ihr gehörten wie die vollen, sinnlichen Lippen. Er fragte sich, ob sie sich weich anfühlten, wenn man sie küsste? Sie hatte hohe Wangenknochen und ein spitzes Kinn. Und die Augen strahlten blau und sanftmütig durch die Brille hindurch. Es war eine schwarze Vollrandbrille. Nur der innere Rand war leicht rosafarben. Die Form erinnerte an die Sechziger Jahre. Sie verlief nach oben hin spitz. Sowieso strahlte sie eine angenehme Ruhe aus. Sie war jemand, bei dem man sich gut aufgehoben fühlte. Wenn er sie also genauer betrachtete, war sie gar nicht so mädchenhaft, wie er es zuvor durch die kleine, zierliche Gestalt empfunden hatte. Ihre Züge waren sehr feminin.

Und wie alt mochte sie sein? Vierundzwanzig? Fünfundzwanzig? Sie wirkte sehr abgeklärt und reif. Er kannte solche Menschen. Sie waren in diesem Alter nur dann so kontrolliert und selbstständig, wenn sie es sein mussten. Ihm wurde klar, dass er mehr über Amalie erfahren wollte.

Er blickte sich im Café um. Auf den Tischen standen rote Weihnachtssterne in weißen Übertöpfen auf grünen Tischdecken und auf der Theke stand ein Adventsgesteck, in dessen Mitte eine dicke, goldene Kerze steckte, die zu einem Drittel heruntergebrannt war. Die Fenster zierten Bilder verschiedener Motive, die mittels Schablonen mit Schneespray angebracht waren. Neben der Eingangstür stand ein kleiner Nadelbaum auf einem kniehohen Podest. Er war schlicht behangen, mit einer Sternenlichterkette und rotweiß gestreiften Christbaumkugeln. Sie erinnerten an Zuckerstangen. Und ein brauner Holzschlitten mit einem Weihnachtsmann zierte die Baumkrone. Und all das in Miniaturgröße.

Es war nicht viel, doch es fühlte sich besinnlich an. Vielleicht lag es ja an dem Café selbst, denn mit seinem Mobiliar aus Ebenholz und der Holzvertäfelung mit der gemusterten Vintagetapete hatte es einen antiken Charme und sandte eine gemütliche Atmosphäre aus.

»Wie verbringen Sie die Weihnachtstage?«

»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Amalie unbeschwert. Wie konnte man so etwas nicht wissen? War es nicht klar, dass man solche Tage mit der Familie feierte?

»Es sind bis dahin ja auch noch zweieinhalb Wochen.« Er beschloss, von sich zu reden, wenn sie schon nichts über sich zu erzählen wusste. »Mich erwartet ein riesiges Festmahl. Ich hasse es, zumindest auf diese Weise, weil es immer so protzig ausgestattet wird. Die Stimmung wirkt erzwungen. Na ja, Sie können sich das ungefähr vorstellen.«

Sie nickte. »So läuft das unter den ganzen reichen Schnöseln.«

»Kennen Sie denn so viele?«, stänkerte er.

»Ein paar. Aber die meisten kennt man ja aus dem Fernsehen.« Sie grinste. Sie nahm an, dass er sie für anmaßend hielt. »Sie finden mich zu voreingenommen, nicht wahr? Aber wenn man nicht will, dass Menschen voreingenommen sind, warum lebt man dann so sehr gegen den Strom? Das ist doch vielmehr provokant!«

Er musste lachen, wusste allerdings noch nicht, worüber mehr: Darüber, dass sie sich zu rechtfertigen versuchte, ohne dass er etwas in dieser Richtung kritisiert hatte, oder darüber, dass sie nicht bemerkte, dass sie die Dinge nur schönredete!

»Sie meinen also, dass ich mit meiner Erscheinung und mit meinem Bankkonto gegen den Strom schwimme?«

Sie war etwas beschämt. Sie stand zu ihrer Meinung, doch sie spürte, dass er sich persönlich diskriminiert fühlte. »Nein, auf Sie trifft das irgendwie nicht zu. Obwohl Sie auf den ersten Blick nicht gerade der Sympathischste sind. Vermutlich liegt es auch nur an mir.«

»Gewiss! Denn in den Kreisen, in denen ich sonst so verkehre, legt man nicht nur Wert auf das, was Sie an mir kritisieren, sie verlangen es sogar von mir ab. Und damit Sie mich nicht wieder falsch verstehen: Nein, ich habe überhaupt kein Problem mit Ihnen, sondern Sie mit mir!«

Es ärgerte sie, dass er recht hatte. Es war sie gewesen, die ihn aufgrund seiner bloßen Erscheinung verurteilt hatte.

