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SCHATTEN DER VERGANGENHEIT

Niedergeschlagen folgte ich Rusty zum Hauptgebäude zurück, wo ich mein Gepäck aus dem Auto holte. Anscheinend war Arnold neugierig, denn ich sah eine Schnauzenspitze und zwei große dunkle Augen aus Rustys Rucksack lugen. »Na, du?«, sagte ich leise zu ihm, aber die Schnauze verschwand sofort wieder. Anscheinend war nicht nur George schüchtern!

Mein Zimmer lag im Erdgeschoss des Hauptgebäudes und war minimalistisch eingerichtet: Bett (bequem), Stuhl (wackelig), Tisch (mit Buntstiftspuren drauf) und Kleiderschrank (ging in einem jungen Land wie Australien wahrscheinlich als antik durch). Dazu ein Bad mit Dusche. Auf dem Boden lag ein einfacher Flickenteppich und an den Wänden hing das Foto einer Känguruherde vor glühendem Sonnenuntergang. Richtig schön kitschig.

»Ruh dich aus – wir spannen euch Germans erst morgen richtig ein«, meinte Rusty und dann war ich endlich allein. Ich rief meine Mutter und Sarah an, um ihnen zu sagen, dass ich gut angekommen war, dann legte ich mich voll angezogen aufs Bett und war sofort weg, sobald ich die Augen geschlossen hatte.

Lässig legt Gideon den Arm um meine Schultern, um mich von der Schule nach Hause zu begleiten. Jemand ruft ihm »He, Kai!« hinterher, aber er reagiert nicht, seinen alten Namen hat er längst abgestreift wie eine Schlange ihre Haut. Stattdessen wendet er sich mir zu und lässt seine Hand unter mein Top gleiten, es stört ihn überhaupt nicht, dass andere Leute in der Nähe sind und zusehen. Ich lasse es geschehen, ich bin hypnotisiert.

Doch Gideon zieht seine Hand zurück. »Du bist nicht locker genug«, sagt er – und dann stößt er mich weg. Voller Verachtung.

Schweißgebadet wachte ich auf. Es dauerte einen Moment, bis ich den Traum und dieses Gefühl, hilflos zu sein, abschütteln konnte.

Ich bin in Australien, sagte ich mir immer wieder. Gideon ist weit weg.

Ich hatte lediglich eine halbe Stunde geschlafen, würde es aber bestimmt nicht mehr schaffen, noch einmal wegzudämmern. Stattdessen lag ich da und wartete darauf, dass mein Herzschlag sich wieder beruhigte.

Das war ein Fehler, denn plötzlich überfielen mich die Erinnerungen daran, was in München passiert war. Diese ganze Sache mit Lars.

Ich hatte mich so gefreut über die Einladung, an dem Austauschprogramm teilzunehmen. Maryann Rikdal, eine australische Tierärztin, war in unserem Tierpark Hellabrunn zu Gast gewesen, ich hatte ihr ein paarmal geholfen. Anscheinend fand sie mich nett, denn irgendwann hatte sie mich gefragt, ob ich mal in einem Wildpark in Australien mitarbeiten wolle, und mir von dem Azubi-Austauschprogramm erzählt.

Eine Stunde lang schwebte ich fast über dem Boden. Dann begegnete mir Lars. »Stimmt das, was ich gehört habe?«, fragte er.

Er hatte mich kurz vor dem Gehege der Mähnenwölfe abgefangen.

Verkrampft stand er da, linkische ein Meter fünfundachtzig mit blondem Kinnbart und schneematschfarbenen Augen. »Dass du eine Einladung nach Australien bekommen hast?«

»Tja, scheint fast so«, sagte ich und bemühte mich, nicht allzu breit zu grinsen.

»Beschaffst du mir bitte auch so eine Einladung?«, fragte er.

