Читать книгу Vier Pfoten für Julia - Winterzauber - Katja Martens - Страница 9
4. Kapitel
Оглавление»Poppy?« Julia lief den Bernsteinweg hinunter und schaute sich suchend um. Der Sturm war zwei Nächte her und hatte seine Spuren in Prerow hinterlassen. Hecken und Dächer bogen sich unter der Schneelast. Hier und da waren Äste abgeknickt und lagen auf dem Gehweg und am Straßenrand.
Die Tierärztin schnalzte mit der Zunge, aber die Katze ihres Großvaters ließ sich nicht blicken. Seit dem Sturm war sie verschwunden. Dabei liebte Poppy ihr warmes Plätzchen am Küchenofen und blieb normalerweise nie länger als ein paar Stunden fort. Ihr Fernbleiben war ungewöhnlich. Aus diesem Grund hatte Julia an diesem Morgen beschlossen, den geliebten Stubentiger zu suchen. Sie lief am Prerower Strom entlang, vorbei am Restaurant Darßer Leuchtturm bis zur Ostseeklinik. Sie schaute sich fast die Augen aus, entdeckte jedoch keine Spur von der verschwundenen Katze. Für den Rückweg wählte sie eine andere Strecke und lief bis zum Rand des Darßwaldes im Westen von Prerow. Auch hier: nichts. Keine Spur von Poppy. Die Katze schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Ob sie im Schneesturm verletzt worden war? Wenn ein herabfallender Ast sie getroffen hatte … Es hieß, dass Katzen sieben Leben hatten, aber das machte sie nicht unverletzlich.
Inzwischen war die Kälte unter Julias Jacke gekrochen und ließ sie frösteln. Sie zog ihren Schal höher und beschloss, erst einmal nach Hause zu gehen und zu frühstücken. Vielleicht war die Katze ihres Großvaters inzwischen wieder aufgetaucht. Falls nicht, würde sie nach dem Essen weitersuchen.
Julia lief über die Waldstraße zurück nach Hause. Der bitterkalte Wind schnitt wie Nadelspitzen in ihre Wangen. Sie passierte verschneite Gärten und Kapitänshäuser und sah sich dabei immer wieder um. Irgendwo musste die Katze doch sein!
Vor dem Darß-Museum kam ihr Jonte Langstein entgegen. Der Leiter des Tierheims hatte einen Verband um den Kopf, der unter seiner blauen Wollmütze hervorblitzte.
»Jonte?« Erschrocken blieb Julia stehen. »Was ist Ihnen denn zugestoßen?«
»Ich wurde überfallen, vorletzte Nacht. Im Tierheim war ein Einbrecher. Er hat mich niedergeschlagen und ist geflüchtet.«
»Ein Einbrecher?« Julias Hand fuhr an ihren Mund. »Geht es Ihnen gut?«
»Abgesehen von etwas Kopfweh, ja.« Eine Falte grub sich zwischen seinen Augenbrauen ein. »Ich nehme an, der Vorfall wird heute in der Zeitung stehen.«
»Was wollte der Einbrecher denn?«
»Er hat sämtliche Katzen gestohlen.«
»Was sagen Sie da? Warum sollte das jemand tun?«
»Das ist eine gute Frage. Es könnten Tierschützer aus falsch verstandener Tierliebe gewesen sein. Allerdings hätten sie keinen Grund dafür gehabt. Den Katzen geht es gut bei uns. Sie werden tierärztlich betreut, haben genügend Platz und gutes Futter. Außerdem sind die übrigen Tiere noch da – die Schildkröte, die Vögel, selbst die Kaninchen.«
»Das macht keinen Sinn.«
»Ich weiß. Das Ganze ist ein Rätsel. Viele der Tiere hatten es bisher nicht leicht. Das hat sie misstrauisch gemacht. Selbst mir gelingt es manchmal kaum, sie zu erwischen, aber der Eindringling hat sie alle eingefangen. Er muss ein Händchen für Tiere haben, sonst hätte er das nicht geschafft.«
»Könnte es einer Ihrer Mitarbeiter gewesen sein?«
»Ich habe nur eine Tierpflegerin, und die liegt zurzeit mit einer schweren Grippe und vierzig Fieber im Bett. Sie kann es unmöglich gewesen sein.«
»Warum sollte überhaupt jemand so viele Katzen stehlen?«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht, und leider bin ich zu keinem Schluss gekommen.« Jonte rieb sich unbehaglich die verbundene Schläfe. »Ich kann mir das Ganze nicht erklären.«
»Wie viele Tiere sind verschwunden?«
»Zwei Dutzend. Es wären vielleicht noch mehr, wenn ich nicht zufällig dazugekommen wäre.«
»Verstehe.« Julia musste das Gehörte erst einmal verarbeiten. Das ging nicht so schnell. Das Tierheim war also überfallen worden. Jemand hatte die Katzen gestohlen und den Heimleiter niedergeschlagen. Aber wer? Und warum?
