Читать книгу Koalaträume - Katja Brandis - Страница 6
ОглавлениеROADKILL
Ich kann nicht behaupten, dass ich schon immer nach Australien wollte. Einfach deshalb, weil ich nie auf die Idee gekommen wäre, dass so etwas überhaupt klappen könnte. Schließlich war klar, dass ich so viel Kohle im Leben nicht zusammenbringen würde. Da konnte man ja gleich davon träumen, nach Hollywood zu ziehen und sich um den Privatzoo eines Stars zu kümmern.
Und doch saß ich jetzt in einem Flugzeug, eingepfercht zwischen ein paar Hundert anderen Leuten, und starrte auf den Bildschirm mit unserer Route. Schon über Indonesien. Bald da. Australien! Endlose goldene Strände, rote Wüsten, tropische Regenwälder! Seltsame Beuteltiere, Eier legende Säugetiere, Schwärme von wilden Wellensittichen, gigantische Krokodile!
Konnte das sein, war ich wirklich fast dort? Meine Kollegen aus dem Tierpark Hellabrunn in München stapften im Schneematsch herum und ich war auf dem Weg nach Queensland. Allein der Name war wunderbar. Queensland, Land der Königin.
Aber die letzten Stunden im Flugzeug würden hart werden. Ich wusste längst nicht mehr, wie ich sitzen sollte, hatte sämtliche Bücher in meinem Rucksack ausgelesen und keine Lust mehr, irgendwelche Filme im Bordkino zu schauen. Und noch viel schlimmer, auf der anderen Seite des Ganges saß Lars.
»Na? Denkst du darüber nach, ob du all das überhaupt verdient hast?« fragte er, als er sah, dass ich mal wieder einen Blick in den Reiseführer warf.
Fassungslos blickte ich ihn an. Hatte er überhaupt kein Schuldbewusstsein? Wenn ich daran dachte, was mein Azubi-Kollege getan hatte, um in diesem Flugzeug zu sitzen, stieg in mir wieder einmal die Wut hoch. Vier Wochen lang musste ich mit ihm auskommen, denn dieser Wildpark in Queensland war vermutlich zu klein, um sich aus dem Weg zu gehen! Meine Freude versickerte.
»Weißt du, was, Lars?«, sagte ich zu ihm. »Du kannst mich mal.«
Er zuckte die Schultern.
Um mich abzulenken, zog ich mein Handy heraus, schaltete es heimlich einen Moment lang ein und las die Nachrichten, die ich zum Abschied bekommen hatte – eine von Lia und eine von Sarah. Keine von Gideon. Natürlich nicht.
Einen Moment lang überkam mich wieder die Sehnsucht, eine fiese, schmerzende Sehnsucht, über die ich doch eigentlich längst hinweg sein sollte. Was Gideon wohl gerade machte? Dachte er manchmal an mich? Nein, unter Garantie nicht, das mit uns war ein halbes Jahr her.
Eigentlich willst du den arroganten Mistkerl doch gar nicht zurück, versuchte ich, mir einzureden. Denk doch mal an seine letzte E-Mail!
Ja, diese Mail. Gideon hatte ganz genau begründet, warum er sich nicht mehr mit mir treffen wollte, mich in geschliffenem Deutsch seziert wie einen Frosch im Biounterricht. An ein paar Sätze erinnerte ich mich noch wortwörtlich. »Du versuchst, mit frechen Sprüchen zu kompensieren, dass du zutiefst unsicher bist, und das finde ich auf Dauer unangenehm.«
Nein, so was brauchte ich nicht mehr. Mein Herz – jedenfalls das, was davon übrig war – gehörte wieder mir! Bald war ich weit, weit weg von Gideon. Ein paar Tausend Kilometer weit, auf der anderen Seite der Erde.
Irgendwie schaffte ich es einzuschlafen und als ich schließlich die Augen öffnete, waren wir tatsächlich da.
