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3. Kapitel

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»Halte durch, Kleiner«, flüsterte Julia dem Hund beruhigend zu. Sie schwitzte unter ihrem Mundschutz und in dem grünen Kittel, verzichtete jedoch darauf, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ihre behandschuhten Hände waren voller Blut.

Der Dackel lag vor ihr auf dem metallenen Behandlungstisch. Er wies Zeichen eines Schocks auf und sein Herz raste. Er war dem Angreifer deutlich unterlegen gewesen und hatte mehrere tiefe Bisswunden davongetragen. Diese Verletzungen waren möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs. Wenn ein kleiner Hund von einem größeren gepackt und geschüttelt wurde, entstanden Scherkräfte, die zu lebensgefährlichen Verletzungen des Kopfes, des Halses und der Wirbelsäule führen konnten. Außerdem war es möglich, dass auch Muskeln und Bindegewebe in Mitleidenschaft gezogen wurden. Es galt zuerst, seinen Zustand zu stabilisieren, sonst würde er ihr unter den Händen verbluten.

Julia legte eine Infusion. Ihr Patient brauchte dringend eine Volumenauffüllung, sonst würde sein Kreislauf innerhalb weniger Minuten versagen. Sie injizierte ihm ein Schmerzmittel sowie ein Breitbandantibiotikum, denn im Speichel seines Angreifers waren vermutlich zahllose Erreger gewesen.

Als der Zustand des Dackels einigermaßen stabil war, röntgte sie seinen Brustkorb, weil sie sich ein Bild vom Ausmaß seiner Verletzungen machen wollte.

Wenig später lagen ihr die digitalen Aufnahmen vor.

»Du hattest noch einmal Glück, Kleiner«, stellte sie fest. »Deine Lunge und die Wirbelsäule haben nichts abbekommen. Dann wollen wir mal sehen, wie es dir sonst so geht.«

Sie machte ein EKG und neurologische Untersuchungen. Nichts deutete auf eine Schädigung des Herzens oder des Gehirns hin. Auch das war gut. Trotzdem würde ihr Patient um eine Operation nicht herumkommen. Sie musste seine Wunden säubern und das geschädigte Gewebe entfernen. Danach würde sie eine Saugdrainage anbringen, um die Wunden in den nächsten Tagen sauber zu halten. Außerdem war es wichtig, dass die Fraktur gespült und chirurgisch stabilisiert wurde. Kein Knochensplitter durfte in der Wunde verbleiben.

Julia setzte den Dackel unter Vollnarkose und begann mit ihrer Arbeit. Immer einen Blick auf seinen Blutdruck und seine Atmung haltend, versorgte sie die Verletzungen und schiente seinen gebrochenen Vorderlauf.

In der Praxis war es drückend heiß, jedoch musste sie sich auf jeden Handgriff konzentrieren. Sie arbeitete entsprechend fokussiert, hantierte mit Skalpell und Faden und richtete sich eine Dreiviertelstunde später erschöpft auf.

Geschafft!

Sie bettete den Dackel behutsam in eine Aufwachbox und ließ ihn an die Infusion angeschlossen. Er würde noch eine ganze Weile weiterschlafen. »Erhol dich gut, Loisl.« Julia nickte zufrieden, streifte Handschuhe und Mundschutz ab und zog den Kittel aus. Danach ging sie ins Wartezimmer, in dem der Rentner aufgeregt vor dem Fenster auf und ab lief. Als er Julia bemerkte, blieb er stehen und sah sie angsterfüllt an. Er schien kaum zu wagen, die Frage zu stellen, die ihm auf der Seele brannte: Wie ist die Operation verlaufen?

»Loisl war sehr tapfer«, berichtete Julia ihm. »Er hat alles gut überstanden. Im Augenblick ist er noch ziemlich erschöpft von den Strapazen, aber das wird wieder. Wir werden ihn vorsichtshalber ein paar Tage zur Beobachtung hierbehalten.«

»Mei, haben Sie vielen Dank, Frau Doktor«, stieß der Besucher hervor. »Der Loisl gehört doch zur Familie. Meine Frau wäre untröstlich, wenn ihm etwas zustoßen würde. Darf ich mich eine Weile zu ihm setzen?«

»Natürlich. Gehen Sie ruhig zu ihm. Ich schaue in einer halben Stunde auch wieder nach ihm.«

Der Rentner bedankte sich noch einmal, ehe er im Behandlungszimmer verschwand. Ein Stuhl wurde gerückt. Dann konnte man eine leise Stimme hören, die murmelte: »Was machst du nur für Sachen? Ich hatte solche Angst um dich.«

Julia verließ das Haus, um die restlichen Umzugskartons zu holen. Zu ihrer Erleichterung war der Lieferwagen bereits leergeräumt. Marc hatte die Kisten schon hineingetragen. Als sie sich auf die Suche nach ihm machte, hörte sie aus der Küche das Klappern von Geschirr und wandte sich dorthin um.