Ich starrte ihn an. An einem Sonnenstich konnte es nicht liegen, im Spätherbst war das unwahrscheinlich. »Darum musst du dich selber kümmern, fürchte ich. Vermutlich überlegt sich diese Tierärztin nämlich selbst, wen sie einlädt.«

»Du hast mich falsch verstanden, glaube ich«, sagte Lars, blickte sich einmal kurz um, räusperte sich und senkte dann die Stimme. Jetzt erst, reichlich spät, ahnte ich, dass etwas nicht stimmte. Als Lars weitersprach, kroch mir ein kalter Schauer über das Rückgrat.

»Ich würde es wirklich zu schätzen wissen, wenn du bei dieser Tierärztin ein gutes Wort für mich einlegst«, flüsterte er, ohne mich anzusehen. »Glaubst du, dass die dich so gut finden würde, wenn sie alles über dich wüsste …?«

Ein eigenartiges Gelächter brachte mich in die Gegenwart zurück. Vor meinem Fenster lachte jemand wie ein Irrer. »Hiiihihihhaaaaahahaha…« Ganz langsam stand ich auf und ging zum Fenster. Draußen hockte ein Vogel mit einem kurzen braun-weißen Körper und einem langen spitzen Schnabel. Ein Kookaburra, ein »Lachender Hans«.

In meinem Magen brodelte es und mir war so elend zumute wie lange nicht. Aber der Kookaburra erinnerte mich daran, weswegen ich hier war. Also duschte ich schnell, zog mir ein frisches T-Shirt an und schlenderte durch den Wildlife Park, um mich abzulenken und um herauszufinden, welche Tiere es hier gab und wie sie gehalten wurden. Hoffentlich stellte ich mich dieses Mal geschickter an, wenn ich mithelfen sollte!

Vom Hauptgebäude führte ein kleiner Rundweg durch den Park, ich wollte erst Richtung Emus gehen, doch dann sah ich, dass Lars dort war, und entschied mich für die andere Richtung. In der lagen große, mit Maschendraht eingezäunte Gehege; verschiedene Känguruarten weideten darin das Gras ab. Als es mich sah, hüpfte das Joey eines Grauen Riesenkängurus erschrocken auf seine Mama zu und versuchte, mit dem Kopf voran in ihren Beutel zu kriechen. Doch da es schon ziemlich groß war, gestaltete sich das eher schwierig. Verzweifelt versuchte es, seine langen, staksigen Hinterbeine ebenfalls im Beutel unterzubringen, doch daran scheiterte es, und ein Bein ragte zum Schluss immer noch aus Mamas Bauch. Ich musste mir das Lachen verkneifen.

Zwei der Tiere kamen zum Zaun und streckten mir die Schnauzen entgegen, sie erwarteten vermutlich Futter. Ich streckte ein paar Finger durch den Maschendraht, streichelte einem der beiden den Hals und wurde prompt abgeschleckt.

Jemand kam an mir vorbei – eine junge Frau, nicht viel älter als ich, mit einem Besen in der Hand. Sie war dünn, trug staubige schwarze Sachen und eine ebenfalls schwarze Harry-Potter-Brille, durch die sie mich ein bisschen eulenhaft anblickte. Vielleicht war das, was sie da hielt, gar kein richtiger Besen, sondern Quidditch-Zubehör. »Hm«, sagte sie und sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Bist du die Tierpflegerin aus Deutschland? Nee, nee, warte, nicht antworten. Kleine Quizfrage, okay? Weißt du die Antwort nicht, wirst du vier Wochen lang behandelt wie ein Touri.«

Ich musste lachen. »Okay.«

»Was sollte man Kängurus niemals geben?«

»Stroh«, sagte ich prompt und war froh, dass ich in München bereits ein Schwätzchen mit dem Revierleiter aus Australien gehalten hatte. »Wenn sich das in ihren Backentaschen sammelt, entzündet sich das Maul, und das ist im schlimmsten Fall tödlich.«

»Hundert Punkte!« Die junge Frau strahlte mich an. »Ich heiße übrigens Kerrie.«

Sie zückte einen Schlüsselbund, um das Kängurugehege aufzuschließen. Die Grauen waren wunderschöne Tiere mit großen pelzigen Ohren und kräftigen Körpern. Aufmerksam beobachteten sie uns.

