Читать книгу Vier Pfoten für Julia - Feuerprobe - Katja Martens - Страница 7
1. Kapitel
Оглавление»Wenn möglich, bitte wenden!«
Die Frauenstimme aus dem Navigationsgerät schien Julia zu verhöhnen. Sie wäre dem Rat gern gefolgt, wenn sie gewusst hätte, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Seit vier Wochen ging in ihrem Leben alles nur noch schief – seit ihrer Trennung von David. David! Etwas in ihr krampfte sich bei dem Gedanken an ihn zusammen. All ihre gemeinsamen Pläne und Ziele … dahin! Nun stieß ihr Navi sie auch noch förmlich mit der Nase darauf. Sie fuhr durch einsame Landstriche, von denen sie noch nie zuvor gehört hatte, und fühlte sich wie Odysseus auf Irrfahrt.
Umkehren kam nicht in Frage.
Unwillkürlich drückte die junge Tierärztin den Fuß fester auf das Gaspedal. Sie war auf dem Weg nach Bayern. Der Routenplaner hatte eine Fahrt durch die Tschechische Republik berechnet. Anfangs hatte das auch gut geklappt. Bis nach Prag war die Reise problemlos verlaufen, aber dann hatte eine Baustelle Julia gezwungen, eine Umleitung zu nehmen, und seitdem funktionierte gar nichts mehr. Sie kam durch verschlafene Dörfer, die nur aus einer Handvoll Gehöften bestanden, und in denen Hühner über die Straße huschten. Hier und da gab es kleine Läden, über deren Eingangstüren Potraviny stand und die so ziemlich alles anzubieten schienen, was auf dem Land gebraucht wurde. Die Dörfer trugen Namen wie Hvozdnice und Bojanovice, die sich in Julias Ohren eher nach Biersorten anhörten als nach Ortschaften mit pulsierendem Leben.
Von hier aus konnte es nicht mehr weit bis zum absoluten Ende der Welt sein.
»Wenn möglich, bitte wenden.«
Julia stöhnte entnervt. Sie konnte nicht zurück. Das war einfach nicht möglich. Weder zurück nach Prag noch in ihr altes Leben. Was hinter ihr lag, war unwiederbringlich verloren, und ihre Zukunft war mehr als unsicher. Alles, was sie noch besaß, waren zwei Reisetaschen und der eiserne Vorsatz, sich nicht unterkriegen zu lassen.
Die Szene im Schlafzimmer ihres Verlobten stand ihr noch so deutlich vor Augen, als hätte sie sich in ihre Netzhaut eingebrannt. David hatte versucht, sich zu rechtfertigen. Angeblich wollte er ihr längst von seiner Neigung erzählen und hatte nur auf den passenden Augenblick gewartet. Aber stimmte das wirklich? Oder hätte er weiterhin mit seiner Lüge gelebt, wenn sie ihn nicht in flagranti erwischt hätte? Warum hatte er Zukunftspläne mit ihr geschmiedet, wenn er die Gesellschaft von Männern bevorzugte? Und warum hatte sie nicht bemerkt, dass da mehr lief zwischen seinem Nachbarn und ihm? Die Fragen ließen Julia keine Ruhe. Natürlich war ihr aufgefallen, dass David in den vergangenen Monaten immer seltener Lust auf Zärtlichkeiten gehabt hatte. Aber sie hatte es auf seinen Stress bei der Arbeit geschoben und war sogar ganz froh darüber gewesen, weil sie nach der Lernerei und ihrer Arbeit abends selbst todmüde war. Sie hatte die Anzeichen übersehen, bis sie buchstäblich dagegen gelaufen war.
Wie ferngesteuert war sie zu ihrer Prüfung gefahren – und hatte bestanden. Im Nachhinein konnte sie sich weder an die Fragen noch an ihre Antworten erinnern. Sie hatte nur noch funktioniert. Danach war sie zusammengebrochen. Sie hatte sich tagelang daheim verkrochen, geweint und die Gilmore Girls auf DVD rauf und runter geschaut. Und sie hatte niemandem die Tür geöffnet. Nicht einmal Carola. Irgendwann hatte sie sich dabei ertappt, wie sie zum Telefon gegriffen hatte, als im Fernsehen eine Wahrsagerin ihre Dienste angeboten hatte. Eine leise Hoffnung hatte sie veranlasst, die Hellseherin zu fragen, ob es für David und sie nicht doch eine gemeinsame Zukunft gab. Das hatte den Ausschlag gegeben. An diesem Punkt hatte sie eingesehen, dass es nur zwei Optionen für sie gab: Sie konnte im Bett bleiben und früher oder später verhungern oder sich der Zukunft stellen und das Beste aus dem Durcheinander machen, zu dem ihr Leben geworden war.