Sie ließ sich nichts anmerken. »Das klingt ganz danach, als hätten Sie es gern schlichter?«

Er grübelte. »Es widert mich nicht direkt an, aber Ihre Welt ist zum Beispiel viel ehrlicher und natürlicher. Es macht es deshalb einfacher.«

»Einfacher? Wenn ich da so an meine Probleme denke ...«

»Aber die Probleme sind echt, verstehen Sie? In dieser snobistischen Gesellschaft ist ein echtes Problem schon, wenn der Kaviar ausgeht.« Zugleich wollte ihm nicht in den Kopf, dass Amalie Probleme hatte. Sie wirkte gar nicht wie jemand, der es schwierig hatte. »Nennen Sie mir ein Problem, das Sie quält.«

Sie war sich gar nicht bewusst darüber, dass er durch ihre Äußerung davon ausging, dass es sie quälte. »Na ja ... also ...« Sollte sie es wagen? Warum eigentlich nicht? Gustav fiel die Offenheit ja auch nicht schwer. »Das Geschäft läuft nicht so gut. Wir leben am Existenzminimum. Aber ich möchte es nicht aufgeben, weil es seit fast siebzig Jahren existiert.«

»Ist es ein Familienunternehmen?«

Sie nickte bedrückt.

»Natürlich ist es das!« Warum sonst sollte jemand freiwillig am Existenzminimum leben? »Und wenn ich Ihnen helfe?«

»Wobei?«, war sie beunruhigt.

»Ich könnte Ihnen finanziell etwas ...«

»Das kommt gar nicht in die Tüte!«, erhob sie die Stimme. Sie war empört. Sie wäre es bei jedem gewesen. Doch bei ihm war sie es besonders.

Mit dieser Reaktion musste er ja rechnen. »Aber jetzt, da ich das Café und die dazugehörige Betreiberin kenne, möchte ich nicht, dass es pleite geht.«

»Wissen Sie, Ihr Geld wird daran nichts ändern. Sie haben wirklich keine Ahnung, worum es hier geht.« Dachte er, man konnte im Leben alles mit Geld regeln? Selbstverständlich denkt er das; das denken nämlich alle Geldleute!

»Dann erklären Sie es mir eben, anstatt mich so derb anzugehen!« Er sagte es absichtlich geschwollen.

Sie blickte kurz zu Boden, dann wieder zu ihm auf. »Ich hätte damit nicht anfangen sollen. Entschuldigen Sie, das ist unfair!«

Er schüttelte den Kopf: »Das muss Ihnen nicht leidtun. Ich möchte es aber verstehen. Also erzählen Sie schon, Amalie.«

»Nun gut.« Sie atmete tief durch, um sich zu besinnen. »Es geht mir um das Café und nicht darum, dass ich am Existenzminimum lebe. Mithilfe Ihres Geldes kann es natürlich fortbestehen, aber was habe ich davon, wenn niemand das Bedürfnis hat, hierher zu kommen?«

Je klarer er sich darüber wurde, wie sehr ihr Herz und Blut an dem Unternehmen hing, desto trauriger machte es ihn. Erst jetzt begriff er, dass es um den ideellen Wert ging. Und er wollte sich ohrfeigen, dass er nicht von allein darauf gekommen war.

»Nun muss ich mich aber bei Ihnen entschuldigen. Ich bin verdammt unaufmerksam!«

»Lassen Sie uns besser das Thema wechseln, in Ordnung?«

Er wäre ein Narr gewesen, wenn er Einwände gehabt hätte. Erleichtert schnaufte er durch.

»Na schön, dann erzählen Sie mir von der Hochzeit, zu der Sie sich morgen hinzwingen müssen!« Unweigerlich musste er sich vorstellen, dass sie die Braut war. Urkomisch!

Sie stieß einen Seufzer aus. »Dieses Thema ist nicht gerade besser«, erklärte sie gackernd.