»Der, den du eben gestreichelt hast, ist Dustin«, meinte Kerrie. »Eine Handaufzucht, deshalb ist er so zahm. Viele der anderen sind deutlich scheuer und nervöser. Mit denen muss man vorsichtig umgehen. Leise reden.«

Dustin hüpfte auf uns zu, streckte seine lange Nase in unsere Richtung und ergatterte ein paar Wildfutter-Pellets, die Kerrie aus ihrer Tasche hervorzauberte.

»Letzte Woche haben wir zwei von ihnen ausgewildert. Die waren von Autos angefahren worden, wir haben sie gesund gepflegt«, berichtete Kerrie,wandte den Kopf und sagte freundlich »G’day« zu jemandem. Lars! Ich seufzte. In einem so kleinen Tierpark konnte man sich leider nicht besonders gut aus dem Weg gehen.

Kerrie stellte uns die zehn Kängurus mit Namen vor, leider vergaß ich die meisten sofort wieder. Immerhin einen konnte ich mir merken – ein großes Weibchen mit Narben von einem Hundeangriff am Hals hieß Cara. Ich hockte mich auf den Boden, lockte Cara zu mir hin und gab ihr ein Stück Karotte. Sie nahm es mit ihren affenähnlichen Vorderpfoten und knabberte es weg. Ein Jungtier hielt sich dicht neben ihr. »Ihr habt ganz gute Zuchterfolge, scheint mir.«

»O ja, wir …«, begann Kerrie, doch Lars unterbrach sie: »Die Grauen sind sowieso nicht selten – es gibt inzwischen dreimal so viele Kängurus in Australien wie vor der Ankunft der Weißen.«

Kerrie musterte Lars mit hochgezogenen Augenbrauen. »Mensch, da hat ja einer vorher in Wikipedia nachgeschaut. Stimmt. Zum Beispiel finden sie auf den Farmen Wassertröge vor. Eigentlich für Schafe gedacht. Aber das ist den Kängurus egal, die trinken draus und können dadurch viel besser überleben als früher.«

Lars lief knallrot an. Ein kleines bisschen tat er mir leid. Jetzt hatten wir beide unsere ersten Fettnäpfchen hinter uns gebracht.

Kerrie schloss das Gehege wieder ab und führte uns nach nebenan zu den drei Roten Riesenkängurus. Eins davon lag faul auf der Seite im Sand und döste, die anderen knabberten an einem Bündel frischer Zweige herum. »Ich muss euch gleich warnen, die Roten sind nicht so ruhig und besonders die Böcke können manchmal unangenehm werden«, meinte Kerrie. »Wie wär’s mit einem Schnellkurs in Känguru-Abwehr?«

Lars und ich waren beide voll dafür und so ging es hinein zu den drei großen Roten. Sie hatten wirklich beeindruckende Hinterläufe und ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass diese Tiere damit in voller Fahrt sieben Meter weite Sprünge schafften – und dass sie einem enorme Tritte verpassen konnten.

»Wenn ihr ein Känguru einfangen müsst, dann packt es am Schwanz und bleibt hinter ihm, damit es euch nicht erwischen kann – sonst seid ihr Matsch«, erklärte Kerrie. »Das zum Beispiel ist Tyson.«

Sie klopfte einem der Tiere auf die pelzige rötlich braune Flanke. Tyson wandte ihr irritiert die längliche, hasenartige Schnauze zu und trat mit einem seiner Hinterbeine in ihre Richtung. Doch Kerrie war darauf vorbereitet. Obwohl sie so zerbrechlich aussah, bewegte sie sich wie eine Kung-Fu-Kämpferin – in einer einzigen fließenden Bewegung wich sie zur Seite aus. »Wenn ein Känguru angreift, dann stützt es sich auf den Schwanz und kickt mit den Hinterbeinen«, sagte sie, ohne den etwas verblüfften Tyson weiter zu beachten. »Es kann sich schlecht seitlich drehen, während es das macht. Ihr braucht also bloß neben oder hinter das Känguru zu treten.«

»Klingt gar nicht so schwer«, sagte Lars. Kerrie gab uns ein paar Karottenstücke zum Verfüttern, damit die großen Roten uns in guter Erinnerung behalten würden, und keins der Kängurus erhob eine Pfote gegen uns. Nicht mal Tyson.