Julia hatte sich entschieden.
Das Thema Männer war für sie abgeschlossen. Sie hatte die Nase voll. Auf keinen Fall würde sie sich noch einmal verletzlich machen und jemandem ihr Herz öffnen. Nein, sie hatte ihre Lektion gelernt. Liebe brachte einem nichts als Leid ein. So war es und nicht anders. All diese Hollywoodromanzen waren nichts als Augenwischerei. Im Kino wurde nach dem Happy End ausgeblendet, damit die Zuschauer nicht sahen, was danach kam: Tränen, Betrug und späte Reue. Damit war sie fertig. Oh, ja.
Eine Gemeinschaftspraxis mit David war nicht mehr möglich, deshalb hatte Julia beschlossen, erst einmal als Springerin zu arbeiten. Sie würde die Vertretung für Kollegen übernehmen, die ihrer Arbeit eine Zeitlang nicht nachgehen konnten oder wollten. Auf diese Weise würde sie nicht nur Berufserfahrung sammeln, sondern auch herumkommen. Und genau das brauchte sie jetzt. Auf keinen Fall wollte sie in Berlin bleiben, wo sie David ständig über den Weg laufen konnte!
Ihr erster Einsatz führte sie nach Philippsreut.
Der Tierarzt des Dorfes lag nach einem Autounfall im Krankenhaus, deshalb wurde für seine Praxis eine Vertretung gesucht. Julia hatte den Auftrag angenommen. Philippsreut war ein Feriendorf im Bayerischen Wald, kurz vor der tschechischen Grenze. Sie hatte bei Google nachgeschaut und gelesen, dass der Ort auf einem freien Höhenrücken lag und deshalb einem ausgesprochen rauen Klima ausgesetzt war. Ein kalter Nordostwind war typisch für diese Gegend.
Und wenn schon, dachte Julia verbissen. Das kann auch nicht schlimmer sein, als den eigenen Verlobten mit seinem Nachbarn im Bett zu erwischen.
Ihr Navigationsgerät hatte die Versuche, sie zur Umkehr zu bewegen, eingestellt und eine neue Route berechnet. Nach einer Weile gelangte Julia wieder zur Route 4. Die Fernstraße würde sie fast bis an ihr Ziel führen.
Philippsreut war der erste Ort hinter der Grenze, spulte sie in Gedanken das Gelesene ab. Seine Geschichte reichte bis ins 17. Jahrhundert zurück. Damals war die Gegend noch ein Urwald gewesen. Siedler hatten die Erlaubnis bekommen, dem Forst Boden zur landwirtschaftlichen Nutzung abzuringen. Sie hatten im Auftrag von Johann Philipp Graf von Lamberg gerodet – oder gereutet, wie man damals gesagt hatte. Zu Ehren des Fürstbischofs war das Dorf Philippsreut genannt worden und bot inzwischen knapp siebenhundertzwanzig Menschen eine Heimat.
Die Fahrt hatte länger gedauert, als Julia vermutet hatte. Als sie sich ihrem Ziel näherte, ging es bereits auf den Abend zu. Mit der Dunkelheit zog Nebel auf. Er legte sich über den Wald wie ein grauer Mantel und kroch durch die Straßen und Gassen. Julia stoppte vor einem rustikalen Bauernhaus und verglich die Hausnummer mit der Anschrift in ihrem Auftragsschreiben. Ja, sie war am Ziel.
Das Gehöft wirkte so, als wäre es einem Heimatroman entstiegen. Es bestand aus einem Haupthaus und einem daran anschließenden, kleineren Anbau. Während die untere Etage weiß getüncht war, war die obere Etage mit Holz verkleidet. Moos bedeckte das schräge Dach. Ein Balkon mit Geranienkästen führte um das Gebäude herum; die Blumen ragten im Nebel wie gespenstische Finger aus der Erde. Ein Bach floss an dem Grundstück vorbei und speiste einen Teich, hinter dem der Wald begann. Idyllisch war es. Und kalt. Verflixt kalt. Der Nebel wurde immer dichter und machte die Luft schwer und feucht. Julia fröstelte, als sie ausstieg und auf die Haustür zuging. Sie atmete noch einmal tief durch – und presste den Daumen auf die Klingel.
