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Mittlerweile hatten sich Amalie und ihr nächtlicher Gast an einen der Tische gesetzt, hatten die Nacht zum Tag gemacht und durch die angeregte Unterhaltung überhaupt gar nicht wahrgenommen, wie schnell die Zeit vergangen war. Doch sie hatten auch lange mal geschwiegen und die Stille der Nacht und den besinnlichen Ausblick in die weiße, lichterfrohe Fußgängerzone genossen.

Dann hatten sie sich einmal mehr über Gustavs Beruf unterhalten, doch auch über das Café und das abgebrochene Studium zur Psychologin, was er natürlich ganz spannend fand, denn nachdem er sie kennen gelernt hatte, war er überzeugt davon, dass sie ihre Berufswahl nicht besser hätte treffen können.

Dann hatte auch er einen Schlag aus seiner Jugend erzählt, was hingegen Amalie sehr faszinierend fand, denn er war, wie er sagte, einst ein hässlicher, mit Pickel übersäter kleiner, dicker Junge gewesen, der seine erste Freundin erst mit neunzehn gehabt hatte.

»Ich habe Reaktionen wie die Ihre schon zuhauf erlebt. Aber ich hatte wirklich nur drei feste Freundinnen seither und noch nie einen One-Night-Stand!«

Amalie hatte an eine Masche gedacht. Vielleicht wollte er sie auf die Weise für sich gewinnen! Und doch wollte sie ihm glauben, seit er erzählt hatte, dass er sich zeitlebens nach Liebe sehnte.

Er konnte keinen Sex haben, wenn er nicht liebte. »Ich weiß nicht einmal, was ich mit einer Frau tun soll, für die ich keine Gefühle habe. Es gehört für mich mehr zum Sex, als sie zu rammeln und dann heimzugehen, auf eine Art, als wäre ich eben beim Imbiss gewesen, um Pommes zu kaufen.«

Er hatte ihr aus dem Herzen gesprochen. Das hatte dazu geführt, dass sie mehr von Pete erzählte; davon, dass er ihr erster und einziger Mann gewesen war. Danach hatte sie jedoch keine Zeit und Lust für einen festen Freund gehabt und war deshalb, ganz im Gegensatz zu Gustav, nicht abgeneigt gewesen, mit einem Mann zu schlafen, für den sie keine Gefühle hatte. Dieser Mann war allerdings kein klassischer One-Night-Stand gewesen, sondern eine halbjährige Affäre während ihrer Studienzeit, welche sie beendet hatte, als sie zurückging, um sich um das Café zu kümmern.

»Der Sex war so aufregend, dass ich es nicht schon vorher beenden konnte. Viel aufregender als der, den ich mit Pete hatte. Pete war einfach zu jung, um zu verstehen, was eine Frau will. Das habe ich aber erst erkannt, als ich diese Affäre hatte. Er war schon Mitte dreißig, müssen Sie wissen.«

Und seine (recht unerwartete) Reaktion darauf war gewesen: »Oh, ich bin auch schon Mitte dreißig!«

Das hatte sie sprachlos gemacht. Zum einen, weil er sehr viel jünger aussah, zum anderen, weil es in dieser Verbindung mehr einer Anspielung, als einer schlichten Information glich. Doch egal, wie es gemeint war: Das Kribbeln auf der Haut, von dem sie in der Sekunde, in der die Worte seinen Mund verlassen hatten, überwältigt worden war, hatte sie beinahe um den Verstand gebracht.

Dann hatte sie sich aus der Vorstellung, wie Gustav sich im Bett wohl anstellte, herausretten wollen, indem sie das Thema möglichst drastisch wechselte. So hatte sie von ihren Eltern und von Uropa Theo begonnen zu erzählen, die bei dem Autounfall ums Leben gekommen waren. Und sie hatte es in der Tat geschafft, das Knistern in der Luft in Nullkommanichts im Keim zu ersticken. Allerdings hatte Gustav so ausgesehen, als wäre es ihm ähnlich recht gekommen. Er war sogar zutiefst betroffen davon, dass Amalie ihre Eltern zu früh und auf so dramatische Weise verloren hatte. Er musste nach all ihren Ausführung leider feststellen, dass sie offenbar ein ganz einsames Leben führte. Es kam ihm vor, als ob Amalie nur für das Café und Oma Minna lebte.