Der erste Tag ging so schnell herum, dass ich gar nicht wusste, wo die Zeit blieb. Seltsamerweise lernte ich die Besitzer und Leiter des Tierparks jedoch nicht kennen. Am Abend sollte, so kündigte Kerrie an, auf der Veranda des Hauptgebäudes zu unseren Ehren ein »Barbie« stattfinden. Was, wie ich herausfand, nichts mit Plastikpuppen zu tun hatte, sondern ein Barbecue, ein Grillabend, war. Prompt kehrte das mulmige Gefühl in mir zurück. Hoffentlich würde Colin nicht da sein. Schon seltsam: Wenn man jemandem unrecht getan hat, dann möchte man ihn am liebsten nie wiedersehen …

Doch natürlich war er da, schließlich arbeitete er hier. Ich beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er mit einer Dose Bier in der Hand am Holzgeländer der Veranda lehnte und mit Rusty quatschte. Erzählte er gerade, was bei George passiert war? Am besten, ich entschuldigte mich möglichst bald bei ihm.

Auf dem großen Profi-Gasgrill, der fest auf der Veranda installiert war, verbrutzelten Bratwürstchen, Steaks, Kartoffelstücke und Zwiebelringe. Hm. Gut, dass es auch Kartoffeln gab, Fleisch kam bei mir seit vier Jahren nicht mehr auf den Teller. Waren das da etwa Kängurusteaks?! Nein, konnte ich mir nicht vorstellen, das wäre doch arg makaber gewesen.

»Eins ist fertig«, sagte ein Australier, der mit seiner gebrochenen Nase, den schwarzen Locken und den muskulösen Armen aussahwie eine Kreuzung zwischen Disco-Rausschmeißer und Preisboxer. Ein ziemlich verkohltes Stück Fleisch von der Größe einer Schuhsohle landete auf meinem Teller undwurde mit Tomato Sauce, wie Ketchup offenbar hier hieß, begossen.

Uäh. Was sollte ich damit machen? Es kam nicht infrage, es zu essen. Zum Glück lief mir ein hungrig aussehender Mitarbeiter von The Ark über den Weg. »Eins ist fertig«, verkündete ich, drückte ihm den Teller in die Hand und schnappte mir, als der Preisboxer gerade abgelenkt war, ein paar Kartoffeln vom Grill.

Ich setzte mich zu Kerrie, die sich umständlich die Brille putzte und dann auf ihr Bratwürstchen herabblickte, als sei es eine Gewebeprobe aus dem Labor.

»Wer ist das eigentlich, der da am Grill?«, fragte ich sie. »Euer Koch?«

Sie grinste, schob das Würstchen an den Rand ihres Tellers und gönnte sich ebenfalls eine Kartoffel. »Das wäre er vielleicht gerne. Aber nein, das ist Noah Greenberg, unser Chef. Leider wollte er heute zur Feier des Tages selbst grillen, sonst macht das immer Rusty, der kann es besser.«

Noah? Bei mir fiel der Groschen, wie der Name des Wildparks entstanden war. Ich arbeitete sozusagen an Bord von Noahs Arche,wie lustig.

Eine hübsche dunkelhaarige Frau – »Hi, ich bin Caroline« – drückte mir eine Cola in die Hand. Drei Kinder zwischen sieben und elf tobten auf der Wiese herum, vielleicht war das der Nachwuchs der beiden Gründer.

Auch Colin holte sich ein Steak, keinen Meter entfernt ging er an mir vorbei. Ich spürte es mehr, als dass ich es sah. Doch ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen – er sprach mich nicht auf die Sache mit George an. Ich war nicht mal sicher, ob er mich bemerkt hatte.

