Читать книгу Vier Pfoten für Julia - Zoo-Alarm! - Katja Martens - Страница 7
2. Kapitel
ОглавлениеSchäumend schlugen die Wellen der Ostsee an das Ufer. Der Sturm blies von Norden über den Darß, trieb das Meer auf und zerrte an den Kiefern, sodass sie sich ächzend neigten. Gischt sprühte. Die Luft war schneidend kalt und roch nach Salz und Tang.
Julia Sperling zog fröstelnd die Schultern hoch und vergrub die Hände tiefer in den Taschen ihres Mantels. Sie wünschte sich, sie hätte daran gedacht, ihre Handschuhe mitzunehmen, als sie zu ihrem Spaziergang mit Raudi aufgebrochen war. Der Französischen Bulldogge schien die Kälte nichts auszumachen. Raudi stürmte voraus und wühlte im Sand, sodass die Körner nach allen Seiten flogen. Dann hob er den Kopf und stellte seine Fledermausohren auf, als würde er in den Sturm hineinlauschen, nur um im nächsten Augenblick mit seiner Beschäftigung fortzufahren. Er hatte sichtlich Spaß daran.
Wehmütig sah ihm die Tierärztin beim Spielen zu. In wenigen Stunden würden sich ihre Wege trennen …
Schnee lag auf dem Darß schon seit Tagen keiner mehr. Die Meteorologen sagten allerdings für das Wochenende neue Niederschläge voraus, dann würde es sicherlich noch einmal weiß werden. Der bitterkalte Wind verriet, dass der Winter noch nicht bereit war, dem Frühling zu weichen. Doch wenn es wieder schneite, würde Julia schon nicht mehr hier sein.
Die Tierärztin blieb neben ihrem Hund stehen und zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche. Vor dem nächsten Anruf grauste es ihr, aber das half nun alles nichts. Sie hatte noch nie etwas auf die lange Bank geschoben – und sie würde jetzt bestimmt nicht damit anfangen! Entschlossen drückte sie eine Kurzwahltaste und hörte das melodische Wählgeräusch im Hörer. Es klingelte zweimal, dann meldete sich die warme, ein wenig raue Männerstimme ihres Freundes, die Julia an heiße Schokolade mit dunklen Schokoladensplittern denken ließ.
»Wann soll ich dich abholen, Liebes?« Ein Lächeln schwang in Marcs Stimme mit. Der Klang war Julia so vertraut, als würden sie einander schon jahrelang kennen, dabei war sie dem Polizisten erst vor wenigen Monaten bei ihrem Einsatz im Bayerischen Wald begegnet. Gemeinsam mit Marc hatte sie eine Serie von Tiermisshandlungen aufgeklärt und sich dabei in ihn verliebt. Ihre Beziehung war jedoch nicht frei von Schwierigkeiten. Julias Einsätze führten sie in die entlegensten Teile der Republik. Dadurch sah sie ihren Freund oft wochenlang nicht. Außerdem hatte Marc den Tod seiner Frau noch nicht verwunden. Es fiel ihm schwer, wieder jemanden in sein Leben zu lassen – und in das Leben seiner Tochter. Einen wichtigen Schritt hatten sie jedoch schon getan: Zu Weihnachten hatte Marc sie überraschend gefragt, ob sie zu ihm ziehen wollte, und Julia hatte ja gesagt.
Zu dem Umzug war es allerdings noch nicht gekommen. All ihre Sachen und Bücher lagen noch hier in Prerow. Sie besaß noch nicht einmal einen Schlüssel für Marcs Haus.
»Julia?«, hakte er besorgt nach, als sie nichts sagte.
»Was? Oh. Ich … es tut mir leid, aber ich werde dich am Wochenende nicht besuchen können.«
»Schon wieder nicht?« Seine Enttäuschung war nicht zu überhören. »Was ist es denn diesmal?«
»Ich habe einen neuen Auftrag bekommen. In einem Tierpark ist kurzfristig der Tierarzt ausgefallen. Nun suchen sie händeringend nach einer Vertretung.«
»Und du hast schon zugesagt.« Er seufzte leise. »Ich dachte, wir machen uns ein paar schöne Tage, wenn du Lotta und mich besuchst. Ich wollte dir endlich deinen Schlüssel geben. Außerdem habe ich eine Überraschung für dich geplant.«
»Können wir das verschieben? Im Zoo werde ich dringend gebraucht. Dort werde ich eine Menge über exotische Tiere lernen können. So nah an Elefanten und Krokodile komme ich so schnell nicht wieder heran.«
»Ich verstehe schon. Wann kannst du dann herkommen?«
»Ich weiß noch nicht, wann ich freihaben werde. Nächste Woche vielleicht. Spätestens in zwei Wochen.«
»Du fehlst mir, Julia. Ich denke oft an dich und frage mich, wie es dir geht und was du gerade tust.«
»Ich vermisse dich auch.«
»Wirklich?«
»Zweifelst du etwa daran?«
»Es fällt mir gerade ziemlich schwer, das nicht zu tun. Du verschiebst deinen Besuch bei uns nun schon seit Wochen, ganz zu schweigen von deinem Einzug. Hast du es dir anders überlegt? Sag es mir bitte, Julia. Wir können über alles reden, aber ich muss wissen, was in dir vorgeht.«
»Es ist wirklich nur die Arbeit«, versicherte Julia und verspürte mit einem Mal einen Stich tief im Inneren. Stimmte das? Oder hatte sie etwa Angst? Fürchtete sie, sich auf einen Mann einzulassen und wieder verletzt zu werden? Wie von ihrem früheren Freund?