Während des ganzen Landeanflugs klebte ich mit der Nase an der Scheibe des Flugzeugfensters. Über uns ein blauer Himmel, unter uns ein schimmerndes Meer. Grüngraue Büsche und Bäume, dazwischen überall flache Häuser … eine weiße Brücke führte über einen Meeresarm … in der Ferne konnte ich ein paar Hochhäuser erkennen … O mein Gott, wir waren in Australien!
In Brisbane war es neun Uhr morgens. Lars und ich waren seit vierundzwanzig Stunden unterwegs und nur noch zwei Zombies, die ganz entfernt wie Menschen wirkten. Eine freundliche Einwanderungsbeamtin nebelte uns und alle anderen Passagiere mit einem Spray ein, das der Ankündigung nach alles tötete, was mehr als vier Beine hatte und zufällig aus Europa mitgereist war. Dann ging’s ab durch den Zoll, wo ein vierbeiniger Einwanderungsbeamter vorwurfsvoll an Lars’ Gepäck schnüffelte und Lars freundlich aufgefordert wurde, das, was dadrin war, sofort herauszurücken. Eingeschüchtert brachte Lars eine ungarische Salami zum Vorschein, die sofort in den Mülleimer wanderte. Ich beobachtete ihn schadenfroh, war allerdings als Nächste dran, weil aus meinem Rucksack ein Apfel zum Vorschein kam, den ich völlig vergessen hatte.
»Und wie erkennen wir diesen Kerl, der uns abholen soll?«, fragte Lars mit Panik in den Augen, als wir mit unseren Koffern Richtung Ausgang wankten. Am liebsten wäre er vier Stunden vor Abflug am Flughafen gewesen und seither hatte er es geschafft, sich wegen alles und jedem Sorgen zu machen.
»Schaun wir mal«, sagte ich und zuckte die Schultern.
Es war nicht zu übersehen, wer von den wartenden Leuten uns abholen sollte: Draußen stand ein etwa dreißigjähriger Mann mit einer kleinen Wampe, widerspenstigem blonden Haar und blauem Rucksack. Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Wildlife Park The Ark – Cooroy« und zur Sicherheit hielt er ein Schild hoch, auf dem »Lars« und »Juliane« stand. Ich musste denen möglichst schnell beibringen, mich Juli zu nennen, sonst kamen sie auf Ju, und das wäre eine Katastrophe. Das war Gideons Name für mich gewesen.
»Welcome to Oz, Juliane and Lars«, sagte der Typ, als er uns erspäht hatte, und grinste breit. Ich mochte ihn sofort. Er hatte freundliche Augen und eine Lücke zwischen den Vorderzähnen, die ihn ein bisschen wie einen Erstklässler aussehen ließ.
Ich nutzte die erste Gelegenheit, die sich mir bot, und sagte: »Just call me Juli.«
Er betrachtete mich kurz und nickte. »Juli, alright. And my name is Rusty Alison. Crikey, you guys look like something the cat dragged in!«
Soweit ich das übersetzen konnte, sahen wir aus wie etwas, das die Katze reingeschleppt hatte. Zum Beispiel eine halb tote Maus. Ja, so fühlte ich mich tatsächlich.
In einem spiegelnden Schaufenster erhaschte ich einen Blick auf uns drei: Rusty, kräftig und munter, Lars, blond und schlaksig, und das Mädchen neben ihnen … kurze kastanienbraune Haare, abgewetzte Jeans, ein Gesicht, das eigentlich ganz hübsch war, gerade, aber eckig aussah wie das einer schlecht gezeichneten Mangafigur. Tiefe Schatten unter den blauen Augen. Augen, die trotz der Müdigkeit herausfordernd blickten.
Zum Glück war ich angehende Tierpflegerin und kein Model. Sonst hätte der Fotograf erst mal eine Tonne Make-up gebraucht, um mich für die Session herzurichten.
»Was ist Oz? Ich dachte, das ist ein Zauberland?«, fragte ich Rusty, während wir uns auf dem Weg zum Parkplatz machten. Ich erinnerte mich dunkel an ein Kinderbuch, das Der Zauberer von Oz hieß.