Ich drehte mich zu ihm, um das mit der Entschuldigung hinter mich zu bringen, doch eine Frau, die mindestens hundertfünfzig Kilo auf die Waage brachte und ein grellgelbes T-Shirt trug, fing mich ab. »Daaarling!«, strahlte sie mich an, breitete die Arme aus, als wollte sie mich an sich pressen und drückte mir dann doch bloß die Hand. Es fühlte sich an, als wären ihre Hände aus Stahl. »I’m Wanda, and I’m really proud to meet you!«

Verblüfft starrte ich zurück. Stolz, mich zu treffen? Wieso das denn? Ich stammelte ein paar Worte, dass ich mich ebenfalls freute, und Wanda berichtete, dass sie einen Ice-Cream-Shop in Cooroy betrieb, aber in jeder freien Minute hierherkam, um mit den Tieren zu helfen. Aha – ich ahnte, woher die Riesenportion Eis stammte, die Caroline aus einer Kühlbox zum Vorschein brachte.

Noah ließ seinen Grill einen Moment lang im Stich und legte einen Arm um Wanda. »Ohne sie hätten die Koalas einen leeren Magen, sie fährt mit ihrem Ute stundenlang durch die Gegend und sammelt Futter.«

»Sure! Na klar!«, strahlte Wanda und begann – während ich mich noch fragte, was ein »Ute« war –, mir etwas über ihren Handarbeitsclub zu erzählen. Die Mitglieder waren anscheinend spezialisiert darauf, Beutel für verwaiste junge Kängurus zu nähen. »Wenn das Joey getauft worden ist, sticken wir seinen Namen auf den Beutel! Einer der Beutel hat schon zehn Namen darauf, ist das nicht toll?«

»Darauf ist der Beutel bestimmt stolz«, war das Einzige, was mir in diesem Moment einfiel. Verzweifelt versuchte ich, Colin im Auge zu behalten. Er hatte sich inzwischen etwas vom Grill ausgesucht und ging zurück zu Chaz und Rusty.

»Bitte entschuldige mich«, sagte ich, nahm meinen Teller, auf den jemand blöderweise ein neues Steak geklatscht hatte, und wollte mich dazwischendrängen, bevor Colin bei den anderen Männern ankam.

Doch stattdessen prallte ich gegen ein etwa siebenjähriges blondes Mädchen und bekleckerte es von oben bis unten mit Ketchup und Cola.

Interessiert blickte es an sich herunter, tupfte einen Finger in die rote Soße und leckte ihn ab.

»No worries – alles kein Problem«, verkündete Caroline, schnappte sich das Kind und zog es ins Haus, wahrscheinlich um es direkt unter die Dusche zu stellen. Währenddessen machten zwei Border Collies kurzen Prozess mit dem Steak, das auf dem Boden gelandet war. Wanda schimpfte mit den Collies, die sofort gehorsam Platz machten, ging mir ein neues Steak holen – verdammt! – und brachte mir einen Drink mit.

»Moment, äh, ich bin …«, versuchte ich zu erklären, doch das Wort »Vegetarierin« schaffte ich nicht mehr, schon brach wieder ein Wortschwall über mich herein. In der nächsten Viertelstunde erfuhr ich eine Menge über Wandas Colliezucht, ihren Handarbeitsclub und die Qualität von australischer Eiscreme. Ich musste nichts tun, außer anerkennend zu nicken. Zum Glück halfen mir die Collies, zwei schlaue Burschen, auch dieses Steak unauffällig loszuwerden.

