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2. Kapitel

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Am Ende der Waldstraße stand das Tierheim von Prerow. Es war in einem Rohrdachhaus mit einer orangefarbenen Fassade untergebracht. Im Garten bogen sich Rhododendren unter der Schneelast. Ein vom Schnee geräumter Pfad führte um das Gebäude herum zum hinteren Teil des Grundstücks, in dem mehrere Tierunterkünfte untergebracht waren. Rauch ringelte sich aus dem Schornstein in den Abendhimmel.

Die Eingangstür des Heims war mit schmückenden Ornamenten verziert, die typisch für den Darß waren. Symmetrisch aufgemalte Blumenranken, eine Sonne und ein grüner Rahmen zierten die Tür. In der Öffnung stand ein großgewachsener Mann mit einem dunklen Vollbart und winkte lebhaft. »Kommen Sie rüber, Julia! Schnell!«

Jonte Langstein leitete das Tierheim seit vier Jahren. Er wirkte von Kopf bis Fuß bodenständig. Seine kräftigen Hände verrieten, dass er keine schwere Arbeit scheute. Sein grobgestrickter Pullover und die Jeans schienen schon allerhand mitgemacht zu haben. Hinter seiner rahmenlosen Brille blickten braune Augen offen und eine Spur nachdenklich in die Welt.

Julia ging zu ihm. »Ist etwas passiert?«

»Leider ja. Sie schickt der Himmel, Julia! Gerade hat mir der Pfarrer einen Hund gebracht. Er hat ihn am Waldrand gefunden. Verletzt!«

»Wurde er angefahren?«

»Nein, angeschossen!«

»Was sagen Sie da? Angeschossen?!«

»Ja, er scheint einem Jäger oder Wilderer vor die Flinte gelaufen zu sein. Hier auf dem Darß gibt es eine Menge Rotwild, aber der Schuss muss fehlgegangen sein. Wer auch immer geschossen hat, hat den Hund einfach liegengelassen. Der arme Kerl hat sich noch bis zum Waldrand geschleppt, aber dort haben ihn wohl die Kräfte verlassen.«

»Das ist ja furchtbar. Bringen Sie mich bitte zu ihm.«

Jonte nickte und bedeutete ihr, ins Haus zu kommen. Sie folgte ihm und machte Raudi im Flur von der Leine los. »Warte hier, Raudi.« Folgsam rollte sich der kleine Hund zusammen und bettete den Kopf auf den Vorderpfoten.

Jonte Langstein führte Julia zum Quarantäneraum, in dem Neuankömmlinge untergebracht wurden, bis feststand, dass sie gesund waren. Hier gab es einen Schrank mit verschiedenen Medikamenten, Futtermitteln und Instrumenten, die im täglichen Umgang mit den Tieren nützlich waren. Außerdem stand hier auch ein Tisch mit einer Metallplatte, auf dem Tiere untersucht und im Notfall behandelt werden konnten. Einen solchen Notfall hatten sie jetzt. Auf dem Tisch lag ein Golden Retriever. Er zitterte am ganzen Leib und winselte so kläglich, dass sich etwas in Julia verkrampfte. Blut sickerte aus einer Wunde an seiner rechten Vorderpfote und verkrustete bereits sein Fell.

Die Tierärztin nahm sich ein Paar Einweghandschuhe aus dem Regal und zog sie an. Dann beugte sie sich über den Rüden. »Ich weiß, es tut weh, aber ich werde alles tun, um dir zu helfen.« Sie blickte auf. »Halten Sie bitte seinen Kopf, Jonte, damit er nicht zuschnappen kann.«

»Natürlich.« Der Chef des Tierheims hatte genügend Erfahrung, um zu wissen, was zu tun war.

Julia untersuchte den verletzten Hund behutsam. Er hatte eine Wunde am Ellbogen, aus der dunkles Blut austrat. Seine Schleimhäute waren rosafarben und sein Blick wach und aufmerksam. Das Zittern war jedoch kein gutes Zeichen.

»Gibt es hier ein Blutdruckmessgerät?«

»Ja, dort drüben. Im Schrank mit der Ausrüstung.«

Julia holte das Messgerät und fand ihre Befürchtung wenig später bestätigt. Der Blutdruck des Rüden betrug 180/145 mmHg. Das war zu hoch. Die Schmerzen und der kompensatorische Schock ließen seine Werte ansteigen.

Sie wünschte sich, sie hätte die Ausrüstung einer Tierarztpraxis zur Verfügung, vor allem einen Röntgenapparat, aber daran war nicht einmal zu denken. Das Tierheim verfügte nur über eine medizinische Grundausstattung. Julia suchte Oxymorphon gegen die Schmerzen heraus. Sie beugte sich über ihren Patienten, schob eine Hautfalte mit den Fingern zusammen und stach die Nadel hinein, ehe sie das Medikament langsam injizierte. Anschließend legte sie einen Tropf, um dem verletzten Hund Flüssigkeit zuzuführen. Zum Schluss bedeckte sie seine Wunde mit einer sterilen Auflage. Es dauerte nicht lange, dann ließ sein Zittern nach.