Rusty Allison lachte. »So nennen wir Australia. Kannst aber auch Down Under sagen. Unten im Nirgendwo.« Er sprach sein Land Austraaaaia aus und ließ dabei das »l« ganz aus. Es war nicht ganz leicht, seinen breiten Akzent zu verstehen.
Ich eroberte den Beifahrersitz seines mintgrünen Ford Mustang, den ein Aufkleber mit der Aufschrift »DILLIGAF« zierte. Keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Ganz für mich hatte ich den Beifahrersitz nicht, denn im Fußraum brachte Rusty vorsichtig seinen Rucksack unter. Dennoch reichte der Platz für meine Beine vollkommen aus.
Ich hatte erwartet, dass es im Auto nach Tieren riechen würde, doch stattdessen duftete es nach Apfelkuchen. Das lag,wie sich herausstellte, an dem frischen Apple Pie, den Rusty zu unseren Ehren gebacken hatte, er thronte auf der hinteren Ablage. Ich war gerührt. Bis ich die Schoko-Aufschrift sah: »WELCOME KRAUTS !«
»Was sind Krauts?«
»Ach, das ist ein liebevoller Spitzname für Deutsche«, sagte Rusty. »Manche Leute hier denken immer noch, dass ihr den ganzen Tag über Sauerkraut esst.«
»Ich hasse Sauerkraut!«,brummte Lars.
»Hab mir gleich gedacht, dass ihr Apfelkuchen lieber mögt. Schlau von mir,was?«
»Sehr schlau«, sagte ich und musste lächeln.
In der ersten Viertelstunde glotzten Lars und ich aufgeregt die Gegend an. Dann wurden meine Augenlider so schwer, dass ich einen Spezialkran gebraucht hätte, um sie wieder hochzuziehen.
Ich versuchte, meinen Kopf auf der Lehne abzulegen, fand einen halbwegs bequemen Platz dafür und wachte erst wieder auf, als ich nach vorne geschleudert wurde. Rusty hatte gebremst, und zwar ziemlich hart. »Uff, zum Glück habe ich den Apfelkuchen aufgefangen«, stöhnte Lars. Verwirrt blinzelte ich ins grelle Sonnenlicht und hörte die Fahrertür knallen.
»Was macht er? Sind wir da?« Es sah eigentlich nicht so aus, anscheinend hatten wir lediglich am Straßenrand gehalten.
»Keine Ahnung«, sagte Lars. »Vielleicht muss er pinkeln.«
Doch unser neuer Kollege beugte sich über etwas, das auf dem Boden lag. Dann schleifte er dieses Etwas ins Gebüsch. Gerade wollte ich meinen Sicherheitsgurt lösen und ebenfalls aussteigen, als Rusty sich wieder auf den Fahrersitz schob. »Leider keine Überlebenden diesmal.«
»Überlebenden?« Auf einen Schlag war ich hellwach.
»Auf den Landstraßen werden ziemlich viele Kängurus und andere Tiere platt gefahren«, erklärte er. »Besonders nachts, weil sich Kängurus durch Licht – also auch durch Autoscheinwerfer – angezogen fühlen. Und wenn’s dunkel ist, kommen Koalas manchmal auf die Idee, sie müssten unbedingt auf einen Baum an der anderen Straßenseite klettern.«
»Äh, ja, aber warum Überlebende? Es ist doch ziemlich eindeutig, dass ein Tier tot ist, wenn es platt ist, oder?«, fragte Lars in seinem bayerischen Englisch.
»Ja, klar, aber nur weil die Mama tot ist, heißt es nicht, dass es das Kleine erwischt hat. Du weißt ja, ’ne Menge der Säugetiere hier sind Beuteltiere.«
Aha, allmählich dämmerte mir was!
