Читать книгу Vier Pfoten für Julia - Fehlentscheidung - Katja Martens - Страница 6
1. Kapitel
ОглавлениеDer Nachtwind strich über die Heide und trug den melancholischen Ruf eines Fleckenkauzes weit in die Dunkelheit hinaus. Der Boden war staubtrocken, denn es hatte seit Tagen nicht mehr geregnet. Sandschwaden waberten über die hügelige Landschaft hinweg.
Eine Gestalt huschte durch das Unterholz. Die kräftige Statur verriet, dass es sich um einen Mann handelte. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und hatte seine Kapuze so tief in die Stirn gezogen, dass sie sein Gesicht verbarg. Nicht, dass er erwartete, erwischt zu werden, aber er wollte kein Risiko eingehen. Lautlos bewegte er sich zwischen den Ginsterbüschen hindurch. Dabei ging er so geschickt vor, als hätte er den unwegsamen Landstrich schon zahllose Male des Nachts durchmessen. Nur einen Steinwurf von ihm entfernt verlief eine staubige Fahrstraße, deren Spurrillen sich tief in den sandigen Boden eingegraben hatten, aber er zog die Deckung des Dickichts vor. Falls der Ranger eine nächtliche Kontrollfahrt unternahm, würde er ihn zwischen dem Grün nicht so schnell entdecken.
Der Mond stand voll und rund am Himmel und spendete genug Licht, um sich zu orientieren. Einmal blieb der Mann mit dem Ärmel an einem Ginsterbusch hängen und fluchte leise. Mit einer schnellen Bewegung zog er sein Jagdmesser aus der Scheide, befreite sich aus dem Gestrüpp und eilte weiter. Er trug ein Gewehr quer über dem Rücken und hatte festes Schuhwerk an den Füßen, das ihn sogar vor Schlangenbissen schützen könnte.
Das Naturschutzgebiet Königsbrücker Heide wurde früher als Truppenübungsplatz genutzt. Vor über einhundert Jahren war das Gelände für die Königlich Sächsische Armee angelegt und ständig erweitert worden. Ganze Dörfer hatten dafür weichen müssen. Otterschütz, Rohna, Sella und Steinborn – von diesen Orten erzählten inzwischen nur noch uralte Landkarten. Die Bewohner mussten ihre Gehöfte aufgeben und waren umgesiedelt worden. Noch heute fand man hier und da Reste der Siedlungen: alte Steinmauern, verwilderte Obstbäume und Brücken über dem Otterbach, die seit Jahrzehnten verwitterten und von niemandem mehr benutzt wurden, denn das Betreten des Gebietes war strengstens untersagt.
Sächsische Soldaten und später auch die Sowjets waren durch das Gelände gerobbt, hatten Exerzieren und Panzerschießen geübt und Chemiewaffen getestet. Nach dem Abzug der sowjetischen Armee im Jahr 1992 war das Gelände gesperrt worden. Der Boden war seitdem mit Altlasten gespickt, vor allem mit Resten von Sprengmitteln und Waffen. Die Soldaten hatten alles vergraben, was sie beim Abrücken nicht mitnehmen wollten. Selbst ganze Panzer sollen in der staubigen Erde zu finden sein.
Der nächtliche Wanderer glaubte sich nicht in Gefahr. In monatelanger Suche waren die Wege nach dem Abzug der Truppen von Hilfskräften geräumt und nach Munition abgesucht worden. Wenn man nicht gerade mitten im Gelände zu einem Spaten griff und anfing zu graben, war man sicher. Er hatte es nicht auf Munition oder andere militärische Souvenirs abgesehen. Trotzdem durfte er sich nicht erwischen lassen. Wenn die Ranger einen unbefugten Besucher erwischten, hagelte es nicht nur eine saftige Ordnungsstrafe, sondern auch jede Menge Ärger. Vor allem, wenn man eine Waffe bei sich trug.
Sein Gewehr schlug bei jedem Schritt gegen seinen Rücken, als er die Königshöhe erklomm. Er musste die Kuppe überwinden, um tiefer in das Gebiet vorzudringen. Auf der Anhöhe gestattete er sich eine kurze Verschnaufpause. Er blieb stehen und ließ den Blick über die scheinbar endlose Botanik schweifen, die sich vor ihm ausstreckte. Der Truppenübungsplatz war zum Naturschutzgebiet erklärt worden. Das Gelände durfte sich ohne menschliche Eingriffe weiterentwickeln, deshalb holte die Natur es sich allmählich zurück. Gras und Moos rissen die Asphaltwege auf. Fledermäuse besiedelten die Überreste der alten Bunker und über die Pulsnitz kehrten die Biber und Fischotter zurück, um sich anzusiedeln. Selbst Elche waren hier schon gesichtet worden. Und vor allem ein Raubtier, das in Deutschland als ausgestorben galt: der Wolf!
Gänsehaut rieselte dem einsamen Wanderer über den Rücken, aber er empfand nicht etwa Angst, sondern eine gespannte Erwartung. Wölfe waren scheu und gingen dem Menschen aus dem Weg. Aus diesem Grund war es höchst unwahrscheinlich, einem Wolf in freier Wildbahn zu begegnen. Der Vermummte wusste jedoch genau, wo er suchen musste. Sein kleiner Einbruch in das Kontaktbüro Wölfe in Sachsen hatte sich gelohnt. Die Forscherinnen dort führten nicht nur akribisch Aufzeichnungen über jede Wolfssichtung, nein, sie hatten auch Tiere mit Sendern ausgestattet und verfolgten ihre Routen. Auf diese Weise hatte er herausgefunden, wo sich ihre Höhle befand. Zielstrebig marschierte er weiter.