»Sagen Sie bloß?« Irgendwie machte es ihn neugierig. Doch wenn er nun wieder nachhakte, würde er sich gegebenenfalls ein weiteres Mal bei ihr unbeliebt machen. Er war also im Zwiespalt.

Da es kein Geheimnis war, dass sie nur widerwillig auf die Hochzeit ging, antworte sie schon von sich aus: »Ich könnte mir meinen freien Tag wirklich besser vorstellen, aber meine Oma besteht darauf, dass ich sie begleite. Gut, sie ist sehr alt und ist auf meine Schulter angewiesen, aber ausgerechnet dort?«

Er verstand nur Bahnhof. »Wieso? Was ist denn dort - also, außer die Hochzeit?«

»Die Frage ist nicht, was dort ist, sondern wer!«

»Also gut! Wer?« Atemlos vor Spannung starrte er sie an.

»Marietta!« Sie verdrehte die Augen, während sie den Namen aussprach. Und ein langer Seufzer folgte.

Seine Lider flatterten aufgeregt. »Und was ist an dieser Marietta so verkehrt?«

»Alles!« Das klang sehr global.

»Das ist ... viel!«

Sie zischelte durch die Zähne. Auch wenn allein der Name dieser Frau Herzrhythmusstörungen bei Amalie auslöste, tat sie kund: »Es ist ja nicht so, dass wir jedes Mal die Messer wetzen, sobald sich zufällig unsere Wege kreuzen, doch es gibt nach wie vor keinen Grund, warum wir einander mögen sollten.« Sie machte eine Pause, um zu verschnaufen. Der Gedanke an dieses Miststück raubte ihr buchstäblich den Atem.

Marietta lebte zwei Orte weiter. Doch das war nicht immer so. Amalie und sie waren einmal Nachbarskinder gewesen und wuchsen miteinander auf. Sie hatten Tür an Tür gelebt, gingen sogar in ein und dieselbe Schulklasse.

Marietta war schon immer eine kleine Diva gewesen. Im zarten Alter von zwölf lernte sie bereits den kleinen Finger abzuspreizen und behandelte jeden von oben herab. Mit dreizehn hatte sie begonnen, sich zu schminken, wodurch sie ausgesehen hatte, als wäre sie von den Eltern auf den Kinderstrich (oder mindestens in eine Clownschule) geschickt worden. Amalie dagegen war schon immer der natürliche Typ gewesen. Sie hatte sogar lieber mit den Jungs Fußball gespielt als mit Mädchen und Puppen.

Doch die unterschiedlichen Charaktere waren nur der Grund dafür gewesen, dass sie nichts miteinander anzufangen wussten. Was Amalie dazu gebracht hatte, Marietta zu hassen, war Pete.

Pete war Amalies erste und einzige Liebe gewesen, mit dem sie sage und schreibe fünf Jahre ihres Lebens geteilt hatte. Sie war sechzehn, als sie ihn kennen gelernt hatte. Mit ihm hatte sie ihren ersten Kuss, den ersten Sex und Verlobungsringe ausgetauscht.

Bis Marietta ihr die Jugendliebe ausgespannt hatte. Sie hatten nicht einmal eine Affäre gehabt. Pete war einfach abgehauen, von einem Tag auf den anderen, als ob Amalie nur ein Schatten seines Lebens gewesen wäre. Er war prompt bei Marietta eingezogen. Und als sei das nicht schon erniedrigend genug, hatte Marietta ihren Triumph offen hinausgetragen. Amalie war durchgedreht. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten und musste der Schikane Einhalt gebieten. In Gedanken war sie zweihundert verschiedene Mordvarianten durchgegangen, während der starke Wind den Regen heftig in ihr Gesicht gepeitscht und sie einige Male fast vom Fahrrad gestoßen hatte. Sie war wie paralysiert gewesen, so dass sie frei von jedem Schmerz war.

Und als sie dann mit triefend nassen, strähnigen Haaren, der zerlaufenen Schminke und der durchtränkten Kleidung vor Mariettas Tür gestanden hatte, schwoll ihre Wut an. Es war schon dunkel gewesen, deshalb hatte im Innern des Hauses das Licht gebrannt. Sie hatte durch das Wohnzimmerfenster das friedliche Beisammensein der beiden Liebenden und dessen Eltern sehen können: wie Pete und Marietta beim Abendessen vertraut nebeneinander saßen, mit dem Besteck in der Hand kauten und lachten und sich zwischendurch einen Kuss auf die Lippen drückten, als hätte Amalie niemals existiert. Doch vielmehr hatte sie sich durch die Eltern gedemütigt gefühlt, weil sie sich gaben, als ob es niemals anders gewesen wäre. Es war so unvorstellbar kränkend.