»Tja, und im Beutel kann das Joey, wie man so ein Kleines nennt, eine ganze Weile überleben. Deshalb halte ich immer an und überprüfe den Beutel, wenn’s ’n Weibchen ist.«
Und Rusty sagte das nicht nur, er meinte es auch. Fünfzehn Minuten später kamen wir erneut an einem Roadkill vorbei und wieder quietschten die Bremsen. Diesmal stiegen wir alle aus. Der allererste Koala, den ich in Australien sah, war leider mausetot. Noch nicht lange, wie es aussah. Fliegen umschwirrten ihn. Ich ging neben ihm in die Hocke, strich traurig über sein silbergraues Fell und sah dann zu, wie Rusty sich Gummihandschuhe anzog und ihn vorsichtig umdrehte. Es war ein Männchen. Rusty trug den Kadaver von der Fahrbahn weg und ins Unterholz. »Sonst werden Fleischfresser zur Straße gelockt und ebenfalls überfahren.«
Wir zwängten uns wieder ins Auto, in dem es durch die Klimaanlage schön kühl war, und weiter ging’s nach Norden. Durch kleine Orte, vorbei an Läden und von großen Rasenflächen eingerahmten, flachen Einfamilienhäusern, Farmen und kleinen Unternehmen, dann wieder meilenweit Buschland und Bäume mit heller Rinde, wahrscheinlich Eukalyptus.
Wir kamen durch ein herrlich schattiges Waldgebiet; überall mahnten Straßenschilder, auf Koalas Rücksicht zu nehmen. Zum Glück schien jedoch keiner von ihnen seinem Schicksal begegnet zu sein und erst eine halbe Stunde später war es wieder Zeit für einen Beutel-Check am Straßenrand, diesmal bei einem toten Känguru. Es war mittelgroß und hatte ein rötlich graues Fell, schwarze Pfotenspitzen und einen hübsch rötlich braun, schwarz und weiß gezeichneten Kopf.
»Macropus rufogriseus«, sagte Rusty.
»Ein Rotnackenwallaby«, ergänzte Lars und Rusty nickte anerkennend. Manchmal hatte ich das Gefühl, Lars trüge eine halbe Tier-Enzyklopädie im Kopf mit sich herum. Immerhin hatte auch ich gewusst, dass ein Wallaby so eine Art Zwergkänguru war, das in bewaldeten Gebieten lebte.
»Sie sind recht häufig in dieser Gegend, leiden aber darunter, dass die Menschen die Küstenwälder abholzen und immer mehr Häuser bauen…«, sagte Rusty.
In diesem Moment sah ich, dass sich im Beutel etwas bewegte. »Hey, schaut mal!«
»Bingo, ein lebendes Waisenkind«, sagte Rusty und zog das Joey ganz vorsichtig aus dem Beutel. Es hatte riesige Ohren, erschrockene schwarze Knopfaugen und eine ganz dünne, von einem samtfeinen braunen Fell überzogene Haut. Am Bauch schimmerte die Haut rosig durch. »Hm, der ist fast ein Kilo schwer und sieht nicht verletzt aus, vielleicht kriegen wir ihn durch. Juli, hol mir mal eine der gepolsterten Taschen aus dem Kofferraum.«
Ich hastete los. Der Kofferraum war voller Ausrüstung und ich wühlte mich durch Seile, Netze und zusammengeklappte Kunststoffkisten, bis ich eine Reihe von gesteppten Beuteln in unterschiedlichen Größen fand. Einen davon brachte ich Rusty und während ich den Beutel aufhielt, packte er das junge Wallaby vorsichtig hinein und schloss die Öffnung darüber.
