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Prolog

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Rote Welle!

Ungeduldig trommelte Julia Sperling mit den Fingern auf das Lenkrad. Vor ihr staute sich der Verkehr. Bremslichter und rote Ampeln schimmerten durch das Grau des Nieselregens. An diesem Nachmittag schien alles, was Räder hatte, auf den Berliner Straßen unterwegs zu sein. Quälend langsam wälzte sich der Verkehr den Hohenzollerndamm hinunter. Julia hatte geschlagene zehn Minuten für eine Strecke von fünfzig Metern gebraucht. Wenn das so weiterging, würde sie es nie rechtzeitig zu ihrer Prüfung schaffen!

Irgendwo ertönte eine Hupe. Offenbar war einem Autofahrer der Geduldsfaden gerissen. Oder hatte es einen Unfall gegeben? Julia beugte sich über ihr Lenkrad und spähte durch die Windschutzscheibe nach vorn, aber außer Kolonnen von Fahrzeugen konnte sie nichts erkennen. Ein Radfahrer schob sich rechts an den wartenden Autos vorbei und erntete ein Hupkonzert. Ungerührt setzte er seine Fahrt fort, den Kopf tief über den Lenker gebeugt.

Bis zum Veterinärmedizinischen Institut der Freien Universität Berlin war es normalerweise von Julias Wohnung aus eine Fahrt von zwanzig Minuten. Plus Parkplatzsuche. An diesem Tag würde sie allerdings dreimal so lange brauchen – und das auch nur, wenn diese verflixte Ampel da vorn endlich auf Grün schaltete. Ansonsten sah es finster aus. Stockfinster.

Dabei war Julia extra zeitig losgefahren. Rasch überschlug sie die Zeit im Kopf. Ihr blieb noch eine knappe Stunde bis zu ihrer Prüfung. Das konnte reichen. Gerade so …

Ich hätte doch die S-Bahn nehmen sollen, warf sie sich in Gedanken vor, dann wäre ich längst da. Bei diesem Wetter hatte sie nicht zur Bahnstation laufen wollen, um nicht nassgespritzt vor den Prüfern zu stehen, aber das wäre ihr jetzt auch egal.

Sie trank einen Schluck Kaffee und stellte den Thermobecher wieder in die Halterung neben dem Lenkrad. Im selben Moment sprang die Ampel vor ihr auf Grün. Endlich! Julia legte den ersten Gang ein, machte sich bereit – und seufzte, als sich das Auto vor ihr keinen Millimeter von der Stelle bewegte. Warum ging es denn nicht weiter? Es war doch grün! Es zuckte ihr in den Fingern, auf die Hupe zu drücken und ihrer Anspannung Luft zu machen, aber sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Sicherlich blieben die Autos vor ihr nicht aus Lust und Laune stehen. Vermutlich reichte der Rückstau über die nächste Kreuzung hinaus. Sie hatte keine andere Wahl, als sich in Geduld zu üben. Und das ausgerechnet heute! Kurz vor der letzten mündlichen Prüfung ihrer gesamten Studienlaufbahn!

Ihr Mobiltelefon meldete sich mit den ersten Takten der Filmmusik aus Rocky. Dieser Klingelton war für ihre beste Freundin reserviert. Carola Aldag war Journalistin und stürzte sich am liebsten kopfüber in immer neue Abenteuer – fest davon überzeugt, dass am Ende immer alles gut ausgehen würde. Als Journalistin war Carola ständig auf Achse, aber das tat ihrer Freundschaft keinen Abbruch. Sie telefonierten mehrmals in der Woche und trafen sich, wann immer es ihre Zeit erlaubte.

Julia drückte den Sprechknopf der Freisprecheinrichtung. Im nächsten Augenblick war eine helle Frauenstimme zu hören, die sich gut gelaunt erkundigte: »Hallo, Julia, wartest du schon in den heiligen Hallen der Uni auf deine Prüfung?«

»Schön wär’s.« Julia winkte ab, auch wenn ihre Freundin das durch das Telefon hindurch nicht sehen konnte. »Ich stehe noch im Stau.«

»Ach herrje. Na, dann kann ich dir wenigstens in aller Ruhe viel Glück wünschen. Was bist du eigentlich nach deinem Abschluss? Dr. med. biss? Oder Dr. vier. beiner?«

»Wohl eher Dr. beiß. mich. nicht.«

»Klingt nach einem guten Buchtitel.« Ihre Freundin lachte. „Und wie heißt es nun richtig?«

»Doktor medicinae veterinariae. Oder abgekürzt: Dr. med. vet.«

»Hört sich kompliziert an, aber du hast ja auch lange genug dafür gearbeitet.«

»Wem sagst du das?« Julia dachte an die Jahre, die hinter ihr lagen. Sie hatte Veterinärmedizin studiert, nebenbei gefühlte hundert Nebenjobs gehabt und schließlich ihre Doktorarbeit zum Thema »Eutergesundheit und Antibiotikaeinsatz beim Rind« geschrieben. Nun stand ihr noch eine mündliche Prüfung bevor, ehe sie ihre Dissertation verteidigen konnte. Danach war es geschafft. Sobald sie ihren Titel hatte, konnte sie endlich mit ihrem Verlobten die gemeinsame Praxis für Kleintiere aufmachen, von der sie schon so lange träumten …

»Und du willst wirklich eine Gemeinschaftspraxis mit deinem Schatz aufmachen?«, hakte Carola nach, als hätte sie Julias Gedanken gelesen.