In ihrer Rage hatte sie mit dem Fuß gegen die massive Holztür getreten und gebrüllt: »Ihr Verräter! Ihr sollt allesamt qualvoll an euren Knödeln ersticken!«

Pete hatte sich angeboten, die Tür zu öffnen und das zu regeln, schließlich hatte er es ja auch verbockt.

Sein Blick war eiskalt, als er zu Amalie hinausgetreten war, und hatte die Tür hinter sich herangezogen, um sie auszuschließen. Hatte er ihr nun ernsthaft weismachen wollen, dass Amalie das Problem war?

»Was maßt du dir an, mit mir so umzuspringen? Du bist hier der elende Feigling, der sich sang und klanglos aus dem Staub gemacht hat!« Sie hatte ihm eine Ohrfeige zu verpassen versucht, doch kurz vor seinem Gesicht hatte er ihre Handfessel zu greifen bekommen und Amalie gereizt zu sich heranzogen, so dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten.

Er kannte kein Erbarmen und hatte geraunt: »Ich würde dir raten, dich schleunigst zu verpissen, sonst wirst du mich kennen lernen!« So hatte sie ihn noch nie zuvor erlebt. Auf einmal hatte er wie ein aggressiver Schläger gewirkt. Zum ersten Mal hatte sie sich gefragt, ob sie nicht sogar froh darum gewesen sein sollte, dass sie ihn los war, denn offenbar hatte sie ihn nie wirklich gekannt.

Doch nur sicherheitshalber hatte sie klarstellen wollen, dass sie sich keine Angst einjagen ließ. Und: »Das werde ich tun, sobald ich erfahren habe, was ich falsch gemacht habe!« Dann hatte sie ihm fest in die Augen geschaut. »Und wenn dieses Flittchen aufhört, mich zu traktieren!«

Daraufhin hatte er ihren Arm wieder freigegeben und war einen Schritt zurückgewichen. Während er blind nach dem Türknauf gegriffen hatte, hatte er einfallslos erwidert: »Lass es gut sein.« Er hatte nicht vorgehabt, irgendetwas zu klären, denn dafür war er zu egoistisch. Seine größte, nein, einzige Sorge war gewesen, dass seine Eltern, das reiche, namhafte Edelkaufhaus-Ehepärchen, die Wahrheit erfahren würden. »Finde dich einfach damit ab, klar?«

Doch als er ihr den Rücken zugekehrt hatte, um wieder ins Haus zu gehen, hatte sich Amalie klammheimlich an ihm vorbeigezwängt und war schnurstracks ins Wohnzimmer gefegt, so schnell, dass Pete nicht gewusst hatte, wie ihm geschah.

Das hochmütige Gelächter war abrupt verstummt, sobald Amalie vor der Sippe stand. Vor Schreck hatte Marietta sich tatsächlich fast an ihrem Kloß verschluckt und die beiden Elternpaare hatten die Münder nicht mehr zubekommen vor Fassungslosigkeit und Amalie von Kopf bis Fuß angeglotzt.

Diesen Blicken hatte Amalie klar entnehmen können, dass es nicht nur ihre bloße Anwesenheit war, die sie in Erstaunen versetzt hatte, sondern hauptsächlich ihre durch das Unwetter recht verwilderte Erscheinung.

So hatte Amalie bewusst laut gerufen: »Na, schmeckt's?« Die Sippe war stumm geblieben und hatte Pete mit Blicken angebettelt, Amalie endlich hochkant hinauszuwerfen. Doch dann hatte sie auch schon weitergetobt: »Passe ich etwa nicht in eure feine Gesellschaft, oder weshalb seid ihr so froh, dass Marietta mich so schnell ersetzt hat? Und Marietta, warum gibst du mit deiner neuen Errungenschaft so an? Nicht nur, dass es weithin bekannt ist, dass du deine Liebschaften wechselst wie deine Unterwäsche, zudem bist du auch noch so dumm und glaubst, dass dieser Versager mit dir nicht dasselbe abziehen wird, wie mit mir.«

Mit seiner Hand hatte Pete das Zeichen eines Telefons gemacht, um zu signalisieren, dass er einen Anruf tätigen wolle. Er hatte sich zurückgezogen, so, dass Amalie es nicht mitbekam.