»Mehr kann ich hier leider nicht für ihn tun. Er muss in die Klinik und geröntgt werden. Es könnte sein, dass innere Organe verletzt sind. Außerdem müssen einige Tests gemacht werden, bevor operiert wird. Können Sie ihn in die Tierklinik fahren?«

»Natürlich. Mein Wagen parkt draußen. Was glauben Sie, wird er es schaffen?«

»Das ist ohne Röntgenbild schwer zu sagen. Im Moment ist sein Zustand stabil. Das ist schon viel.«

»Ich verstehe. Und seine Pfote? Ist sie noch zu retten?«

»Das kommt auf den Grad der Zertrümmerung an. Schusswunden können schwere Zerstörungen verursachen. Wenn die Wunde gründlich gereinigt wird und sich keine Infektion einstellt, ist es möglich, die Extremität zu erhalten.«

»Also heißt es, die Daumen zu drücken.« Jonte strich dem Retriever über den Kopf. »Und du drückst am besten alle Pfoten, Kleiner, zumindest die gesunden, hast du verstanden?«

»Wissen Sie schon, wem er gehört?«

»Leider nein, aber er trägt eine Marke, also werden wir seinen Besitzer schon ausfindig machen. Bis dahin werde ich mich um ihn kümmern. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Julia.«

»Dafür bin ich doch da. Kommen Sie, bringen wir ihn gemeinsam zu Ihrem Wagen. Haben Sie eine Decke zum Unterlegen, falls er den Verband durchblutet?«

»Natürlich. Warten Sie bitte kurz. Ich werde rasch hinausgehen und eine Plane auf die Rückbank meines Autos legen. Darauf können wir den armen Kerl legen.« Jonte eilte kurz hinaus und war im Handumdrehen wieder da. Sein Kopf und seine Schultern waren mit Schnee bedeckt. Offenbar schneite es wieder. Er hob den Rüden vorsichtig auf seine Arme. Julia hielt den Infusionsbeutel fest, während sie zu seinem Wagen hinausgingen. Im Flur sprang Raudi auf und kam ihnen nach.

Behutsam legte der Heimleiter den Rüden auf den Rücksitz. Der Retriever schien keine Schmerzen mehr zu haben, denn er rollte sich zusammen. Das Medikament wirkte.

Julia erlaubte sich ein leises Aufatmen. Sie verabschiedete sich mit dem Versprechen, in der Tierklinik Bescheid zu sagen, dass er auf dem Weg war. Der Chef des Tierheims bedankte sich noch einmal bei ihr, ehe er sich in seinen Wagen setzte und davonfuhr. Wenig später verschwanden die roten Rücklichter seines Autos im dichten Schneefall.

Julia holte ihr Mobiltelefon aus ihrer Tasche und rief in der Tierklinik an. Sie kündigte das Eintreffen eines Hundes mit Schusswunde an. Eine mürrisch klingende Frau versprach ihr, alles Nötige an den zuständigen Tierarzt weiterzuleiten.

Seufzend legte Julia auf. Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, würde ich jetzt in der Notfallambulanz stehen und den Retriever operieren. Hoffentlich kommt er durch …

Tief in Gedanken versunken schob sie ihre Hände in die Jackentaschen und schlenderte die Straße hinunter. Raudi trottete neben ihr her. Sie wollte noch nicht nach Hause, deshalb lenkte sie ihre Schritte zum Einkaufsviertel. Hier reihten sich die Geschäfte aneinander. In den Schaufenstern blinkten Weihnachtslichter um die Wette. Julia kam an einem Geschäft mit der Aufschrift ‚Bernsteinzimmer‘ vorüber. Hier lagerte nicht etwa der lange verschollene, russische Schatz. Stattdessen wurden Schmuckstücke und Figürchen aus Bernstein zum Kauf angeboten. Julia bewunderte die Auslagen und entdeckte eine liebevoll gearbeitete Katze. Das Material schimmerte geheimnisvoll im Licht.

Das wäre etwas für Großvater, dachte Julia. Er liebt Poppy sehr, und diese Katze hat Ähnlichkeit mit ihr. Was sie wohl kostet? Julia spähte auf das Preisschild und schluckte. Die Katze überstieg ihr Budget um einiges. Sie wandte sich ab und schlenderte weiter. Warum war es so schwierig, ein passendes Weihnachtsgeschenk für ihren Großvater zu finden? Seit Wochen war sie schon auf der Suche danach, hatte bis jetzt aber noch nichts Passendes gefunden. Sie konnte ihm doch nicht schon wieder eine Pfeife schenken und wenn sie ihn nach seinen Wünschen fragte, meinte er nur, alles zu haben, was er brauche. Eine große Hilfe war das nicht gerade. Zum Glück waren es noch zwei Wochen Zeit bis Weihnachten. Bis dahin musste ihr doch noch etwas einfallen!