»Es gibt auch gute Neuigkeiten«, riss der Chef des Tierheims sie aus ihren Gedanken. »Erinnern Sie sich an den Golden Retriever mit der Schusswunde?«
»Natürlich! Wie geht es ihm denn?«
»Schon viel besser. Doktor Thiess glaubt, dass er durchkommen wird. Ich habe inzwischen auch seinen Besitzer ausfindig gemacht. Er war ihm ausgerissen.«
»Das sind wirklich gute Nachrichten.«
»In der Tat. Was dagegen die verschwundenen Katzen angeht, tappt die Polizei noch völlig im Dunkeln.«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Im Moment leider nicht.«
»Ich werde die Augen offen halten. Vielleicht erfahre ich etwas von den gestohlenen Tieren. Und Sie sollten sich ein wenig hinlegen und ausruhen, Jonte. Sie sehen blass aus.«
»Mir geht es gut. Ich brauche nur etwas frische Luft. Was ist mit Ihnen? Was führt Sie heraus in die Kälte?«
»Ich suche Madame Pompadour.«
Jonte sah sie verblüfft an. »Ist die nicht tot?«
»So heißt die Katze meines Großvaters. Poppy ist seit zwei Tagen verschwunden. Und das sieht ihr gar nicht ähnlich …« Julia stockte plötzlich. »Ob sie auch gestohlen wurde?«
»Möglich. Vielleicht hat sie aber auch nur ein Plätzchen gefunden, an dem sie es sich gutgehen lassen kann. Der Pfarrer füttert die Katzen aus der ganzen Umgebung. Sie sollten sich einmal in seinem Garten umsehen. Vielleicht treibt sich Ihre Poppy dort herum.«
»Das ist eine gute Idee. Danke.« Julia schöpfte neue Hoffnung. Sie verabschiedete sich von ihrem Bekannten und eilte die Straße hinunter zum Pfarrhaus. Hoffentlich war Poppy dort. Ihr Großvater wäre untröstlich, wenn sie verschwunden bliebe.
Diesmal hatte die Tierärztin Glück. Als sie sich dem Pfarrhaus näherte, hörte sie ein helles Maunzen. Es kam unter einer verschneiten Lärche hervor. Poppy! Julia stieß erleichtert den Atem aus. Sie rief die Katze beim Namen. Daraufhin kam diese unter dem Baum hervor und stromerte maunzend um ihre Beine, als wollte sie fragen: Warum hat das denn so lange gedauert?
Aufatmend hob Julia den Ausreißer auf ihren Arm.
»Du hast uns ganz schön erschreckt, weißt du das?«
Erleichtert lief sie mit der Katze auf dem Arm nach Hause.
Schon von weitem bemerkte sie, dass ihr Nachbar dabei war, seine Weihnachtsdekoration auszubauen. Hinnerk hatte eine Leiter an seine Hauswand gelehnt und montierte gerade einen Schneemann auf dem Dach. Julia widerstand dem Impuls, die Augen zu verdrehen. Sobald ihr Großvater das entdeckte, würde er sein eigenes Dach vermutlich mit einer ganzen Familie aus Schneemännern dekorieren! Höchstwahrscheinlich würden sie früher oder später wieder im Dunkeln sitzen. Wenigstens hatten sie jetzt, in der Vorweihnachtszeit, genügend Kerzen.
Julia schloss die Haustür auf und setzte Poppy im Flur ab. Die Katze schoss in Richtung Küche davon – vermutlich, um sich die Pfoten am Ofen aufzuwärmen.