»Solange er im dunklen Beutel ist, fühlt er sich geborgen«, meinte er. »So, jetzt nichts wie heim. Und bitte leise reden, wilde Kängurus und Wallabys sind sehr stressanfällig und hassen es, wenn Leute laut reden oder hektisch herumhampeln.«
Also unterließen wir beides und mit einem Handgriff brachte Rusty das Autoradio zum Schweigen. Wir unterhielten uns im Flüsterton, bis unser neuer Kollege schließlich verkündete: »So, wir sind in Cooroy.«
Dieses unglaubliche australische Licht, klar und golden. Wahrscheinlich sah dadurch alles doppelt so schön aus. Rechts und links der Straße überall Rasenflächen, hier und da ein Haus darauf, das sich in den Schatten von Eukalyptusbäumen schmiegte. Es gab keine Hecken, keine Mauern, keine Zäune, niemand verschanzte sich so wie in Deutschland.
Wir fuhren durch die Ortsmitte, ein paar kleine Läden, ein Handwerkergeschäft, ein Obstladen, ein Eiscafé, eine Bank, alles sah so gemütlich aus. Nirgendwo Ampeln, nur ein Kreisel nach dem anderen. Und das alles unter einem azurblauen Himmel. Der warme Wind, der durch das halb offene Fenster hineindrang, verwuschelte meine Haare. Auf der Karte hatte ich gesehen, dass die Küste kaum eine halbe Stunde entfernt war. Konnten wir vielleicht nach Feierabend an den Strand fahren? Das hier war ganz eindeutig das Paradies!
Irgendetwas bewegte sich an meinem Bein. Ich schrak hoch und stellte fest, dass in Rustys Rucksack etwas gezappelt hatte. »Das ist Arnold«, bemerkte Rusty. »Ein Östliches Graues Riesenkänguru. Ich bin seit ein paar Monaten seine Mama. Für ihn ist ganz klar, dass ich ihn überallhin mitnehme – so wie eine echte Kängurumutter.« Er seufzte. »Neulich, als wir ins Kino wollten, haben sie leider meinen Rucksack kontrolliert.«
»Und?«, fragte ich gespannt. »Haben sie dich trotzdem reingelassen?«
Rusty verzog das Gesicht. »Nee. Wär wohl besser gewesen, ich hätte für Arnold ’ne Eintrittskarte mitgekauft und basta.«
Ein Stück außerhalb des Orts bog Rusty in eine Einfahrt ab, die Räder knirschten auf hellem sandigem Boden. »Wildlife Park The Ark« verkündete ein Schild. Jemand reimte hier gerne. Aber ich konnte mir mehrere Gründe vorstellen, wieso man den Wildpark so genannt hatte. Zoos waren mir immer wie die Arche Noah vorgekommen, sie bewahrten die Tierwelt, die belagert von Milliarden von Menschen kein leichtes Überleben hatte.
Zwei braun gestrichene Häuser mit blauen Fensterrahmen; das eine hatte nach hinten, zum Garten hin, eine Veranda. Neugierig schauten Lars und ich in Richtung der Gehege, die wir schon vom Parkplatz aus erkennen konnten. He, da drüben waren Emus! Australische Laufvögel mit dickem braungrauem Gefieder, fast so groß wie Strauße.
Aber noch war nicht die rechte Zeit dafür, sie kennenzulernen. Rusty hob den Beutel mit unserem Schützling vorsichtig aus dem Auto, schulterte den Rucksack mit Arnold und ging voran in eins der Häuser. Im Inneren war es dämmrig, aber genauso warm wie draußen – inzwischen bestimmt dreißig Grad im Schatten. Lars trug den Apfelkuchen.
Rusty nahm sich ein Funkgerät aus einer Halterung. »Chaz? Wir brauchen dich, hab ’n Joey für dich.«
Keine Minute später war Chaz zur Stelle. Er hatte ein gutmütiges Gesicht, strahlend blaue Augen und unglaublich breite Schultern – genau der Mann, den man an seiner Seite haben möchte, wenn es darum geht, ein Lama einzufangen oder eine betäubte Raubkatze auf den Operationstisch zu heben. Außer »Hallo« sagte er nicht viel, das Reden schien er lieber seinem Kumpel zu überlassen.
