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Jonah
ОглавлениеEs war weit nach Mitternacht, als ich völlig ausgebrannt und mit einem nicht endenden Rauschen in den Ohren in meiner Garderobe ankam und sich der tobende Applaus und das Kreischen der Fans draußen vor der Bühne langsam legte. Normalerweise hätte das Konzert längst zu Ende sein sollen, doch wie so oft hatten wir mit mehrstündiger Verspätung beginnen müssen und somit hatte sich alles weiter nach hinten gezogen. So weit nach hinten, dass es nun zu spät war. Es war zu spät für mich, zu Hause anzurufen und meinem kleinen Mädchen ein Gutenachtlied zu singen.
Vor dem Konzert hatte ich keine Zeit dazu gefunden, nun war sie bereits seit Stunden im Land der Träume und ihr Vater hatte sie wieder einmal eiskalt sitzen lassen. Gracey war das alles nicht bewusst, schließlich war sie gerade einmal ein Jahr alt und viel zu klein, um so etwas wie Gewohnheiten wahrzunehmen. Dennoch fühlte ich mich schlecht – wie jedes Mal, wenn ich ihr gegenüber mein Versprechen nicht halten konnte.
»Jonah, alles klar bei dir?« Beth, meine Managerin und mittlerweile gute Freundin, stand plötzlich in der Tür und musterte mich mit sorgenvollem Blick. Sie war eine der wenigen Personen, die von Gracey wussten. Meine Tochter war mein Heiligtum und mein teuerstes Gut. Ich schützte sie vor der Welt, vor allem aber vor der Presse, mit meinem eigenen Leben, so gut wie ich nur konnte. Denn mein Ruf als Musiker war nicht gerade der eines Schmusesängers. Die Medien kannten mich bereits seit Jahren als einen Draufgänger, als einen Typen, der sich um nichts und niemanden scherte, der genauso viele Frauen wie Kohle auf dem Konto besaß.
Dabei war das alles nichts als Schein und hatte nie der Wahrheit entsprochen. Doch als Rockstar nahm dich nun mal niemand ernst, wenn du nicht das verkörperst, was dem Klischee entsprach. Ich war weder Justin Bieber noch irgendein pubertierender Bubi einer schmierigen Boyband. Dennoch kannte mich das ganze Land und über zu wenig Ruhm und Aufmerksamkeit konnte ich mich nicht beschweren. Ganz im Gegenteil. Manchmal wünschte ich mir sogar mein altes Leben zurück …
»Der Tag war sehr lang«, wich ich Beths Frage aus, da ich sie nicht noch mehr beunruhigen wollte. Trotzdem schien sie mir meine Gedanken anzusehen. Dafür kannten wir uns einfach schon zu lange und waren zu oft gemeinsam auf Tour, als dass ich ihr in dieser Hinsicht etwas vormachen konnte.
»Jonah, ich muss dir etwas sagen«, begann Beth und bedachte mich mit einem Blick, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Meine Managerin betrat meine Garderobe und schloss die Tür hinter sich, was mich alarmiert von der Couch aufstehen ließ.
Irgendetwas war passiert. Ich wusste nicht, was es war und ob es etwas mit Gracey zu tun hatte, doch das konnte ich mir schwer vorstellen. Wenn es um meine Tochter gegangen wäre, hätte Beth mich sogar unter falschem Vorwand mitten im Konzert von der Bühne geholt, dessen war ich mir sicher.
»Was ist los?«, fragte ich nervös und schluckte schwer. Ging es um meine Mom? War sie etwa schon wieder im Krankenhaus? In letzter Zeit hatte sie immer wieder Probleme mit dem Magen. Vielleicht hatten die Ärzte endlich rausgefunden, was es war.
Beth seufzte tief und rang sichtlich nach Worten. »Als du auf der Bühne warst, habe ich einen Anruf für dich entgegengenommen.«
Mein Kiefer spannte sich automatisch an und ich ballte die Hände zu Fäusten. »Was für einen Anruf?« Es hätte schließlich alles und jeder sein können, doch so, wie mich meine Managerin und Freundin ansah, wusste ich: Die Nachricht, die sie am Telefon erhalten hatte, war alles andere als gut.
»Es geht um deinen besten Freund. Er …« Ben.