»Guck nicht so«, wetterte sie indes weiter, »das Arschloch in ihm ist eine schlechte Angewohnheit und keine kindische Phase! Glaubst du es nicht, weil du nicht betroffen bist?« Es war Marietta anzusehen, dass sie kurz ins Zweifeln geraten war.

Doch dann hatte sie diesen fiesen, arroganten Blick aufgesetzt und konterte (ziemlich gut, um ehrlich zu sein): »Und wieso regst du dich jetzt so auf? Dann solltest du doch froh sein, dass du ihn los bist, oder?« Es stimmte ja - damals wie heute.

Daraufhin hatte Amalie kurz nicht mehr so cool ausgesehen. Um das zu verschleiern, hatte sie sich mit den Händen auf den Esstisch gestemmt und ruhig, aber rüde erklärt: »Ich rege mich deshalb auf, weil ich mich nun mal ungern verarschen und fertigmachen lasse, Fräulein Scheinheilig!«

Als Rebecca Marquardt, Mariettas frostige Mutter, versucht hatte, sich für ihre Tochter starkzumachen, hatte Amalie deren halbvollen Teller mit einer lockeren Handbewegung auf den Boden geschoben. Es war eine absurde Geste gewesen, denn Amalie hatte es in einem derart langsamen Tempo getan, dass Rebecca alle Zeit der Welt gehabt hätte, sie davon abzuhalten. Vermutlich hatte niemand geglaubt, dass sie es wirklich durchziehen würde.

»Das ist ja wohl die Höhe!« Marietta hatte sich polternd von ihrem Stuhl erhoben. »Du bist total asozial!« Instinktiv hatte sie nach ihrem Wasserglas gegriffen und den Inhalt Amalie ins Gesicht geschüttet.

Wie eine Irre hatte Amalie nur laut aufgelacht und an sich heruntergeschaut: »Wirklich einfallsreich, Marietta! Als wäre ich nicht schon nass genug vom Regen!« Sie klatschte laschen Beifall.

Und da sie sich mit dieser unüberlegten Aktion selbst bloßgestellt hatte, hatte sie gekeift: »Kein Wunder, dass Pete dich verlassen hat!«

Da Pete in der Sekunde wieder in die Stube zurückgekehrt war, hatte er diese Bemerkung mitbekommen. So hatte er sofort geistesgegenwärtig reagieren können: »Halt die Klappe, Marietta!« Er hatte noch immer nicht gewollt, dass seine Eltern die Wahrheit erfuhren, obwohl es in diesem Moment nicht unschöner hätte werden können. Allerdings hätte Pete Amalie bis hierher notfalls völligen Wahnsinn unterstellen können.

Amalie hatte sich zu ihm umgewandt und den Kopf zur Seite geneigt, als sie sprach: »Du bist so ein Hosenscheißer, Pete!« Darauf hatte er ihr einen finsteren Blick zugeworfen. Unter anderen Umständen hätte ihr das durchaus Angst gemacht, doch sie hatte sich mit seinen Eltern im Hintergrund sicher gefühlt. »Nimmst du im Ernst an, deine Drohung von eben, vor der Tür, könnte mich einschüchtern?« Vielmehr hatte ihr die Drohung vermittelt, wie groß seine eigene Angst gewesen war. »Was könnte denn auffliegen? Dass du nicht dieser feine Pinkel bist, für den dich deine Eltern halten?«

Sein Zorn hatte alle Dämme gebrochen. Er hatte sie an beiden Oberarmen gepackt und durchgeschüttelt. »Du Hexe! Wieso tust du meinen Eltern das an?«

Eigentlich hatte sie ihnen rein gar nichts damit angetan, wie sie später erfahren hatte, außer, dass sie fortan immer mal wieder Ausflüchte für ihren triebhaften Sohn finden mussten. Der Wahrscheinlichkeit nach war es ihnen lieber, dass er das Unternehmen hasste, statt es später an die Wand fahren.

Im selben Augenblick hatte es wie wild an der Tür geklingelt. Sofort hatte Pete von Amalie abgelassen, war an die Haustür geschnellt und hatte die Polizeibeamten direkt ins Wohnzimmer geführt. Wie eine achtjährige Petze hatte er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Amalie gedeutet. Pete war klar gewesen, dass er Amalie vollkommen mühelos hätte rausschmeißen können, doch ihm war einfach nach Drama gewesen.