Gegenwärtig stand Amalie hinter der Theke und stützte sich mit den Armen darauf ab, während sie darauf wartete, dass der Kaffee fertig wurde. Der Kaffeeduft erfüllte das ganze Café und gab ihr ein anheimelndes Gefühl. Sie sah hinaus, um das frühe Treiben in der Fußgängerzone zu beobachten. Die Bäckerei nebendran hatte gerade die Türen geöffnet, und die ersten Kunden ließen auch nicht lange auf sich warten.

Sie warf einen kurzen Blick auf die große Wanduhr rechts neben sich. Es war sechs Uhr. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie die ganze Nacht mit einem wildfremden Mann verbracht und derart persönliche Gespräche mit ihm geführt hatte. Bei diesem Gedanken musste sie schmunzeln, denn sie war sich sicher, dass er genau dasselbe dachte.

Nun fühlte sie sich jedoch völlig matt. Bis zur Hochzeit waren es noch sieben Stunden. Wenn sie gleich jetzt ins Bett ginge, würde sie zumindest einigermaßen ausgeruht dort auftauchen.

Plötzlich schlich sich Oma Minna durch die Hintertür ins Café. Als Amalie sie um die Ecke kommen sah, ergraute sie vor Schreck. Das Geräusch hatte sie zwar vernommen, hatte dennoch mit Gustav gerechnet, der nur mal schnell für kleine Jungs musste.

»Was in aller Welt machst du hier, Kind?« Sie hatte Amalie wecken wollen, doch hatte sie nicht in ihrem Bett auffinden können. Da blieb ihr nur noch die Möglichkeit, im Café nachzusehen.

»Ich habe das Café auf Vordermann gebracht, Omili.« Sie war etwas genervt, doch sie ließ es sich nicht anmerken.

»Ist das dein Ernst? Die ganze Nacht hindurch?«

»Du machst dir unnötig Sorgen!«

Oma Minna war klar, dass ihre Urenkelin derart übermüdet nicht auf die Hochzeit gehen konnte. »Aber Kind, was soll ich mit einer Begleiterin, die vor Erschöpfung zusammenbricht?«

»Ich lege mich ja gleich für ein paar Minuten aufs Ohr«, versuchte sie, die Oma zu besänftigen. »Willst du auch einen Kaffee?«

Oma Minna nickte und warf ihr ein dankbares Lächeln zu. Sie setzte sich an den nächsten Tisch. »Du bist so gut zu mir, Amalie. Dabei bist du noch so jung und könntest viel mehr mit deinem Leben anstellen. Stattdessen opferst du dich für so eine alte Frau wie mich auf.«

Genervt verdrehte Amalie die Augen. »Du weißt ganz genau, dass mir das alles hier Spaß macht. Ich tue das wirklich gern. Also fange nicht ständig mit diesem Thema an.« Sie griff zur Kaffeemilch und goss etwas davon in die Tasse.

»Was ist, wenn ich nicht mehr da bin, Kleines?«, sinnierte Oma Minna. »Bist du dann immer noch so motiviert?«

»Klar doch. Wozu hänge ich mich denn hier rein? Meinst du, ich tue das alles hier nur, um dich zufriedenzustellen?« Sie wollte verstehen, dass es für Oma Minna nicht selbstverständlich war, dass sie den Betrieb, den sie selbst einmal ins Leben gerufen hatte, weiterführte, wo sie doch ursprünglich einen ganz anderen Berufsweg gewählt hatte. Oma Minnas schlechtes Gewissen würde niemals enden und sie würde immer glauben, dass sie ihren Traum nur für das Café aufgeben musste. Amalie wusste, sie könnte ihre Uroma niemals davon überzeugen, dass sie das Café liebte, wie sie keine andere Aufgabe hätte lieben können.

Und wieder ging eine Tür. Oma Minna erstarrte und blickte zu Amalie, die gerade dabei war, eine zweite Tasse aus dem Regal zu nehmen. Sie goss den Kaffee behutsam in die Tassen. »Omili, das ist nur ...«

Gustav fiel ihr ungewollt ins Wort. »Guten Morgen.«

Mit den beiden Kaffeetassen in den Händen wandte sich Amalie um und blickte kurz zur Oma, um ihr zu signalisieren, dass alles in Ordnung war. Dann lief sie um die Theke herum und stellte die beiden Tassen auf dem Tisch ab, an dem Oma Minna schon Platz genommen hatte.