Ich erstarrte. Beth musste nicht weiterreden, denn ich wusste längst, was sie sagen wollte. »Wann?«, fragte ich nur, mehr wollte ich in diesem Augenblick nicht wissen. Mehr könnte ich nicht ertragen. Nicht jetzt.
»Heute Morgen schon. Seine Schwester hat sich geweigert, dich anzurufen, also hat mich die Klinik vorhin selbst kontaktiert.« Beth schien mit der Situation ebenso überfordert wie ich, daher trat sie von einem Fuß auf den anderen, unschlüssig, ob sie mich zum Trost umarmen sollte oder nicht.
»Danke«, sagte ich leise und bat sie damit wortlos, mich allein zu lassen.
Verstehend nickte die Blondine mitfühlend, tätschelte mir ein letztes Mal die Schulter und verschwand dann aus der Garderobe, die plötzlich viel zu schmal und winzig schien, als dass ich hier frei atmen könnte.
Eigentlich hatte ich gewusst, es würde eines Tages so kommen. Es war keine große Überraschung. Zwei ganze Jahre hatte ich Zeit gehabt, mich darauf vorzubereiten, dass es geschehen würde. Und doch fühlte ich mich in diesem Moment alles andere als erleichtert. Dabei sollte ich es sein. Ben hatte schrecklich gelitten, hatte schon lange kein normales Leben mehr führen können und fürchterliche Schmerzen aushalten müssen. Krebs war erbarmungslos. Und jetzt hatte er mir meinen besten Freund für immer genommen.
Benommen ließ ich mich zurück auf die Couch fallen und schloss meine Augen. Mein Kopf schien leer gefegt und gleichzeitig so voll wie schon lange nicht mehr. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich denken sollte. Ben war fort. Ben, der mein Leben lang wie ein Bruder für mich gewesen war. Ich hatte ihn endgültig an den Krebs verloren und nichts und niemand konnte das alles ungeschehen machen. Niemand konnte ihn mir wieder zurückbringen.
Unweigerlich durchkreuzten apfelgrüne Augen meine Gedanken, Augen, die mich seit vielen Jahren wie ein Geist überallhin verfolgten, die mich wie ein verdammter Fluch heimsuchten.
Annabelle. Bens kleine Schwester, sie war nun vollkommen allein. Nach ihren Eltern, die vor über sieben Jahren gegangen waren, hatte sie jetzt auch noch ihr großer und einziger Bruder verlassen. Ich hatte keine Ahnung, wie man so etwas überstand. Doch ich war sicher, sie war stark genug dafür. Das war sie schon immer, auch wenn es ihr nicht bewusst schien. Trotzdem kribbelte es in meinen Fingern, als ich daran dachte, wie es ihr in diesem Moment gehen musste.
Nervös griff ich zu meinem Handy und suchte in den Kontakten nach ihrer Nummer, von der ich nicht einmal wusste, ob es ihre aktuelle war. Ich hatte sie vor zwei Jahren von Ben erhalten, kurz nachdem wir erfahren hatten, dass er krank war. Für alle Fälle, hatte er noch zu mir gesagt, als er mir Annies Nummer ins Handy tippte. Dabei wusste er genau, dass ich seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner kleinen Schwester hatte. Aus gutem Grund. Doch diesen wussten weder Ben noch Annabelle selbst.
Dennoch wollte ich in diesem Augenblick dem Drang nachgeben, sie einfach anzurufen. Nur um einmal kurz ihre Stimme zu hören und mich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Obwohl Beth sagte, dass es ausgerechnet Annie gewesen war, die sich nach Bens Tod geweigert hatte, mir Bescheid zu geben, war ich ihr deswegen nicht böse. Wie könnte ich? Sie war nach wie vor wütend auf mich und ich konnte es verstehen. Schließlich hatte ich ihr bis heute keine Erklärung für meinen Kontaktabbruch liefern können. Oder wollen. Dass ich dann weiterhin mit Ben befreundet blieb, als wäre nichts gewesen, sie aber mied, war schlicht unverzeihlich. Ich war nicht blöd, ich verstand das sehr wohl. Und doch musste es so sein …
Seufzend öffnete ich meine Augen und starrte unentschlossen zur Uhr an der Wand. Es war fast tiefste Nacht und doch wusste ich genau, Annabelle war in diesem Moment genauso wach wie ich. Unsagbar müde und dennoch wach.