»Was hast du denn mit Poppy gemacht?« Ihr Großvater kam die Treppe herunter und rieb sich verwundert den Bart. »Warst du mit ihr spazieren?«
»Nein, ich habe sie gesucht und zum Glück auch gefunden.«
»Gesucht? Warum denn?«
»Weil sie zwei Tage lang verschwunden war.«
»Was redest du denn da?«
»Sie war …« Julia stockte. »Hast du das etwa vergessen?«
»Sie war nicht verschwunden. Das würde ich doch wissen.« Sein Gesicht lief dunkelrot an, und er krampfte die Hände so fest um das Treppengeländer, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Wir haben uns Sorgen um Poppy gemacht, aber jetzt mache ich mir noch mehr Sorgen um dich«, sagte Julia. »Es ist kein gutes Zeichen, wenn du Dinge vergisst. Geh einmal zum Arzt und lass dich untersuchen.«
»Was soll ich denn da? Mir fehlt nix.«
»In letzter Zeit wirkst du zerstreut und unsicher.«
»Weil ich eine Menge um die Ohren habe. Im Winter herrscht bei uns Hochbetrieb, das weißt du doch. Es ist nur natürlich, dass ich hin und wieder mal etwas vergesse, also hör auf, mir einzureden, mit mir würde etwas nicht stimmen.«
»Aber, Großvater …«
»Lass es gut sein, Julia. Es ist schlimm genug, dass mich Gerti mit ihren Gesundheitstipps traktiert. Sobald sie von einer neuen Therapie hört, muss sie sie ausprobieren. Ganz egal, ob sie dafür mit Öl gurgeln oder eimerweise Knoblauch verspeisen muss. Fang du nicht auch noch damit an, ja?«
»Es könnte bestimmt nicht schaden, zum Arzt zu gehen.«
»Das wäre Zeitverschwendung. Mir fehlt nichts. Ich schlafe nur im Augenblick nicht sehr gut, das ist alles.« Ihr Großvater winkte ab. »Und jetzt entschuldige mich. Auf mich wartet ein Stapel Schreibarbeiten. Ich sollte wirklich an die Arbeit gehen.«
»Willst du denn nicht mit mir frühstücken?«
»Ich habe schon gegessen. Das Frühstück für die Gäste steht auch bereit. Den Kaffee habe ich in die Thermoskannen gefüllt und Zimtsterne für alle dazugestellt. Ich kümmere mich später um das Abräumen der Tische.« Mit diesen Worten wandte sich ihr Großvater um und verschwand in seinem Arbeitszimmer.
Kurz darauf schlug die Tür hinter ihm zu.
Julia schaute ihm sekundenlang nach. Dann ging sie in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee zu holen. Hunger hatte sie nicht mehr. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Hatte Großvater wirklich vergessen, dass Poppy verschwunden war? Wie ist das nur möglich? Seit Tagen hat er sich Sorgen um sie gemacht – und jetzt weiß er das plötzlich nicht mehr?
Raudi hatte sich unter dem Esstisch zusammengerollt und hob nun erwartungsvoll den Kopf, als wollte er fragen: Drehen wir zusammen eine Runde?
»Später, Raudi«, vertröstete sie ihn und schaltete das Radio ein. ‚Suzy Snowflake‘ wurde gespielt. Ein Klassiker. Die fröhliche Melodie erinnerte Julia an ihre Mutter. Früher hatten sie oft zur Weihnachtszeit zusammen gesungen. Ihre Mutter hatte ihr zahlreiche Lieder beigebracht. Oh, wie lange das her war! Es schien beinahe in einem anderen Leben gewesen zu sein …
Jetzt verhielt sich ihr Großvater merkwürdig und vergaß wichtigste Sachen. Sie hätte gern mit jemandem darüber gesprochen. Julia überlegte kurz, dann holte sie ihr Telefon. Sie wählte Marcs Nummer und hoffte, ihn so früh am Tag zu erreichen, wenn er noch nicht bei der Arbeit war.
Es klingelte einmal. Dann sprang die Mailbox an. Die kühle Frauenstimme forderte sie auf, eine Nachricht zu hinterlassen.
»Hallo, Marc …« Julia räusperte sich, weil ihre Stimme versagte. »Ich bin es. Julia. Wir haben seit Tagen nichts mehr voneinander gehört. Wie geht es dir? Ich bin bei meinem Großvater in Prerow. Hier ist es tiefster Winter, aber bei euch sicherlich auch, oder? Du … ruf mich an, ja? Bitte, ruf an.«
Sie legte auf und seufzte leise.
Wieder nichts …
Unvermittelt begann ihr Telefon zu klingeln. Das musste Marc sein. Sicherlich hatte er ihre Nummer erkannt und rief sie nun zurück. Hoffnungsvoll presste sie das Telefon ans Ohr. »Endlich!«, stieß sie hervor. »Ich freue mich so, dass du anrufst.«
»Ach, wirklich?«, fragte eine rauchige Stimme mit einem anzüglichen Unterton. Der Anrufer war männlich, aber eindeutig nicht Marc.
Julia traute ihren Ohren kaum. »Lennard?«, hakte sie verwundert nach.
»Derselbe«, kam es belustigt zurück. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du nicht wirklich auf meinen Anruf gewartet hast?«
»Ich … nein, ich dachte, es wäre jemand anderes.« Julias Gedanken wirbelten in ihrem Kopf durcheinander wie Schneeflocken im Sturm. Lennard und sie waren während ihres Studiums ein Paar gewesen, bis Julia herausfand, dass er auch mit anderen Frauen schlief. Die Trennung war unvermeidlich gewesen. Lennard war wenig später nach Hamburg umgezogen. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen.
Von Freunden wusste Julia, dass er ihr vor einigen Wochen die heißbegehrte Vertretungsstelle im Nachbarort vor der Nase weggeschnappt hatte. Lennard durfte in der Tierklinik einspringen. Sie hatte nicht erwartet, von ihm zu hören.
Warum rief er sie nun an?