Etwas später gesellten sich Kerrie und Chaz zu uns. Fasziniert sah ich, dass die beiden zusammengehörten. Sie küssten sich andächtig und rieben ihre Nasen aneinander, was ungewöhnlich, aber sehr liebevoll aussah. Chaz war nach dem ersten Bier erstaunlich aufgetaut und gab zum Besten, wie er aus seinem Job als Landschaftsgärtner rausgeflogen war, weil er die von ihm aufgezogenen, eigensinnigen Wombat-Geschwister ein paarmal zu oft zur Arbeit mitgebracht hatte. Kerrie, deren Hand die ganze Zeit über auf Chaz’ muskulösem Oberschenkel lag, erzählte, wie sie als Kind Spinnen und Schlangen in Einmachgläsern gehalten hatte. »Ach, Spinnen sind wunderbare Tiere«, schwärmte sie und ihre Augen blitzten hinter den großen Brillengläsern. »Zum Beispiel dieser Huntsman da oben bei der Lampe! Ist der nicht ein toller Jäger?«

»Und ob«, sagte Chaz bewundernd.

Ich schaute hoch und zuckte zusammen. Dicht neben der Lampe an der Wand, keine halbe Armlänge von mir entfernt, hockte eine handtellergroße graue Spinne. Sie streckte die haarigen Vorderbeine aus und schnappte sich damit eine Motte. Im Laufe des Abends wiederholte sie das ein halbes Dutzend Mal. Eine faszinierende Show und besser als jeder Horrorfilm. Kerrie riet mir, mein Bettzeug und die Handtücher immer gründlich auszuschütteln, weil Huntsmen darin gerne andere Spinnen jagten.

»Ich hatte als Kind keine Spinnen, dafür aber ein zahmes Kaninchen«, erzählte ich munter und wunderte mich, warum auf einmal alle so angewidert dreinschauten.

»Im Ernst?«, staunte Kerrie.

»Ein Kaninchen?« Chaz verzog das Gesicht.

»Äh ja«, sagte ich. »Mein Vater hat es später weggegeben, während ich in der Schule war. Wahrscheinlich ist es in irgendeinem Kochtopf gelandet.«

»Das ist ja widerlich!«, rief Wanda, ihre gewaltige Oberweite wogte. »Stimmt das wirklich, ihr esst die Viecher? Bei uns ist es sogar verboten, eins zu besitzen! Dreitausend Dollar Strafe, sag ich da nur.«

Etwas zu spät fiel mir ein, dass die Pelztierchen, die ich als Kind so geliebt hatte, in Australien ähnlich wie Aga-Kröten eine gewaltige Plage waren. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren die ersten vierundzwanzig hierhergebracht worden und inzwischen tummelten sich Hunderte von Millionen in Australien, sie fraßen ganze Landstriche kahl. Wahrscheinlich hätte ich eben genauso gut erzählen können, dass bei uns in Deutschland Wanderratten frisch aus einem Abwasserkanal beliebte Haustiere waren.

»Nur in ganz seltenen Fällen essen wir Kaninchen«, versicherte ich eilig und Lars grinste schadenfroh. Er selbst amüsierte sich blendend. Ein Bier nach dem anderen gluckerte durch seine Kehle, Rusty und er waren schon die besten Freunde und gerade haute ihm Noah übermütig auf die Schulter. Dann gab’s ein kleines Match im Armdrücken, das Lars knapp verlor. Was ihm aber nichts auszumachen schien, dem verdammten Erpresser. Selbst dann, als ein frecher Kookaburra ihm im Tiefflug ein Würstchen vom Teller klaute.

Colin war verschwunden; ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er gegangen war. So viel zu meinem Plan, mich bei ihm zu entschuldigen.

Kurz vor Mitternacht fand ich den Mut, Kerrie nach ihm zu fragen.

»Nee, er ist nicht fest angestellt«, meinte sie. »Er studiert in Brisbane Environmental Science. Aber an den Wochenenden oder in den Semesterferien – so wie im Moment – ist er oft bei uns und hilft mit.«

Ich nickte. Environmental Science. War das so was Ähnliches wie Ökologie?