Kurz darauf waren aus dem Inneren des Hauses Schritte zu hören. Dann schwang die Tür auf, und eine Frau im Dirndl erschien. Ihre grauen Haare waren zu Zöpfen geflochten und am Hinterkopf hochgesteckt. Als sie lächelte, gruben sich Falten in ihr Gesicht ein. »Griaß di!«, sagte sie. »Konn i dia heifd? Hosd di verlaffa?«
»Äh …« Julia hatte kein Wort verstanden und sah ihr Gegenüber ratlos an.
»Des Hotl is glei de Strass runta.«
»Hotel?«, riet Julia drauflos. »Ich möchte nicht zum Hotel. Mein Name ist Julia Sperling. Ich soll Doktor Tetzner vertreten.«
»Du bist die Tierärztin?« Die Fremde sprach langsam und bemühte sich offenbar, hochdeutsch zu sprechen. Dabei war ihre Sprache immer noch bayerisch gefärbt. Sie musterte Julia zweifelnd. Offenbar war eine junge Frau in einer zerknitterten Bluse und einer nach der langen Fahrt nicht mehr so ganz fleckenfreien Hose nicht das, was sie erwartet hatte. Beide Kleidungsstücke waren Julia in den vergangenen Wochen zu groß geworden und hingen an ihr herab wie Sackleinen. Einige braune Haarsträhnen hatten sich widerspenstig aus dem Knoten gelöst und ringelten sich um ihr schmales Gesicht.
Bevor sich die Fremde von ihrem Erstaunen erholen konnte, knirschten Schritte hinter Julia im Kies. Ein Mann stapfte die Auffahrt herauf. Er hatte abgewetzte Gummistiefel und Arbeitshosen an, die wohl schon zahllose Einsätze im Stall mitgemacht hatten. Durch ein Loch blitzte eine Ringelsocke hervor. Als er den Kopf hob, leuchteten eisgraue Augen unter seiner Hutkrempe. Sein Gesicht war von Wind und Wetter gegerbt. Das machte es schwer, sein Alter zu schätzen. Er konnte fünfzig, aber auch siebzig Jahre alt sein.
»Griaß dia, Elfi«, schnarrte er. »Ist der neue Viechdokter endlich angekommen? Meine Nannei liegt fest.«
»Ich bin die Tierärztin«, sagte Julia und streckte dem Fremden die Hand hin.
»Du?« Er übersah ihre ausgestreckte Rechte und zog die buschigen Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch.
Er war nun schon der zweite Dorfbewohner, der Julia duzte. Das schien hier gang und gäbe zu sein und würde sie nicht weiter stören. Zumindest nicht so sehr wie die Zweifel, die man hier an ihr hatte. »Ich bin Tierärztin«, wiederholte sie. »Und ich vertrete Doktor Tetzner.«
»Naa, du bist ja kaum aus dem Windelalter raus.« Der Fremde schabte seinen Bart. »Ich brauche einen richtigen Viechdokter für meine Nannei.«
Julia widerstand dem Impuls, ihre Promotionsurkunde aus der Tasche zu holen. Vermutlich würde ihn ein Stück Papier genauso wenig beeindrucken wie ihr Titel. »Ich nehme an, Nannei ist eine Ihrer Kühe?«
»Freilich. Was denn sonst?«
»Geben Sie mir fünf Minuten. Ich muss mir nur etwas Ausrüstung in der Praxis suchen. Dann begleite ich Sie und schaue mir Ihre Kuh einmal an.«
»Naa, is scho recht.« Der Bauer winkte ab, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon, bevor sie noch etwas sagen konnte.
»Warten Sie doch, bitte!« Julia wollte ihn aufhalten, aber er reagierte nicht. Wenig später hatte ihn der Nebel verschluckt.
»Nimm dem Brandl-Rupert sein Verhalten nicht übel«, bat die Frau in dem Dirndl. »Er ist Fremden gegenüber nicht sehr aufgeschlossen.«
»Seine Kuh braucht Hilfe. Wenn sie festliegt, bedeutet das, dass sie nicht aufsteht, und das ist bei Stalltieren ein schlechtes Zeichen. Ich sollte wirklich nach ihr sehen.«
»Der Rupert wird dich nicht in seinen Stall lassen.«
»Aber …« Ratlos schaute sich Julia um.