Mein Daumen glitt wie ferngesteuert über das Display meines Smartphones und wählte ihre Nummer. Es tutete ein paarmal und mein Herz stand für einige Sekunden still. Zumindest fühlte es sich so an, als ich nach einer halben Ewigkeit plötzlich eine leise Stimme am anderen Ende der Leitung hörte und mein gesamter Körper sich automatisch anspannte.
»Hallo?« Sie war es. Sie war es eindeutig und ohne jeden Zweifel. Es war Annabelle. Doch ihre Stimme jagte mir eine Heidenangst ein. Denn sie klang schrecklich leer. Vor allem aber zerbrechlich. Als würde sie jede Sekunde von innen zerrissen werden. »Wer ist da?«, fragte sie hauchend und ich hörte unweigerlich auf zu atmen. Noch immer hatte ich nichts gesagt. Und dass sie fragen musste, zeigte, dass Ben ihr meine Nummer offenbar nicht gegeben hatte. Oder aber sie hatte sie sofort wieder aus ihren Kontakten gelöscht, was verständlich gewesen wäre.
Ich schluckte schwer. »Annie?« Am anderen Ende der Leitung war es plötzlich totenstill. Kurz prüfte ich, ob sie einfach aufgelegt hatte, doch mein Handy zeigte mir weiterhin eine bestehende Verbindung an, also fuhr ich mir verzweifelt durch die Haare und seufzte tief. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht.« Stille. Kein Geräusch, nicht mal ein Mucks war aus dem Hintergrund zu hören. »Geht es dir denn gut?«, fragte ich und hoffte, irgendwas von ihr zu hören. Egal was. Und wenn es nur ein Fluchen war. Doch alles, was ich wahrnahm, war ein leises und tiefes Ausatmen. Immerhin. »Annabelle? Sag bitte etwas, damit ich weiß, dass es dir gut geht.« Ein verächtliches Schnauben. »Annie!«
Lautes Tuten ertönte. Fluchend warf ich das Handy gegen die Wand, wo es allerdings nicht einmal zerschellte. Stattdessen fiel es mit einem unüberhörbaren Knall zu Boden und ließ mich unbefriedigt zurück.
Sie hatte aufgelegt. Einfach so und ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Dabei machte ich mir doch nur Sorgen, verdammt noch mal. Sie klang so fürchterlich fertig, als sie abnahm, ohne zu wissen, dass ausgerechnet ich sie so spät noch anrief. Sie klang nicht gut, nicht so, wie ich es in Erinnerung hatte. Und scheiße noch mal, das machte mir Angst.
Ich hatte sie so lange nicht mehr gesehen, viele Jahre schon. Nur von Ben wusste ich überhaupt, wo sie lebte oder was sie dort so trieb. Nur durch ihn wusste ich, dass sie ihren Traum, einmal Medizin zu studieren, schon lange aufgegeben hatte. Wusste der Geier, wieso. Selbst ihr Bruder verstand es nicht und konnte sie nicht zur Vernunft rufen. Jetzt war sie auch noch vollkommen allein. Keine Familie, die ihr auf ihrem Weg folgte oder sie von Dummheiten abhielt. Annie war nun auf sich allein gestellt und musste selbst entscheiden. Und ich war mir nicht sicher, ob sie dafür bereit war. Nicht, nachdem ich sie eben gehört hatte. Auch wenn es nur sehr wenige Worte gewesen waren, sie hatten genügt, um mir Angst einzujagen und all meine Entscheidungen, die ich einst aus Überzeugung darüber, das Richtige zu tun, getroffen hatte, infrage zu stellen.
Sieben Jahre zuvor
Es war eine klare Sommernacht und die Sterne tanzten funkelnd über unseren Köpfen, als Ben, Annie und ich zum vermutlich letzten Mal gemeinsam auf unserem Baum saßen und hinauf in den Himmel starrten, als wäre er magisch und könnte die Zeit einfach anhalten.