Der Wind wurde heftiger, und Julia begann zu frieren. Sie beschloss, nach Hause zurückzukehren. Diesmal folgte sie jedoch nicht der Straße, sondern lief am Strand entlang. Raudi sauste ihr vorneweg, dass Sand und Schnee unter seinen Pfoten aufstoben. Im Dunkeln wirkte das Meer düster und bedrohlich. Der Wind peitschte die Wellen hoch und erfüllte die Luft mit salzigem Sprüh. Julia schlug ihren Kragen höher und atmete auf, als sie wieder daheim war.

Sie schloss die Haustür auf und hörte im nächsten Augenblick das glockenhelle Lachen einer Frau. Im Flur stand eine Urlauberin. Julia kannte sie nicht, also war sie anscheinend erst an diesem Tag angereist. Sie war schätzungsweise Anfang dreißig und hatte hellblond gefärbte Haare, die sie nun schwungvoll über ihre Schultern warf. Ihre Hand lag auf dem Arm von Julias Großvater. Rasmus Sperling strahlte sie an, als wäre sie geradewegs vom Himmel gefallen.

»Ach, Rasmus, Sie sind ein Schatz«, sagte sie gerade.

Julia wunderte sich über den vertraulichen Ton der Fremden. Da fiel ihr Blick auf die Girlande aus Immergrün, die mit Lichtern bestückt und um das Treppengeländer gewickelt war. Sie war bei ihrem Aufbruch noch nicht da gewesen.

»Oh nein! Noch mehr Dekoration?«

»Warum denn nicht? Wiebke hat mir geholfen, die Girlande anzubringen. Sieht es nicht großartig aus?«

»Hatten wir nicht vereinbart, etwas von der Dekoration zu entfernen, damit der Strom nicht wieder ausfällt?«

»Ach, so viel verbrauchen die paar Lämpchen nicht. Außerdem hat Hinnerk nebenan auch noch Lichter an seinen Buchsbäumen angebracht. Da muss ich doch mithalten.«

»Trotzdem wolltest du ein paar Stromfresser entfernen.«

»Wann soll ich das gesagt haben?«

»Vorhin. Als der Strom ausgefallen ist.«

»Der Strom war weg? Wann?«

»Kurz nachdem du das Fenster im Frühstücksraum geschmückt hattest. Weißt du das etwa nicht mehr?«

Ihr Großvater schwieg sekundenlang, ehe er eine Handbewegung machte, als wollte er die Frage wegwischen. »Unsinn. Stromausfall«, murmelte er. »Die Girlande sieht schön aus. Und sie bleibt, wo sie ist.«

»Großvater?« Eine kalte Hand schien plötzlich nach dem Herz der Tierärztin zu greifen. »Erinnerst du dich an den Stromausfall heute?«

»Natürlich erinnere ich mich«, fuhr er auf. »Ich bin vielleicht über sechzig, aber durchaus Herr meiner Sinne. Außerdem schmücke ich mein Haus gern weihnachtlich. Verdirb mir bitte nicht die Freude daran, Julia.«

»Das möchte ich ja gar nicht.«

»Dann ist es gut.« Rasmus Sperling wandte sich an die Urlauberin. »Trinken Sie eine heiße Schokolade mit mir, Wiebke? Ein paar Kokosmakronen sind auch noch da.«

Die Urlauberin willigte mit leuchtenden Augen ein und folgte ihm in die Küche.

Julia sah ihnen nach und wusste nicht, was sie denken sollte. Warum hatte sich ihr Großvater zuerst nicht an den Stromausfall erinnert? Der war doch kaum zwei Stunden her? Das beunruhigte sie. Sie hätte das gern mit Marc besprochen, weil sie wusste, dass er ihre Sorgen verstanden hätte. Der Polizist hatte selbst schon viel Leid in seinem Leben erlebt und konnte sich deshalb gut in andere Menschen einfühlen. Ob sie ihn jetzt erreichen würde?

Kurzentschlossen griff sie nach dem Telefon und wählte seine Nummer. Es klingelte nur einmal. Dann meldete sich eine gleichgültige Frauenstimme. »Dieser Anschluss ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.« Es klickte, als die Verbindung beendet wurde.

Enttäuscht ließ Julia den Hörer sinken.

Wo bist du, Marc? Warum kann ich dich nicht erreichen?

Vier Pfoten für Julia - Winterzauber

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