»Setzen Sie sich hierher«, wandte Amalie sich mit einem offenen Lächeln an Gustav.

»Das ist wirklich sehr nett.« Er setzte sich Oma Minna gegenüber. »Ich bin sozusagen ein Asylant. Ich heiße Gustav von Gröben« Er reichte ihr die Hand über den Tisch und erhob sich dabei leicht vom Stuhl.

Oma Minna nahm den Fremden skeptisch unter die Lupe, ungeachtet dessen, wie nervös sie ihn damit machte. »Kind, ich wusste gar nicht, dass du neuerdings einen Liebhaber hast. Und dann noch einen Herrn von und zu. Wieso erfahre ich erst jetzt davon?«

Gustav, der gerade dabei war, einen Schluck vom Kaffee zu nehmen, prustete diesen beinahe wieder aus.

»Aber Omili, das ist doch nicht mein Liebhaber!«, kicherte sie peinlich berührt. »Weißt du denn nicht, was ein Asylant ist?«

»Selbstverständlich weiß ich das«, fiedelte die Oma, »aber ich dachte, das wäre nur eure Art von Humor.«

»O nein«, setzte Gustav fix entgegen, um Amalie aus diese unangenehme Lage herauszuhelfen, obgleich er sich unwillkürlich an den knisternden Moment erinnern musste, »ich hatte gestern Nacht einen Autounfall und Ihre Enkelin war so gnädig, mir Unterschlupf zu gewähren.«

»Urenkelin«, korrigierte Oma Minna stolz. Sie betrachtete ihn nochmals eindringlich. »Dann sind Sie wohl der Knallkopf mit dem Schirm, oder irre ich mich da?«

»Also Omili, ich bitte dich!«, gab Amalie empört von sich.

Gustav hob die Hand, um sie zu beruhigen. »Nein, Ihre Oma hat ja recht. Was für ein Idiot muss man sein, einen Schirm bei einem solchen Sturm aufzuspannen?« Er grinste.

Das hätte Amalie zu gern miterlebt. »Wie dem auch sei, ich habe ihm das Hinterzimmer angeboten, weil es hier kein Gasthaus gibt.«

»Einem Fremden?« war die Oma völlig baff. »Seit wann ist das Minna ein Gasthaus?«

»Entschuldige mal bitte, aber ich konnte Herr von Gröben ja schlecht wie einen räudigen Köter vor die Türe treten. Er hätte doch da draußen nicht überlebt!« Amalies Stimme überschlug sich vor Empörung. Hätte ihre Uroma denn nicht ihre helfende Hand ausgestreckt?

»Aber er hätte doch genauso gut ein Mörder sein können!«, wandte Oma Minna ein.

Gustav wusste nicht, wie ihm geschah.

»Ich glaube, dass Herr von Gröben mitten in einem Schneesturm echt bessere Dinge zu tun hat, als irgendwelche Cafébetreiberinnen abzumurksen.«

»Nennen Sie mich bitte Gustav«, war er erstaunt, wie förmlich Amalie auf einmal wieder war.

Amalie sah ihn fragend an. »Ist das jetzt nicht etwas unpassend? Wir sehen uns doch eh nie wieder. Ist das dann so wichtig?«

Er war verwirrt. Sie ging nach dieser Nacht ernsthaft davon aus? Sie siezten sich zwar nach wie vor, doch er hatte eigentlich geglaubt, dass sich der Kontakt ausbauen ließ. »Ich dachte nur, Herr von Gröben hört sich aus Ihrem Mund so komisch an«

»Wie - komisch?«

»Na, so förmlich eben.« Er fühlte sich irgendwie deplatziert und konnte einfach nicht verstehen, wieso Amalie sich urplötzlich von ihm entfernte. Was war passiert, als er auf der Toilette war?

»Jetzt ist aber gut. Ihr macht mich ganz bekloppt!« Ihr war es zu viel. Sie war müde und bekam allmählich Kopfweh. »Ich gehe hoch!« Sie verschwand durch die Hintertür in die Wohnung. Gustav und die alte Dame schauten sich mit großen Augen an.

»Lässt Amalie uns jetzt wirklich allein?«, wisperte sie.

»Sieht ganz danach aus!«

»Aber das kann sie doch nicht machen! Ich weiß doch immer noch nicht, ob Sie ein Mörder sind!«

Er stöhnte und nippte an seiner Kaffeetasse.

Ärger auf den ersten Blick

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