»Wir könnten das Wallaby Jula nennen, nach den Anfangsbuchstaben von Juli und Lars«, schlug Rusty munter vor. Chaz nickte stumm und Lars und ich taten beide so, als fänden wir diesen Vorschlag nicht grauenhaft, sondern toll. Immerhin, es gab schlimmere Namen für ein Wallaby.
Nachdem Chaz das Kleine in der Aufzuchtstation untergebracht hatte, machten wir es uns auf der Veranda gemütlich und zückten die Kuchengabeln. Zum Schluss war von dem »Welcome Krauts« bloß noch ein »Kra« übrig. Rusty tätschelte sich zufrieden seufzend den Magen und stand auf. »Ich hab ’n bisschen Büroarbeit zu erledigen. Wie wär’s, wenn ihr euch selber etwas im Wildpark umschaut? Noah und Caroline – die Chefs – sind im Augenblick nicht da, bestimmt führen sie euch später herum.«
Er verschwand mitsamt Rucksack im Büro. Lars räumte die Teller zusammen und ging die Küche suchen. Es gab nichts weiter zu helfen, deshalb machte ich mich auf den Weg zu den Gehegen. Ich war gespannt auf die Tiere, die ich in den nächsten Wochen betreuen würde. Doch zuerst kam ich am Parkplatz vorbei und mein Blick fiel wieder auf Rustys mintgrüne Karre. »Wofür steht eigentlich DILLIGAF?«, rief ich zu Chaz hinüber.
»Do I look like I give a fuck!«, dröhnte Chaz zurück, winkte und verschwand.
Ähm, ja.
Ein paar Minuten später fand ich das Gehege der Koalas, einen kleinen Eukalyptuswald, in dem in ein paar Astgabeln graue Fellbälle schliefen. Sie zu beobachten, war nicht wirklich packend und so schlenderte ich nach ein paar Minuten weiter, um mich mit dem Rest von The Ark bekannt zu machen. Lars war nirgendwo in Sicht.
Zur Sicherheit hatte ich mich mit Dreißiger-Sonnencreme eingeschmiert, und das war nötig, die Sonne knallte gnadenlos auf meinen Kopf. Ich hätte mich so gerne auf den schattigen Rasen neben diesem Drahtzaun gelegt, keine Ahnung, was in diesem Gehege für ein Tier drin war, ich sah jedenfalls keines…
Plötzlich lehnte jemand neben mir, ein junger Mann; er stützte die Unterarme auf die Umrandung und schaute ebenfalls ins Gehege. Ich schrak zusammen; ich hatte ihn nicht kommen hören. Unauffällig betrachtete ich ihn von der Seite. Er war ein Stück größer als ich, hatte die sehnige Statur eines Langstreckenläufers und kurze nachtschwarze Haare. Die Farbe seiner Haut war dunkler als meine. Ich schätzte, dass er etwa fünf Jahre älter war als ich, also Anfang zwanzig. War er ein Tourist, der sich den Wildlife Park anschaute, oder ein Tierpfleger? Er trug kein T-Shirt mit Wildparklogo, sondern ein kakifarbenes Hemd mit hochgerollten Ärmeln und Jeans. Aber seine Schuhe waren die in Zoos üblichen Stiefel mit Stahlkappen, die verhindern sollten, dass uns ein Huftier die Zehen brach, wenn es uns auf den Fuß trat.
Er wandte den Kopf und sah mich an. Seine Augen waren von einem warmen Braun.
»Hi«, sagte er. »Wenn du willst, kannst du mir mit George helfen.« Er deutete mit dem Kinn auf einen kleinen Teich mitten im Gehege. »Ich gehe sein Futter holen, bin gleich wieder da. Kannst hier warten oder schon mal zu ihm reingehen. Er ist ziemlich schüchtern.«
Aha, einer der Pfleger – und anscheinend wusste er bereits, dass ich eine neue Kollegin war. Etwas überrumpelt nickte ich und der junge Mann stieß sich von der Umrandung ab und ging davon. Ich spähte in das Gehege hinein und ahnte, wer George war und dass er seinen Körper im schlammigen Wasser des Teichs verbarg. Wollte ich das wirklich, zu einem Krokodil hinein, nicht einmal mit einem Stock bewaffnet, um es im Notfall abwehren zu können? In Deutschland durften wir Azubis nicht mit den gefährlichen Tieren wie Krokodilen oder Raubkatzen arbeiten. Wer sich dafür interessierte, musste bis nach der Lehre warten. Aber in Australien war anscheinend vieles anders…
Ach, komm schon, sagte ich mir. Er hat gesagt, George sei schüchtern.