Sekundenlang schwiegen sie beide.
Die Stille wurde immer unangenehmer, je länger sie andauerte.
Schließlich hielt Julia es nicht mehr aus und räusperte sich. »Wie geht es Lotta?«
»Schon besser. Ihr Infekt ist fast weg. Morgen müssen wir noch einmal zum Kinderarzt, aber ich denke, das Schlimmste ist überstanden.«
»Das freut mich zu hören. Also ist sie wieder munter?«
»Wie man’s nimmt. Ihre Katze wird vermisst. Seit Tagen ist sie nicht nach Hause gekommen. Ich fürchte, sie ist weggelaufen oder wurde überfahren.«
»O nein! An Luna hängt ihr ganzes Herz. Lotta muss am Boden zerstört sein.«
»Und ob. Wir haben draußen alles abgesucht, aber die Mieze ist spurlos verschwunden. Mir ist klar geworden, es war zu früh für ein Haustier. Lotta ist einfach noch zu klein.«
»Glaubst du nicht, dass sie mit ihren fünf Jahren …«
»Nein. Ich hätte gar nicht erst nachgeben dürfen. Sie hat schon ihre Mutter verloren. Ich will nicht, dass sie noch einmal jemanden hergeben muss, den sie liebt. Vorerst kommt uns kein neues Haustier in die vier Wände.« Marc stieß hörbar den Atem aus. »Aber nun erzähl mal: Wohin führt dich dein neuer Auftrag?«
»Nach Leipzig. Der Zootierarzt ist krank geworden, und ich soll für ihn einspringen. Das ist eine große Herausforderung.«
»Ausgerechnet Leipzig? Ist das dein Ernst?«
»Was spricht denn dagegen?«
»In der Zeitung stand heute Morgen, dass eine Schülerin im Leipziger Stadtwald einen Toten gefunden hat. Die Polizei konnte bisher noch nicht ausschließen, dass ein Verbrechen vorliegt.«
»Willst du mir etwa Angst machen?«
»Ich will nur, dass du auf dich aufpasst. Möglicherweise läuft in der Stadt ein Mörder frei herum.«
»Vielleicht war es auch nur ein Unglücksfall.«
»Sei trotzdem auf der Hut, ja? Du bist manchmal zu leichtfertig, Julia.«
»Nur weil ich nicht ständig vom Schlimmsten ausgehe so wie du?« Julia krauste die Stirn. Sein Vorwurf traf sie. Leichtfertig? Sah er sie wirklich so?
Er lenkte sogleich ein, dass er sich nur Sorgen um sie machte. Trotzdem hatte sich ein Misston in ihr Gespräch geschlichen. Von Angesicht zu Angesicht hätten sie es vielleicht ausräumen können, aber am Telefon war das nicht so einfach.
»Telefonieren wir morgen wieder?«, fragte er. »Ruf mich an, sobald du in Leipzig angekommen bist, ja?«
»Das mache ich«, versprach sie ihm bedrückt. Sie würden sich am Wochenende wieder nicht sehen, was allein an ihr lag. In den vergangenen Wochen war ihr häufig etwas dazwischengekommen. Diesmal hatte sie fest vorgehabt, Marc zu besuchen, aber dieser Auftrag in Leipzig … den konnte sie sich einfach nicht entgehen lassen.
Sie verabschiedeten sich voneinander, aber das wirklich Wichtige schien ungesagt zu bleiben.
Nachdenklich rief Julia nach Raudi und lenkte ihre Schritte nach Hause. Dabei war sie in Gedanken bei Marc. Er sprach nie über seine Gefühle und das verunsicherte sie. Vielleicht zögerte sie deshalb, mit Sack und Pack bei ihm einzuziehen?
Ihr Großvater besaß eine Pension in Strandnähe. Er hatte Julia bei sich aufgenommen, als ihre Eltern bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen waren. Ohne ihn hätte sie ihr Studium vermutlich niemals geschafft.