Die Beamten hatten sich kurz angehört, was passiert war. Dann hatten sie Amalie gebeten, mit ihnen mitzukommen, was sie auch ohne viel Federlesens getan hatte. Ihre Wut war ohnehin längst verflogen. Die Beamten hatten das Fahrrad in den Kofferraum geladen und sie seelenruhig nach Hause chauffiert.

»Mein Auftritt hatte nämlich keine Konsequenzen für mich. Denn was Pete nicht wusste, ist, dass die Beamten durch das Fenster sehen konnten, wie er mich geschüttelt hat. Sie fanden den Anruf also völlig überflüssig. Ich meine, hallo? Einer gegen sechs? Sie konnten doch nicht erwarten, dass die Beamten ihnen die Hilflosigkeit abnehmen würden«, schilderte Amalie kichernd das Ende vom Lied.

»Und wie lange ist das her?«, fragte Gustav zwar sehr amüsiert, aber ein bisschen mitgenommen.

»Etwas über vier Jahre.« Doch Amalie war anzusehen, dass sie inzwischen drüber hinweg war. Nur die Abneigung gegenüber Marietta war geblieben. Es war schon ein wenig sonderbar, wie gut sich hingegen Rebecca Marquardt und Oma Minna verstanden.

»Und was ist aus Pete geworden?«

»Warum gehst du davon aus, dass sie heute nicht mehr zusammen sind?«

Er zuckte mit den Schultern. »Weil ich deiner Meinung bin: Er ist ein elendes Arschloch!« Er grinste etwas dreckig. »Und weil solche Geschichten immer ein bitteres Ende nehmen.«

Sie war darin bestätigt, dass Gustav nicht nur ein guter Zuhörer war, sondern auch noch überaus aufmerksam. »Das Ganze hielt gerade mal ein halbes Jahr. Das Ende ging von Marietta aus, was abzusehen war, denn ihre Beziehungen bestehen lediglich aus Spielchen, sonst würde ihr langweilig werden.«

Doch nun heiratete sie. Amalie wusste nicht einmal, wen! Plötzlich hatte die Einladung in Oma Minnas Briefkasten gesteckt.

»Wer will so eine dämliche Pute freiwillig heiraten?«, war Amalie irritiert. Außerdem war sie sich vollkommen sicher, dass die Ehe nur dem Zweck dienen sollte. Darum hatte diese gar keinen Wert! Doch Oma Minna legte anscheinend sehr wohl Wert darauf, bei der Trauung aufzutauchen und Teil dieses Theaters zu sein. Und Amalie sollte ihr dabei auch noch aus Anstand Gesellschaft leisten. Anstand! Ha! Dass ich nicht lache!

Gustav lachte hell auf: »Nach allem, was Sie mir erzählt haben, würde ich mich dasselbe fragen.« Er räusperte sich. »Aber meinen Sie nicht, dass, wenn es schon vier Jahre her ist, diese Marietta sich geändert haben könnte?«

Amalie schüttelte vehement den Kopf. »Herrgott, nein! Ehedem gefriert die Hölle! Ich bin ihr hin und wieder in der Stadt begegnet, natürlich unfreiwillig, und weil sie es mir nicht gleichtun kann, schweigend an mir vorbeizugehen und so zu tun, als würden wir einander nicht kennen, hielt sie mich immer mit einem überheblichen und gekünstelten ›Hallo!‹ und ›Wie geht es dir?‹ auf. Ich meine, sie weiß ganz genau, dass ich ihr nie verziehen habe und außerdem mit ihrer blasierten Art nicht zurechtkomme. Das ist einfach nicht mein Ding, wissen Sie.«

Er nickte heftig: »Ja, das weiß ich!« Er musste sich zwangsläufig an Amalies Begrüßung erinnern.

Sie winkte ab. »Nun seien Sie doch nicht so nachtragend. Über Sie habe ich ja meine Meinung geändert, weil ich mich schlicht und ergreifend geirrt habe!« Sie lächelte zuckersüß. Und als er ihren Blick erwiderte, wurde ihr heiß und kalt zugleich.