Ich wusste, dass es zwei verschiedene Krokodilarten in Australien gibt – einmal die großen »Salties«, die Salzwasserkrokodile, die hin und wieder in die Schlagzeilen kamen, weil ein Mensch auf ihren Speisezettel geraten war. Und andererseits die »Freshies« genannten Süßwasserkrokodile, die sich mit Fischen begnügten. Vermutlich war George ein Freshie und es war keine große Sache, ihm Gesellschaft zu leisten.
Um ehrlich zu sein, ich wollte nicht, dass dieser gut aussehende Typ mich für ein Weichei hielt. Wenn ich mir gleich am ersten Tag den Ruf einhandelte, ein zartbesaitetes Mädchen zu sein, würde ich das vermutlich den Rest der Zeit nicht mehr loswerden. Also begann ich etwas nervös, um das Gehege herumzugehen. Doch das Problem war, dass ich nicht mal den Eingang fand. Schließlich hatte ich das Ding einmal umrundet und ihn trotzdem nicht entdeckt. Wahrscheinlich sah das reichlich dämlich aus. Er würde denken, dass es eine superblöde Ausrede war, um zu begründen, warum ich noch nicht begonnen hatte, mich mit George anzufreunden! Inzwischen hatten sich ein paar Besucher eingefunden, um sich die Kroko-Fütterung anzuschauen; zahlreiche Augenpaare folgten jeder meiner Bewegungen, und das machte mich noch nervöser.
»So, hier bin ich wieder«, sagte der junge Mann und ich zuckte erneut zusammen. Diesmal hatte er einen Eimer dabei, aus dem Fischflossen hervorschauten.
»Äh, eigentlich wollte ich rein, aber ich habe den Eingang nicht gefunden«, erklärte ich verlegen.
»Gibt keinen«, sagte der Fremde, beförderte den Eimer auf die Innenseite und sprang über den hüfthohen, oben mit einer runden Holzleiste versehenen Zaun. »Noah und Caroline sind der Meinung, ein Kroko-Gehege ist am sichersten, wenn man das Tor nicht versehentlich offen lassen kann.«
»Das hättest du mir auch vorher sagen können«, murmelte ich, nahm all meinen Mut zusammen und kletterte hinterher.
Sofort sah ich zwei Augen und die Oberseite eines knorrigen Kopfes aus dem Wasser ragen, sie durchstießen kaum die Wasseroberfläche.
»Weshalb ist George bei euch?«, fragte ich und weil der Mann mir den Eimer hinhielt, nahm ich einen der Fische heraus.
George wirkte eindeutig interessiert, er schwamm an den Rand des Teichs und ließ uns keinen Moment aus den Augen. Mir war mulmig zumute. George schien ausgewachsen und fast drei Meter lang zu sein.
»Er hasst Boote und versucht, sie umzukippen«, meinte der Mann. »Nicht ungewöhnlich bei Männchen, allerdings eher bei Salties – der Klang eines Außenborders erinnert sie an das Knurren eines Rivalen. Na ja, auf jeden Fall sind Chaz und ich letztes Jahr in den Norden gefahren und haben ihn eingefangen, sonst wäre er bestimmt abgeschossen worden.«
Alles klar. Geistige Notiz: nie mit einem kleinen Boot in ein Krokodilgebiet fahren. Es gab Erlebnisse, auf die ich nicht so furchtbar viel Lust hatte.