»Wenige von ihnen schaffen es an die Uni«, fuhr Kerrie fort. »Damit ist er eine echte Ausnahme, glaub ich.«

Mit gerunzelter Stirn blickte ich sie an. »Von ihnen? Was meinst du damit?«

»Hast du das nicht bemerkt? Colin ist ein Aboriginal. Früher hat man sie Aborigines genannt, aber das sagt man nicht mehr.«

Einer von ihnen. Wie seltsam das klang. Colin gehörte doch zum Team von The Ark, er war einer von uns. Kerrie schien gemerkt zu haben, dass mir das quer runtergegangen war, denn sie sagte nichts mehr und schien ganz froh, als Chaz das Thema wechselte. Er begann, etwas von den riesigen dunkelgrünen Eiern zu erzählen, die die Emus jedes Jahr im australischen Winter legten und die dann vom Vogelpapa persönlich ausgebrütet wurden. Doch mir war nicht mehr nach einer Tierpfleger-Fachsimpelei zumute und außerdem war ich todmüde.

Ich sagte meinen neuen Kollegen Gute Nacht und verzog mich in mein Zimmer. Selten hatte ich mein Bettzeug so gründlich ausgeschüttelt, doch zum Glück fiel kein Huntsman heraus.

Diesmal fiel es mir nicht so leicht einzuschlafen. Warum war ich eigentlich nicht von selbst darauf gekommen, dass Colin ein Aboriginal war? Vielleicht, weil seine Haut relativ hell war. In dem Australien-Bildband, den ich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, waren nackte, tiefdunkle Tänzer zu sehen gewesen, die sich weiße Linien und Punkte auf den Körper gemalt hatten. Doch ganz offensichtlich hatte Colin nicht die Absicht, in nächster Zeit zu tanzen, einen Bumerang zu werfen oder Didgeridoo zu spielen. Wahrscheinlich würde es eine Weile dauern, bis ich all diese Aboriginal-Klischees aus dem Kopf draußen hatte!

Wie herrlich, dass mein Zimmer auf dem Gelände des Zoos war. Es gab keinen Autolärm, hörbar war nur das schrille Rufen und Grunzen von Emus und Koalas in der Paarungszeit.

Ich war dabei wegzudämmern, als ich Lars’ Stimme im Flur hörte – er quatschte jemanden mit dem voll, was er alles über australische Tiere wusste. An den Zwischenbemerkungen hörte ich, dass er das ausgerechnet Noah, dem Zoochef, gegenüber machte. O Mann. Konnte Lars nicht anders, musste er ständig versuchen, andere zu beeindrucken? Das machte er auch in Hellabrunn und es nervte alle komplett ab.

Augenblicklich war ich wieder wach und Wut brodelte in mir hoch. Auf Lars. Und auf mich selbst.

Nachdem Lars mich »gebeten« hatte, ihm eine Einladung zu verschaffen, war ich nicht nach Hause gefahren. Das ergab keinen Sinn, meine Mutter war sowieso nicht daheim, sie saß den ganzen Tag an der Kasse eines Drogeriemarkts und kam erst abends todmüde heim.

Stattdessen fuhr ich zu Sarah. Am Eingang ihrer Villa in Grünwald hing ein altes Klingelschild aus Messing, auf dem »Sarah Bergson – Architektin« stand und ein neueres mit »Tierhilfe München e.V.« darauf. Sarah lebte mit etwas über zwanzig Katzen und einer wechselnden Anzahl von Hunden zusammen, die sie in Griechenland von der Straße holte und dann vermittelte. Vor ein paar Jahren hatte ich begonnen, nach der Schule bei ihr mitzuhelfen. Einfach so, aus Spaß. Sarah war okay, und ihr konnte ich endlich erzählen, was Lars von mir verlangt hatte. Danach fühlte sich mein Magen leider immer noch so an, als hätte ich einen Schwarm Hornissen verschluckt, und in meinem Kopf sah es nicht vielbesser aus. »Ich war so verblüfft, ich habe ihm nicht mal einen Spruch hingeknallt. Und was jetzt? Soll ich tun, was er will?«

Sarah seufzte. »Es wäre besser gewesen, du hättest es dem Zoo gleich zu Anfang gesagt. Das mit der Polizei. Vielleicht hätten sie dich trotzdem genommen.«