In Sachsen hielten sich ganze zwölf Rudel auf. Auf dem Truppenübungsplatz lebte ein Paar mit seinen Jungen. Er wusste, dass seine Mission hier Erfolg haben würde.
Königsbrück war weit genug von seinem Wohnort entfernt, sodass niemand den Angriff mit ihm in Verbindung bringen würde. Lautlos eilte er weiter und achtete darauf, dass ihm der Wind weiterhin entgegenkam. Wölfe spürten ihre Beute ebenso wie Gefahren über den Geruch auf. Sie konnten eine Witterung auf über zweieinhalb Kilometer Entfernung aufnehmen, deshalb durfte er nicht riskieren, sich durch seinen Körpergeruch zu verraten.
Sein Weg führte ihn nun bergab durch die Wüstung Quasdorf, die ebenfalls dem Übungsplatz hatte weichen müssen und von der nur noch wenige Steinmauern standen, von Gras und Moos überwuchert. Der Boden unter seinen Füßen wurde nun schlammiger. Vermutlich hatten die Biber in der Nähe den Fluss angestaut, dadurch legten sie auch das Gelände unter Wasser.
Er marschierte weiter gen Norden, bis er eine Heidefläche erreichte. Das war der Ort, den er aufsuchen wollte. Die Wölfe hielten sich häufig hier auf, weil sich ihre Wurfhöhle in der Nähe befand. Der Mann bewegte sich jetzt langsamer, sorgsam darauf bedacht, nicht das leiseste Geräusch zu verursachen.
Suchend blickte er sich um. Er brauchte ein Versteck – einen Ort, von dem aus er Ausschau halten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Sein Blick fiel auf eine Sandgrube, die von Heidebüschen umgeben tief genug war, um einem Erwachsenen Deckung zu bieten. Kurzentschlossen glitt er hinein und kniete sich hin, sodass er seine Umgebung im Blick behalten konnte. Danach legte er das Gewehr auf seinen Oberschenkeln ab. Nun hieß es warten. Er musste sich in Geduld üben und hoffen, dass sich die Wölfe in dieser Nacht zeigen würden. Sie durchstreiften auf ihrer Suche nach Beute ein großes Gebiet. Es konnten Stunden vergehen, bis sie zu ihrem Lager zurückkehrten. Er richtete sich auf eine lange Wartezeit ein – und wurde angenehm überrascht, als er nur eine halbe Stunde später aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Ein Tier näherte sich: Hochbeinig. Grau. Schwarze Schwanzspitze und gelbgrüne Augen. Canis lupus, der Europäische Grauwolf.
All seine Sinne waren mit einem Mal hellwach. Nahezu lautlos brachte er sein Gewehr in Anschlag und zielte auf das Tier, das an seinem Versteck vorbeitrabte. Die Zitzen waren im Mondlicht nur schwach zu erkennen, doch es genügte, um das Tier als Fähe zu identifizieren. Sie hielt einen Rehlauf zwischen den Zähnen. Zum Spielen für ihre Jungen?
Er kniff die Augen zusammen und nahm das Tier ins Visier. Sie war schlank und bewegte sich geschmeidig. Ein junges Exemplar. Perfekt! Die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf und sein Herz schien reines Adrenalin durch seine Adern zu pumpen. Er war kurz davor, sein Ziel zu erreichen. So kurz davor!
Er wollte gerade abdrücken, als er hinter der Wölfin eine Bewegung wahrnahm. Wer zum Teufel trieb sich noch hier herum? Es war eine Frau. Sie bewegte sich ebenso lautlos wie die Wölfin und war noch nicht von dem Tier bemerkt worden, aber es war nur eine Frage von Sekunden, bis sie es aufschrecken und vertreiben würde. Das durfte doch nicht wahr sein. Nicht jetzt!
Er kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Verdammt, er kannte die Frau! Sie war eine von den Wolfsforscherinnen. Sie kam den Weg entlang und hielt einen Ausrüstungskoffer in der Hand. Jeden Moment würde die Wölfin sie wahrnehmen und flüchten. Dann war die Gelegenheit verpasst. Ihm blieb nur eine Wahl: Er verkniff sich einen Fluch, zielte auf die Wölfin und drückte ab.
Das Geschoss zischte durch die Nacht. Volltreffer! Die Wölfin kippte zur Seite weg. Mit zuckenden Pfoten sank sie auf den Sandboden. Die Frau stieß einen Schrei aus. Er schwenkte den Lauf der Waffe nun auf sie. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand er Bedauern, dann krümmte er den Finger am Abzug. Ein weiterer Treffer. Das Betäubungsmittel tat augenblicklich seine Wirkung. Wie schon die Wölfin kurz zuvor stürzte nun auch die Frau auf den sandigen Boden nieder und blieb bewusstlos liegen.
Er hatte sein Ziel erreicht, aber anstelle des erwarteten Triumphes empfand er nur Leere. Der fiebrige Rausch der Jagd war verflogen. Er ließ sein Gewehr sinken und starrte auf die beiden reglosen Körper. Der Nachtwind wehte Staub und Sand über sie hinweg. Bald würden die Spuren von allem verwehen, was hier geschehen war. Niemand würde ihm je auf die Schliche kommen. Wirklich niemand.