In wenigen Tagen würden mein bester Freund und seine Schwester zu ihrer Tante nach Greenfield ziehen, hunderte Meilen von hier entfernt, und ich würde sie vielleicht nie wieder sehen. Unvorstellbar für uns alle. Erst vor wenigen Wochen hatten Ben und ich unseren Highschool-Abschluss auf der Jefferson gemacht, nur wenige Monate nachdem Bens und Annies Eltern bei einem beschissenen Autounfall ums Leben gekommen waren. Sie konnten nicht einmal auf seiner Abschlussfeier dabei sein, konnten ihn nicht jubeln sehen und würden auch nicht mehr mitbekommen, wie er im Herbst nach Montana aufs College ging, so wie er sich das immer erträumt hatte.
Nachdenklich warf ich meinem Kumpel einen kurzen Blick über die Schulter zu. Ich war stolz auf ihn und darauf, dass er das alles trotz der schweren Zeit schaffte. Er bewältigte nicht nur sein eigenes Leben, er passte dabei auch noch auf Annie auf. Dabei war er selbst gerade einmal neunzehn und hatte kaum einen Plan vom wahren Leben, geschweige denn vom Erwachsenwerden.
Es fiel mir schwer, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass es für Ben und Annabelle besser war, von hier wegzugehen. Zwar wusste ich und verstand auch, warum das so war, doch ich wollte es nicht wahrhaben. Schließlich mochte ich keinen von beiden verlieren.
Ben war wie ein Bruder für mich, seitdem wir uns im Alter von zwei Jahren im Sandkasten einen Sandkuchen geteilt hatten. Wir waren schon immer unzertrennlich, auch wenn wir noch so verschieden waren. Und mit Annie war es genauso. Sie war so etwas wie meine kleine Schwester. Zumindest war sie das früher einmal für mich gewesen …
Mein Blick wanderte ganz automatisch vom sternenbedeckten Himmel zu dem Mädchen neben mir, das mit sichtlich traurigen Augen nachdenklich nach oben starrte. Woran sie wohl gerade dachte? Obwohl sie ganze drei Jahre jünger als Ben und ich war, hatte ich oftmals das Gefühl, sie wäre weitaus reifer und erwachsener als wir zwei Kerle zusammen. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb sie mit dem Tod ihrer Eltern wesentlich schlechter zurechtkam als Ben.
Ich wünschte, ich könnte ihr auch nur ansatzweise ein wenig der Trauer nehmen, die sie noch immer verspürte. Doch ich wusste, ich war der Falsche für so etwas. Ich war der Idiot, der Witze riss, wenn ich überfordert war. Und ich war auch der Idiot, der alles ins Lächerliche zog, wenn ich nicht wusste, was ich sagen oder wie ich reagieren sollte. Ich konnte nur selten ernst bleiben. Schon gar nicht, wenn es um solche Themen ging.
Ben wusste das und deswegen hatte es ihn nie gestört, dass ich ihn nach dem Tod seiner Eltern nicht einmal darauf ansprach. Ich hatte ihn lediglich am Tag danach in den Arm genommen, hatte ihn still und kommentarlos weinen lassen und weder er noch ich verloren danach auch nur ein Wort darüber. Für uns beide war das in Ordnung so. Doch bei Annie war es etwas anderes.
Ich wusste bis heute nicht, wie ich mit ihr umgehen sollte, seitdem das alles passiert war. Früher hatte ich sie ständig in den Arm genommen, wir waren uns häufig sehr nah gewesen und keiner von uns beiden fand es auch nur im Geringsten seltsam oder unpassend.
Das hatte sich allerdings geändert. Nicht zuletzt wegen eines ganz bestimmten Vorfalls vor wenigen Tagen. Seitdem schien alles anders – zumindest zwischen ihr und mir. Ben wusste nichts von all dem und bemerkte die Veränderung gar nicht, wofür ich ehrlicherweise dankbar war. Auf seine Fragen, die er stellen würde, hatte ich nämlich keinerlei Antworten.
Als spürte sie meinen Blick auf sich brennen, wandte Annie mir plötzlich ihr Gesicht zu und schaute mich aus ihren unverkennbar apfelgrünen Augen an. In diesem Moment erkannte ich wieder einmal, es gab doch eine Antwort auf das alles. Doch diese würde weder Ben noch mir gefallen. Vor allem aber würde sie keinem von uns guttun. Annabelle am allerwenigsten …