»Wenigstens tun Sie sich nicht schwer, Fehler einzusehen.«

»Nein, das tue ich tatsächlich nicht. Ich hasse nichts mehr als Ungerechtigkeit.«

»Aber viele sehen nicht einmal ein, dass sie im Unrecht sind.« Er mochte ihr Bewusstsein zu sich selbst. Obwohl sie so voller Humor war, konnte er sie ernst nehmen. Unverzüglich musste er an seinen Großvater Oskar denken. Er war der Einzige seines Umfelds mit einer Klappe, die von hier nach Bangkok reichte. Viel zu viele kamen damit nicht zurecht, weil seine Äußerungen, zugegeben, hin und wieder ziemlich grenzwertig waren, doch man wusste wenigstens immer, woran man war.

»Ich weiß aber immer noch nicht, was aus Pete geworden ist!«

Amalie hob die Schultern. »Tja, das weiß ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin. Oma Minna hatte mir lediglich von dessen Trennung berichtet. Er war wohl einfach fort.«

»Oh!«

»Niemand weiß etwas.«

»Nicht einmal seine Eltern?«, wunderte er sich aus gutem Grund.

Für Amalie war das jedoch keine große Überraschung. Nachdem sie so eine Szene abgeliefert hatte, musste Pete sich ihnen gegenüber rechtfertigen. Und ihm war nichts anderes übrig geblieben, als die Wahrheit zu erzählen, denn er hatte gewusst, dass ein Anruf bei Amalie genügt hätte, um diese zu erfahren. Und die Wahrheit hatten die Eltern derart unbequem gefunden, dass sie sich von ihm entfernt hatten.

»Ich fand das sogar ein bisschen fies, denn er ist ja nach wie vor ihr Sohn. Er wollte eben nicht dieser feine Pinkel sein, den sie sich für ihr Kaufhaus gewünscht haben. Er wollte ein Leben in Freiheit leben.«

Gustav konnte sich nur zu gut in seine Lage versetzen. »Das heißt, die einzige Wahrheit war, dass er frei sein und nicht für seine Eltern arbeiten wollte?« Das fand er mehr als irre. Er hatte sich etwas Geheimnisvolleres erwartet.

»Na ja, du kennst seine Eltern nicht! Es hätte nichts Schlimmeres passieren können, als das Kaufhaus abzulehnen. Na, und vielleicht auch die Tatsache, dass er dazu solch ein Strolch ist. In dieser Gesellschaft ist nichts wichtiger als eine tadellose weiße Weste.«

»O ja, das brauchen Sie mir nicht zu erklären.« Er band die Krawatte ganz ab und legte sie auf die Theke. Er hielt die Hand noch immer darüber, als wolle er mit dieser Geste noch einmal mehr verdeutlichen, dass er diese nicht für sein eigenes Ansehen brauchte, sondern einzig für das Ansehen des Architektenbüros. »Manchmal frage ich mich, ob ich in meinem Beruf wirklich nur ernst genommen werde, wenn ich in diesem Aufzug vor den Kunden auftrete. Manchmal ist das schon lästig.«

»Das heißt, Sie müssen sich zwingen?«

»Nein, nicht so wie Pete, dass ich meine Eltern in der Art in Verlegenheit brächte und der Arbeit meines Vaters respektlos gegenüber stünde. Offen gesagt habe ich auch erst im Laufe der Zeit festgestellt, was da alles dran hängt. Manchmal würde ich auch lieber irgendeinen Blödsinn verzapfen, als den ganzen Tag Höflichkeitsfloskeln auszutauschen. Nun ja, aber man gewöhnt sich dran. Letztendlich ist es mein Job, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Und das ist genauso wichtig wie Blödsinn verzapfen.«

Dennoch wusste sie, sie würde sich niemals für eine solche Welt entscheiden. Sie war kompliziert. Und vor allem spießig. »Ich habe mich von dieser Art Leben wie Ihres absichtlich distanziert. Und wenn ich Sie so reden höre, bin ich froh drum.« Sie glitt vom Barhocker und schlenderte hinter die Theke, um die Whiskyflasche in den Schrank zurückzustellen. »Möchten Sie noch etwas anderes trinken? Ich lade Sie ein.«

»Vorhin sagten Sie, Sie hätten Wein da.« Er war imponiert von ihrer Selbstlosigkeit, wo doch das Café so schon nicht genug einnahm. Obwohl ihm natürlich klar war, dass ihr auch ihr zu großer Stolz im Weg stand, jetzt, da sie wusste, dass er genug Geld hatte, um das ganze Café zu kaufen, wenn er wollte. »Aber nur, wenn Sie ein Glas mittrinken.«

Sie überlegte kurz. Dann: »Klar, warum nicht?« Sie stellte zwei große, bauchige Weingläser auf die Theke und entkorkte den Rotwein gekonnt. Als sie kurz daran roch, schloss sie die Augen schwelgend.