Der junge Mann ging in die Hocke und hielt einen Fisch in der ausgestreckten Hand. Ein Maul, lang und schmal wie ein Baguette, aber gespickt mit daumenlangen gelben Zähnen, kam zum Vorschein. Dann kroch die große Echse halb aus dem Wasser und lag abwartend da, ein Wesen wie aus der Urzeit. Fasziniert sah ich zu, wie der Mann den Fisch warf und George ihn sich schnappte. Dann verschwand der gepanzerte Körper des Krokos wieder im Wasserloch.
»Wahrscheinlich können wir ihn nicht mehr freilassen, er würde immer wieder Ärger machen«, erklärte der Mann. »Außerdem wollen wir versuchen, mit ihm zu züchten. Momentan sterben jede Menge Freshies, weil sie diese verdammten aus Südamerika stammenden Aga-Kröten fressen – die sind leider giftig.«
George wartete ungeduldig auf seine nächste Portion und der junge Mann gab mir ein Zeichen, es selbst mit dem Füttern zu probieren. Den Fisch hielt ich ja immer noch in der Hand. Mein Puls raste, doch ich nickte und trat einen Schritt näher an George heran, der dicht unter der Wasseroberfläche lauerte.
Gerade als ich den Arm ausstreckte, glitt mir der Fisch aus den Fingern und landete auf dem Boden. Reflexartig bückte ich mich, um ihn aufzuheben – doch der junge Mann kam mir zuvor, blitzschnell kickte er den Fisch mit dem Fuß weg, sodass er im Teich landete. Das Wasser strudelte und spritzte, als George sich darüber hermachte und ihn mit einem Happs verschlang.
Im ersten Moment war ich wütend. »Ich hätte es schon hingekriegt!«, entfuhr es mir.
Erst ein paar Sekunden später begriff ich, was eben eigentlich geschehen war, und mir wurden die Knie weich. Ich konnte von Glück sagen, dass der Mann so schnell reagiert hatte. Dass der Fisch auf dem Boden landete, war für George vermutlich ein Zeichen gewesen, aus dem Wasser hervorzuschießen und ihn zu fressen. Und dann hatte ich meinen neuen Kollegen dafür angemeckert, dass er mich geschützt hatte! Ein saftiger Anpfiff war fällig und ich hatte ihn absolut verdient.
Der Fremde ergriff mich am Arm und zog mich ein paar Schritte zurück, weg von dem schlammigen Teich. Aber es folgte keine Strafpredigt. Der junge Mann blickte mich an, sah mir ruhig und forschend in die Augen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe nicht daran gedacht, dass du nach dem langen Flug wahrscheinlich völlig übermüdet bist. Besser, du machst erst mal Pause.«
Hätte er mich angeschnauzt, wäre ich damit klargekommen. So was war ich von zu Hause, aus der Schule und von manchem Revierleiter im Zoo gewohnt, das ließ ich von mir abprallen. Doch diese richtig netten Worte – die gingen tief, viel zu tief. Entsetzt spürte ich, dass mir Tränen in die Augen traten. Schnell schaute ich zur Seite und versuchte, mich wieder in den Griff zu bekommen.
Bevor ich antworten konnte, hörte ich Rustys Stimme.
»He, Colin, du solltest unsere neue Kollegin nicht gleich verfüttern, wir brauchen sie noch! Alles klar, Juli?«
»Alles okay«, meinte ich und suchte verzweifelt nach etwas Witzigem, das ich sagen konnte. Doch mein Kopf war wie leer gefegt.
»Kommst du?«, rief Rusty. »Du kannst dein Zeug jetzt in dein Zimmer bringen.«
Gehorsam kletterte ich über den Zaun und folgte Rusty. Als mir einfiel, dass ich mich weder von Colin verabschiedet noch mich für meinen Ausraster entschuldigt hatte, hatte der junge Pfleger sich abgewandt und fütterte George mit den restlichen Fischen aus dem Eimer.