Ich stöhnte. »Das glaubst auch nur du! Weißt du, wie viele Bewerber sie für diesen Ausbildungsplatz hatten?«

»Tausend«, sagte Sarah und seufzte. Na klar, sie wusste es, schließlich hatte sie mir Mut gemacht, mich für meinen Traumjob zu bewerben. Obwohl alles dagegen sprach, dass ich es schaffen würde. »Mach es nicht«, sagte Sarah plötzlich. »Lass dich nicht erpressen. Gib diesem Mistkerl nicht nach. Du würdest es bereuen, glaub mir.«

»Meinst du?« Wie konnte sie da so sicher sein? Wenn Lars herumerzählte, was er anscheinend herausbekommen hatte – wie eigentlich?! –, dann konnte er mir weit mehr kaputtmachen als diese Australienreise. Wenn meine Chefs erfuhren, dass ich beim Einstellungsgespräch eine Vorstrafe verschwiegen hatte, dann würden sie mich nach der Ausbildung unter Garantie nicht übernehmen. Hausfriedensbruch, Diebstahl, Körperverletzung, das waren keine Kleinigkeiten.

Das Ganze war drei Jahre her. Als ich diese Füchse in ihren jämmerlichen, viel zu kleinen Drahtkäfigen gesehen hatte, war mir sofort klar gewesen, dass ich etwas tun musste. Heute würde ich so was ganz anders anpacken, erst mal die Behörden verständigen und so weiter. Zur Presse gehen. Eine Umweltorganisation zu Hilfe rufen. Aber damals, mit fünfzehn, hatte ich mich auf das Grundstück geschlichen und die Käfige aufgebrochen. Ich wusste, die Ausbrecher würden nicht verhungern – Füchse sind verdammt clever und so anpassungsfähig, dass sie sogar in der Stadt klarkommen. Ich selbst war nicht clever genug gewesen, war erwischt worden und hatte einen Riesenärger bekommen. Blöderweise war ich völlig durchgedreht, als der Besitzer des Grundstücks mich festhielt. Unter anderem hatte ich ihm das Handgelenk gebrochen. Völliger Blackout – es machte mir selbst Angst, daran zu denken.

Wahrscheinlich aus Rache hatte der Typ der Polizei gesagt, ich hätte sein Auto zerkratzt und ihm die Reifen zerstochen. Stimmte zwar nicht, das war jemand anders gewesen, aber der Richter hatte mir nicht geglaubt. Zumal der Kerl behauptete, er hätte mich dabei beobachtet.

Eine Tierpflegerin, die Tiere schützt und deswegen verurteilt wird … kein Problem, oder? Nein. Die Illusion hatte ich längst nicht mehr. Neulich erst hatte einer der Revierleiter so richtig hasserfüllt über Tierbefreier geschimpft. Konnte ich auch verstehen. Hin und wieder versucht irgendein Irrer, Zootiere zu »befreien«. Wenn er es schafft, ist das gewöhnlich ein Todesurteil für das jeweilige Tier. Wenn es vom Gelände entkommt, endet es meist vor dem Kühler eines Autos oder wird erschossen, weil sich Menschen von ihm bedroht fühlen.

»Ich frage Maryann, ob Lars mitkommen kann«, sagte ich zu Sarah. Aber gut fühlte sich das nicht an. Feige! Es ist feige. Wieso sagst du ihnen nicht alles? Sag es ihnen selbst, was damals mit dir los war, und dann kannst du Lars ins Gesicht lachen!

Aber das hatte ich nicht geschafft.

Maryann war nicht begeistert gewesen davon, dass ich Lars als zweiten Teilnehmer vorschlug, weil eigentlich nur eine Person pro Jahr vorgesehen war. Ich hatte sie überreden müssen, obwohl mir die Worte vor Widerwillen beinahe im Hals stecken geblieben waren. Und jetzt waren wir hier, Lars und ich…

Es dauerte lange, bis ich endlich einschlafen konnte.

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