»Da kannst du nichts machen. Komm erst einmal herein und wärm dich auf. Ich werde dir dein Zimmer zeigen. Dann mache ich dir etwas zu essen. Ich bin die Elfi Kofler. Ich kümmere mich im Haus um alles.« Die Ältere lächelte herzlich und machte einen Schritt von der Tür zurück, um Julia eintreten zu lassen.
Im Inneren des Hauses war es behaglich warm. Holz dominierte die bäuerliche Einrichtung. In der Diele stand eine Keramikvase mit einem Strauß Herbstastern. Zwischen den bunten Blüten lugten Getreidehalme hervor, die liebevoll arrangiert worden waren. Eine Treppe führte in die erste Etage.
»Oben wohnt ein Polizist mit seiner Tochter«, erklärte Frau Kofler. »Und hier unten im Erdgeschoss sind die Wohnräume unseres Tierarztes und nun auch deine. Du bekommst das Gästezimmer. Es geht nach hinten raus, da hast du es schön ruhig. Die Praxis ist im Anbau untergebracht. Du kannst sie dir morgen früh in aller Ruhe anschauen, wenn du magst.«
»Wohnen Sie auch hier, Frau Kofler?«
»Ja, unterm Dach. Du kannst mich jederzeit auf einen Plausch besuchen kommen.«
»Vielen Dank. Darauf werde ich bestimmt zurückkommen. Wissen Sie, wie Doktor Tetzner die Sprechzeiten eingerichtet hat?«
»Freilich. Er behandelt überwiegend Nutztiere, deshalb macht er vormittags und abends seine Runde zu den Höfen. Nachmittags behandelt er Kleintiere in seiner Praxis.«
»Gut, dann werde ich es genauso halten.«
»Das ist bestimmt kein Fehler.« Die Wirtschafterin nickte zufrieden und führte Julia in eine gemütliche Bauernküche.
Ein großer Herd bildete das Herzstück des Raumes. Vor dem Fenster standen ein blank gescheuerter Holztisch, eine Eckbank und drei Stühle. Kräuter wuchsen in Keramiktöpfen auf der Fensterbank und auf dem Herd köchelte Suppe in einem großen Topf vor sich hin.
»Bist du hungrig, Julia? Ich hoffe, du magst Erbseneintopf.«
»Ja, sehr sogar, ich würde allerdings vor dem Essen gern meine Sachen aus dem Auto holen und auspacken.«
»Natürlich. Dann werde ich das Essen für dich warmhalten. Frisches Brot ist auch noch da. Möchtest du einen Becher Tee dazu?«
»Das wäre wirklich nett.« Der würzige Duft der Suppe ließ Julias Magen knurren und erinnerte sie daran, dass sie seit dem Frühstück keinen Bissen zu sich genommen hatte. »Was ist Doktor Tetzner eigentlich genau zugestoßen?«
»Oh, das war eine schlimme Sache. Eine wirklich schlimme Sache.« Die Wirtschafterin ließ sich auf die Eckbank sinken und verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch. Ihre Finger spielten mit der Blumenvase. Ihr freundliches Gesicht wurde mit einem Mal ganz still und ernst. »Unser Doktor war gerade unterwegs zu einem Hausbesuch, als er überfahren wurde. Dabei wurde er schwer verletzt. Und der Autofahrer … der Hallodri hat ihm nicht geholfen, sondern ist geflüchtet! Kannst du dir das vorstellen? Wer weiß, ob unser Doktor überlebt hätte, wenn ihn der Pfarrer nicht so rasch gefunden und die Rettung gerufen hätte.«
»Also war es Fahrerflucht? Das ist ja wirklich schlimm. Wurde der Fahrer denn inzwischen gefunden?«
»Noch nicht.«
»Und wie geht es Doktor Tetzner jetzt?«
»Er kämpft im Krankenhaus um sein Leben. Die Ärzte sagen mir leider nichts Genaues, weil ich keine Angehörige bin. Ich weiß nur, dass er im Koma liegt. Und dass es ungewiss ist, ob er ... also, ob er …« Frau Kofler brach ab und wischte sich hastig über die Augen.