»Natürlich. Das planen David und ich schon lange. Er wird seinen Job in der Tierklinik kündigen und ab Oktober mit mir zusammenarbeiten.«

»Dann werdet ihr euch jeden Tag von früh bis spät sehen. Macht dir das keine Angst?«

»Warum denn? Ich freue mich darauf!«

»Es wird keine Geheimnisse mehr zwischen euch geben. Keinen Raum für euch allein. Ihr werdet ständig aufeinander hocken.«

»Genau das wollen wir auch.«

»Überleg dir das gut. Wenn du dich darauf einlässt, wird dein Leben verplant sein. Dann kannst du nicht mehr zurück. Du bist jetzt siebenundzwanzig und kennst nur dein Heimatdorf und die Uni. Willst du nicht erst einmal etwas von der Welt sehen und Abenteuer erleben, ehe du dich für den Rest deines Lebens festlegst?«

»Ich liebe David, und ich bin mir sicher bei ihm. Mir bereitet es nur Magendrücken, dass wir einen hohen Kredit aufnehmen müssen, um die Praxis kaufen und einrichten zu können. Das ist ein großer Schritt, aber wir sind soweit, ganz bestimmt.«

»Was ist mit deinem Traum, Nutztiere zu behandeln? Du liebst es, dich um Rinder, Kühe und Schweine zu kümmern. Stallgeruch und Gummistiefel sind deine Welt. Sogar deine Doktorarbeit hast du über Kühe geschrieben. Und jetzt willst du eine Praxis für die Haustiere der Schönen und Reichen eröffnen? Das passt doch gar nicht zu dir.«

»Ich … Warte kurz, ja?« Der Wagen vor Julia setzte sich in Bewegung. Sie gab Gas und nahm sich ein wenig Zeit zum Nachdenken. Ihre Freundin hatte den Finger direkt in die Wunde gelegt. Früher hatte Julia tatsächlich geplant, in einer Praxis für Nutztiere zu arbeiten, aber ihr Verlobter hatte sie davon überzeugt, dass es besser war, sich um Haustiere zu kümmern, als sich tagaus, tagein im Stall die Seele aus dem Leib zu schwitzen, Kühe zu besamen und Kälbern auf die Welt zu helfen. David plante eine Praxis in einem Nobelviertel, mit der sie sicherlich ein gutes Auskommen haben würden. Sie würden eine gemeinsame Praxis eröffnen, heiraten und eine Familie gründen. Alles war gut. Julia nickte kaum merklich vor sich hin. »Ich bin mir sicher, dass wir das Richtige tun, Caro.«

»Na gut, aber vergiss nicht, was Shirley MacLaine gesagt hat.«

»Die Schauspielerin?«

»Genau. Eine lebenskluge Frau, wenn du mich fragst. Sie hat mal gemeint: ‘Je mehr ich über Männer in Erfahrung bringe, desto mehr liebe ich meinen Hund.’«

Julia lachte leise. »Weiß Erik, dass du so denkst?«

»Wer?«

»Erik, dein Freund.«

»Wer?«

»Dein … Oh! Sag bloß, ihr habt euch getrennt?«

»Gestern Abend. Er wollte, dass ich seine Eltern kennenlerne. Da wusste ich, dass es Zeit wird, die Sache zu beenden.«

»Ach, Caro.« Julia verdrehte die Augen. Caro war ständig verliebt, aber ihre Beziehungen hielten nie länger als ein paar Wochen. Manchmal fragte sie sich, ob ihre Freundin je den Mann kennenlernen würde, der es verstand, sie zu halten.

»Lass uns nicht über Vergangenes reden, sondern lieber deine Prüfung feiern. Wie wäre es gleich heute Abend?«

»Nicht so voreilig. Was ist, wenn ich durchfalle?«

»Dann werden demnächst die Steuern abgeschafft.« Ein Lächeln schwang in der Stimme der Journalistin mit. »Treffen wir uns zum Abendessen im Lucky Leek?«

»Hört sich gut an.« Das Lucky Leek war ein angesagtes Lokal, in dem nur vegetarische Speisen serviert wurden. Wie jeder angehende Tierarzt hatte auch Julia ein Praktikum in einem Schlachthof absolvieren müssen. Damals hatte sie Pech gehabt und war in einer Einrichtung gelandet, die ihr zahllose Albträume und schlaflose Nächte beschert hatte. Seitdem ernährte sie sich ausschließlich vegetarisch – sehr zum Verdruss ihrer Freundin, die ein gutes Steak durchaus zu schätzen wusste.