»Der sieht aber teuer aus!« Er musste so etwas ja wissen.

»Finden Sie?« Sie hielt die Flasche mit dem Etikett voran direkt vor ihr Gesicht und sprach den Namen laut aus.

Er war nicht der größte Weinkenner, doch dieser war ihm geläufig. »Welcher Jahrgang?«

Sie zog eine Braue hoch. Dann überreichte sie ihm die Flasche. »Hier, sehen Sie selber nach. Ich kenne mich mit solchen Dingen wirklich nicht aus.«

»Sieh an, sieh an; 2000er!« Er nickte beeindruckt. »Edel geht die Welt zugrunde.« Er brach in Gelächter aus, im Wissen, dass sie sich nicht im Ansatz über den Preis bewusst sein konnte, so sorglos, wie sie ihn öffnete und verteilte. Angesichts ihrer ungünstigen Lebenslage und ihrer allgemeinen Einstellung stand der gute Schluck nämlich vollkommen im Widerspruch.

»Nun hören Sie aber auf«, lachte sie nur zögernd mit ihm. Sie wusste ja nicht einmal, worüber sie gerade lachte.

»Ich schätze, der kostet zwischen fünf- und sechshundert!« Genau wusste er das nicht.

Ihr Blick wurde starr und glasig. »Wie bitte?«, quietschte sie argwöhnisch. Ihr wurde ein bisschen übel. Sie schluckte schwer.

»Das ist ja das Bescheuerte daran ... Sie haben keinen blassen Schimmer!« Er prustete wieder los. Dann hob er ergebend die Hand. »Es tut mir furchtbar leid, aber es ist einfach zu komisch.« Zum Glück verstand sie die Ironie, denn er fürchtete, sie könnte beleidigt davonlaufen.

»Schon gut! Aber das hätten Sie mir ja ruhig mal früher sagen können. Nun ist der Wein offen, verdammt!«

»Aber wie um Gotteswillen kann es sein, dass Sie nicht wissen, was dieser Wein wert ist, wenn Sie ihn doch im Schrank zu stehen haben?«

»Er war ein Geschenk von einem älteren Herrn; er ist hier Stammgast. Er hat ihn mir übergeben mit den Worten: ›Für eine ganz besondere Frau für einen ganz besonderen Moment‹. Nach den neuesten Erkenntnissen wirft es ein ganz anderes Licht auf seine Worte.« Nun hatten diese Gewicht. Damals hatte sie geglaubt, der Herr wollte mit ihr flirten. Sie war vollkommen aufgewühlt. »Wie komme ich denn dazu? Ich hatte ja nicht einmal Geburtstag!«

Er zog eine Braue hoch. »Jetzt fangen Sie bloß nicht an, sich verrückt oder kleinzumachen. Er hatte sicher einen guten Grund dafür, den Wein genau Ihnen zu schenken. Sonst hätte er es ja wohl nicht getan, oder?«

Sie nickte zur Ruhe gebracht. »Wissen Sie was, Gustav? Eigentlich haben Sie total recht!« Sie ahnte allerdings, dass sie noch einige Nächte brauchte, um über den Wert beziehungsweise den Verlust hinwegzukommen. »Es gibt nur ein Problem ...«

»Und das wäre?«

»Na ja, er war für einen besonderen Moment gedacht ...«

Nun erhob er sich auch vom Barhocker und nahm ein befülltes Weinglas auf. Er hielt es über die Theke zu Amalie hin, als würde er sich um einen Toast auf sie bemühen. »Dann machen wir eben diese Nacht zu einem besonderen Moment.« Dem zärtlichen Klang seiner Stimme folgte ein salbungsvoller Blick, der einmal mehr tief in ihren eindrang.

Sie war überzeugt, dass es schon lange einer war und hoffte, dass er es genauso empfand.

Ärger auf den ersten Blick

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