Elfi Kofler füllte gerade Wasser in die Kaffeemaschine. Die Wirtschafterin sorgte seit vielen Jahren für die Bewohner des Tierarzthauses. Sie war eine herzensgute Frau Anfang sechzig, die Julia nun ohne lange Umstände umarmte. »Ich freue mich, dass du jetzt endlich hierhergehörst«, sagte sie. »Nach Evas Tod hatte ich befürchtet, Marc würde seines Lebens nicht mehr froh werden, aber jetzt hat er dich. Es ist gut, dass du da bist.«

»Dankeschön, Elfi.«

»Der Kaffee ist gleich fertig. Möchtest du ein Stück Apfelstrudel dazu?«

»Sehr gern sogar. Ich packe nebenan noch ein paar Sachen aus. Rufst du mich bitte, wenn alles bereit ist?«

»Freilich.« Der Küchenwecker summte. Die Wirtschafterin öffnete die Ofenklappe und holte einen Apfelstrudel heraus, der so verführerisch duftete, dass Julia das Wasser im Mund zusammenlief. Sie ging ins Wohnzimmer hoch und machte sich daran, ihre Bücherkiste auszupacken. Marc hatte ein Regalbrett für sie geräumt. Julia stellte die Romane hinein und entschied, ihre Fachbücher oben in ihrem Arbeitszimmer unterzubringen.

Ihr Blick fiel auf ein Aquarell, das über dem Sofa hing und ein Alpenhaus zeigte. Die Malerei wirkte unbeholfen und farblos. Julia beschloss, das Bild abzunehmen und gegen ein Gemälde vom Ostseestrand auszutauschen. So würde sie immer ein Stück Heimat vor Augen haben. Sie hielt das Aquarell gerade in der Hand, als Marc hereinkam und die Stirn runzelte.

»Was hast du denn mit dem Bild vor?«

»Es ist nicht gerade ein Blickfang. Ich möchte es gegen ein Ostseebild austauschen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Das ist keine gute Idee. Das Bild hat mir meine Frau zu unserem ersten Hochzeitstag geschenkt. Sie hat es selbst gemalt. Es zeigt unser Haus. Ich möchte nicht, dass es in irgendeiner Abstellkammer verschwindet.«

»Es ist von deiner Frau?« Bestürzt schaute Julia auf die Leinwand nieder.

»Häng das Bild bitte wieder auf, ja? Und sprich es in Zukunft vorher mit mir ab, ehe du meine Sachen wegstellst.«

»Tut mir leid, mir war nicht klar, dass dir das Bild so viel bedeutet.« Julia hängte es zurück an seinen Platz. Sie fühlte sich plötzlich unbehaglich. Erneut war sie kurz davor gewesen, in ein gravierendes Fettnäpfchen zu treten. »Muss ich dich immer fragen, wenn ich eine Veränderung am Haus vornehmen will?«

»Fragen ist nicht der richtige Ausdruck, aber ich finde, wir sollten wichtige Veränderungen vorher besprechen. Dir würde es doch auch nicht gefallen, wenn ich plötzlich Sachen aus deinem Kleiderschrank weggeben würde, oder?«

»Stimmt. Du hast recht. Ich bin es wohl einfach nicht gewohnt, meine vier Wände mit jemand anderem als Raudi und meinem Großvater zu teilen.«

»Und Raudi protestiert eher selten, wenn du umdekorierst, was?« Die Anspannung wich aus Marcs Gesicht und machte einem Lächeln Platz. »Wie geht es Loisl?«

»Ganz gut. Er ist noch ziemlich groggy von der Narkose, aber er kommt wieder auf die Pfoten.«

»Er hat großes Glück, dass du ihn versorgt hast. Hast du eigentlich über das Angebot meines Schwiegervaters nachgedacht?«

»Du meinst, ob ich in seine Praxis einsteigen will?« Julia lehnte sich mit dem Rücken an das Fensterbrett und spürte die warme Sommersonne auf ihren Schultern. »Ja, ich habe lange darüber gegrübelt und mich im Endeffekt dagegen entschieden. Zum einen braucht er mich nicht wirklich. Er schafft seine Arbeit noch wunderbar allein. Und zum anderen möchte ich gern noch eine Zeitlang als Springerin arbeiten und mehr Erfahrungen sammeln, ehe ich mich irgendwo fest niederlasse.«

»Erfahrungen könntest du auch hier sammeln.«

»Aber nicht so, wie ich es in unterschiedlichen Praxen kann. Außerdem möchte ich mich nicht in einer fertig eingerichteten Praxis zur Ruhe setzen, sondern mir etwas Eigenes aufbauen. Verstehst du das?«

»Natürlich, aber ich fände es schön, wenn du immer hier wärst und nicht ständig herumreisen müsstest. Wärst du nicht lieber bei Lotta und mir, als andauernd auf Achse zu sein?«

Julia schwieg sekundenlang. Natürlich wäre sie gern immer bei ihren Lieben. Andererseits reizten die Herausforderungen ihrer Arbeit sie viel zu sehr, um sie aufzugeben.

»Du würdest schon genug zu tun haben, das weißt du.«

»Natürlich. Doch darüber können wir noch einmal reden, wenn er sich irgendwann zur Ruhe setzen will, aber im Augenblick steht das noch nicht zur Debatte. Es ist seine Praxis, nicht meine.«

»Ich verstehe.« Marc klang enttäuscht.

Julia öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber sogleich wieder. Sie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. War es egoistisch, wenn sie ihre neu gewonnene Familie alleinließ, um in fremden Praxen einzuspringen? Aber das war ihr Beruf! Sie liebte ihre Arbeit. Musste sie die wirklich aufgeben, nur um für Marc und Lotta da zu sein? Konnte sie nicht beides zu gleichen Teilen haben?

Vier Pfoten für Julia - Fehlentscheidung

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