Rasmus Sperling stand im Garten auf einer Leiter und hackte Eiszapfen von der Dachrinne. Als Julia durch das Gartentor trat, kletterte er die vier Sprossen herunter und kam ihr entgegen. »Unglaublich, wie viel Eis sich da oben angesammelt hat«, grummelte er und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Kann ich dir helfen?«
»Lass mal, Mädchen. Das schaffe ich schon. Musst du nicht langsam packen?«
»Ja, das sollte ich. Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich heute Abend schon fahre?«
»Aber ja. Offenbar weiß man im Zoo dein Fachwissen zu schätzen. Ich bin stolz auf dich.« Seine grauen Augen blickten lächelnd in ihre. Dann rieb er sich das Kinn. »Ich sollte hier weitermachen, ehe uns die Eiszapfen auf den Kopf fallen. Weißt du vielleicht, wo ich meinen Hammer hingelegt habe?« Er sah sich suchend um.
»Meinst du den hier?« Julia deutete auf das Werkzeug, das in seinem Gürtel steckte.
»Oh, da ist er ja.«
Ein flaues Gefühl breitete sich in ihr aus. »Hast du deine Medikamente heute früh eingenommen?«
»Natürlich. Das vergesse ich nicht mehr, seitdem du mir die Pillenbox mit der Zeitschaltuhr geschenkt hast. Sie erinnert mich jeden Morgen um sieben mit einer Melodie an die Einnahme.« Die Fältchen um seine Augen vertieften sich.
Vor einigen Monaten war ihr Großvater auffallend vergesslich geworden. Julia hatte befürchtet, es könnte sich um eine beginnende Demenz handeln. Die Diagnose seines Hausarztes war jedoch eine Schilddrüsenunterfunktion gewesen. Die Erkrankung führte zu ähnlichen Symptomen wie eine Demenz, war aber gut behandelbar.
Trotzdem vergaß ihr Großvater hin und wieder etwas.
Was, wenn sich sein Hausarzt täuschte? Wenn noch etwas anderes hinter seinen Beschwerden steckte? Diese Sorge wurde Julia nie ganz los. Sie legte ihrem Großvater eine Hand auf den Arm und konnte plötzlich nichts sagen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Was ist denn los?« Rasmus legte fragend den Kopf schief. »So traurige Augen hast du sonst nur, wenn dir etwas Sorgen macht. Stimmt etwas nicht?«
»Oh, ich …« Weiter kam Julia nicht, weil eine kleine, rundliche Frau hinter dem Gartenzaun auftauchte. Gerti Winkler gehörte ein Café in der Nähe. Sie war seit vielen Jahren mit Julias Großvater befreundet und gehörte beinahe zur Familie. An diesem Nachmittag hatte sie einen roten Mantel an und trug zusätzlich einen dicken Wollschal um den Hals gewickelt.
»Juhu!« Gerti schwenkte einen Glaskrug, der mit Alufolie abgedeckt war und in dem eine grüne Flüssigkeit schwappte. »Hier ist ein Vitamintrunk für euch. Hab‘ ich selbst gemacht.«
»Was ist da drin?« Skeptisch beäugte Julias Großvater das Getränk. »Sieht aus wie Spinatsaft.«
»Ist es auch. Mit Zitrone und gemahlenen Pinienkernen. Sehr gesund! Trinkt ihn, bevor er schlecht wird.«
»Du meinst, bevor uns davon schlecht wird, oder, Gerti?«
»Bei diesem Wetter kann man gar nicht genug Vitamine zu sich nehmen.« Gerti drückte dem Großvater resolut den Krug in die Hand und warf ihm einen mahnenden Blick zu.
Er verzog das Gesicht, als hätte er Schneckenschleim vor sich. »Dein Gesundheitsfimmel wird uns eines Tages noch umbringen«, prophezeite er.
Die Besucherin lachte nur, ehe sie sich an Julia wandte. »Wann musst du nach Leipzig aufbrechen?«
»Heute Abend noch.«
»Oh! So bald schon?«
»Ja, der Zoo braucht dringend eine Vertretung. Je eher ich dort bin, umso lieber ist es ihnen.«
»Ich verstehe. Wo wirst du wohnen?«
»Im Haus meines erkrankten Kollegen. Er hat ein Gästezimmer, das ich nutzen kann.«
»Wie praktisch.« Gerti strich ihr über den Arm. »Mach dir um uns keine Sorgen. Ich werde schon achtgeben, dass dein Großvater gesund bleibt. Ruf nur ab und zu an und erzähl uns, wie es läuft, ja?«
»Das mache ich natürlich.«
»Gut. Ich habe nämlich das Gefühl, dass dich in Leipzig eine aufregende Zeit erwartet!«