Unterdessen hatte sich die Autokolonne wieder in Bewegung gesetzt und brachte es auf knapp vierzig Stundenkilometer. Julia setzte den Blinker, weil sie in die Potsdamer Straße abbiegen wollte. Im selben Augenblick schoss rechts ein Radler an ihr vorbei, kreuzte vor ihr und zwang sie zu einer Vollbremsung. Im nächsten Moment geschahen zwei Dinge auf einmal: Julias Auto kam mit einem Ruck zum Stehen. Ein Schwall Kaffee schwappte aus dem Becher auf ihre weiße Hose. Julia fluchte unterdrückt.

Das nicht auch noch!

»Was ist los?«, erkundigte sich ihre Freundin.

»Ein Radfahrer ist vor mir über die Straße gerast. Ich konnte gerade noch bremsen.«

»Diese Lebensmüden. Du, ich muss jetzt los. Hab einen Termin mit einem Reeder von der Spreeschifffahrt, für meinen nächsten Artikel. Melde dich, wenn du deine Prüfung überstanden hast, ja?«

»Mach ich. Bis später.« Julia drückte den Knopf an der Freisprecheinrichtung und beendete das Gespräch. Dann betrachtete sie den Fleck auf ihrer Hose. So konnte sie unmöglich bei ihrer Prüfung aufkreuzen, aber die Zeit war zu knapp, um zurück nach Hause zu fahren und sich umzuziehen.

Was tun?

David!, fiel es ihr ein. Ihr Verlobter wohnte in Zehlendorf, nur zwei Straßen entfernt. Julia hatte nicht nur einen Schlüssel für seine Wohnung, sondern auch ein paar Kleidungsstücke bei ihm deponiert, weil sie häufig bei ihm übernachtete. Das war nun ihre Rettung!

Kurzentschlossen bog sie in die Onkel-Tom-Straße ein und stand wenig später vor dem weißen Mietshaus, in dem ihr Verlobter wohnte. Endlich schien sich das Blatt zu wenden, denn sie hatte Glück und fand einen freien Parkplatz unmittelbar vor dem Haus. Sie eilte hinein, nahm sich jedoch nicht erst die Zeit, auf den Fahrstuhl zu warten. Stattdessen stürmte sie – immer zwei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe in den zweiten Stock hinauf und schloss die Wohnungstür auf. Sie musste lächeln, als sie den Duft von Roiboostee mit einem Hauch Vanille wahrnahm. David hatte eine Schwäche für das Getränk, und offenbar war er daheim.

Julia schlug die Wohnungstür hinter sich zu. »Hallo?«, rief sie und steuerte das Schlafzimmer an. Die Tür schwang so unvermittelt vor ihr auf, dass sie erschrocken zurückprallte. »Huch! Du bist aber stürmisch!«

David trat ihr entgegen und starrte sie stumm an. Er trug nichts als ein Handtuch um die Hüften. Seine Haut war sommerlich gebräunt. Kräftige Muskeln spielten darunter und verrieten, dass er viel Zeit auf dem Tennisplatz verbrachte. Seine blonden Haare waren kurz geschnitten und ringelten sich noch feucht von der Dusche. »Was machst du denn hier?«, stieß er rau hervor. »Ich dachte, du hättest jetzt deine Prüfung.«

»Hab‘ ich auch gleich, aber mir ist auf dem Weg ein Missgeschick passiert. Ich muss mir eine saubere Hose anziehen, dann bin ich schon wieder weg. Und du? Warum bist du heute so früh daheim? Bist du krank?«

»Nein, ich habe nur früher Feierabend gemacht.« Er trat einen Schritt auf Julia zu und wollte die Schlafzimmertür hinter sich zuziehen, aber sein Handtuch verhedderte sich. Er fluchte unterdrückt und zerrte an dem Stoff, dabei konnte er gerade noch verhindern, dass seine letzte Hülle fiel. Die Tür blieb jedoch einen Spalt weit offen. Aus dem Schlafzimmer drangen gedämpfte Jazzklänge.

»Warum bist du denn so nervös? Hast du etwa eine andere Frau in deinem Bett?«, lachte Julia.

»Wo denkst du hin?« Davids Gesicht färbte sich ein wenig dunkler. »Natürlich nicht.«

Julia wollte noch etwas sagen, aber in diesem Augenblick bemerkte sie eine Bewegung im Schlafzimmer. Genauer gesagt: im Bett. Offenbar war ihr Verlobter doch nicht so allein, wie er gerade behauptet hatte. Sie erstarrte und sah ihn ungläubig an. Dann drückte sie die Tür auf und erhaschte einen Blick auf nackte Haut, verlegen blickende braune Augen und einen Dreitagebart. Offenbar hatte David nicht gelogen: Es lag tatsächlich keine andere Frau in seinem Bett.

Doch das machte es nicht besser.

Julias Kopf war mit einem Mal wie leergefegt. Sie konnte nicht denken, nichts sagen, nichts mehr fühlen. Leere breitete sich in ihr aus wie der Nieselregen draußen auf den Straßen. Das war der Moment. Der Moment, in dem die Erde plötzlich aufzuhören schien, sich zu drehen …

Vier Pfoten für Julia - Feuerprobe

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