Julia verstand. »Das tut mir sehr leid.«
»Er ist ein guter Arzt, weißt du? Er schaut nie auf die Uhr, wenn er gebraucht wird. Er hat nicht verdient, was mit ihm passiert ist. Nein, wirklich nicht.« Die Wirtschafterin schüttelte bekümmert den Kopf. »Aber er wäre froh, wenn er wüsste, dass sich jemand um seine Patienten kümmert, solange er es nicht kann.«
»Ich werde mein Bestes tun, um ihn zu vertreten.«
»Dann werde ich dir jetzt dein Zimmer zeigen.« Frau Kofler stemmte sich vom Tisch hoch und ging Julia voraus zu einem Zimmer am Ende des Flurs. Es war hell und gemütlich eingerichtet. Die Bauernmöbel waren aus Kiefernholz und mit Schnitzereien verziert. Die Bettwäsche war rot-weiß kariert. Es gab sogar eine Leseecke mit einem Schaukelstuhl und auf dem Tisch stand ein Blumenstrauß als Willkommensgruß.
»Vielen Dank, dass Sie alles für mich vorbereitet haben, Frau Kofler«, sagte Julia. »Das Zimmer ist wirklich behaglich.«
»Mei, dafür bin ich doch da.« Die Augen der Älteren leuchteten erfreut auf. »Ich lasse dich dann mal auspacken. Komm rüber, wenn du fertig bist und essen möchtest, ja?«
Julia versprach es und ging zu ihrem Auto, um das Gepäck hereinzuholen. Dabei wurde ihr bewusst, dass sie unterwegs vergessen hatte, Lebensmittel und Getränke einzukaufen. Um Lebensmittel musste sie sich wohl nicht sorgen, solange Frau Kofler da war, aber Getränke standen auf einem anderen Blatt. Morgen war Sonntag, dann würden die Geschäfte im Dorf wohl kaum geöffnet haben. Vielleicht konnte Frau Kofler ihr auch damit aushelfen, bis sie dazu kam, das Nötigste zu besorgen?
Sie brachte ihre Reisetaschen ins Haus und machte noch einmal kehrt, um ihr Auto abzuschließen. Im Flur wäre sie um ein Haar mit einem Mann zusammengestoßen.
»Huch!«, stieß sie erschrocken aus.
»Huch?«, echote der Fremde. Er hatte kurze dunkle Haare und sonnengebräunte Haut. Er war gut einen Kopf größer als Julia und mochte auch einige Jahre älter sein als sie. Sein kariertes Hemd spannte sich um kräftige Muskeln, und sein Gesicht war zu kantig, um wirklich schön genannt zu werden, hatte jedoch etwas Anziehendes. Und seine Augen … sie waren braun wie dunkle, heiße Schokolade und weckten tief in ihr ein Gefühl von Sehnsucht. Es war so heftig, dass sie unwillkürlich nach Luft schnappte.
Er kniff die Lider zusammen und musterte Julia prüfend. »Wie sind Sie denn hier reingekommen?«
»Ich …« Julia wollte etwas sagen, aber ihr Kopf war mit einem Mal wie leergefegt.
»Falls Sie Wertsachen suchen, sind Sie hier an der falschen Adresse.«
»Wertsachen?« Julia stutzte. Wofür hielt der Fremde sie? Etwa für eine Einbrecherin? »Ich will doch nichts stehlen! Ich bin die Vertretung für Doktor Tetzner.«
»Sie?« Er sah sie so ungläubig an, als hätte sie behauptet, sie stammte vom Mars.
»Richtig. Und Sie müssen der Polizist sein, der in der oberen Etage wohnt. Frau Kofler hat mir von Ihnen erzählt.«
»Dann hat das offenbar schon seine Richtigkeit. Marc Reuther ist mein Name. Doktor Tetzner ist mein Schwiegervater.«
»Oh, davon hat Frau Kofler nichts gesagt. Also wohnen Sie mit Ihrer Familie in der oberen Etage?« Liebend gern hätte sie gewusst, ob es eine Frau in seinem Leben gab.
»Nur mit meiner Tochter.« Sein Gesicht verschloss sich und verbot jedes Nachfragen. »Wir schätzen unsere Ruhe.«
Stör uns bloß nicht, übersetzte Julia seine Worte für sich. Offenbar war ihr Mitbewohner nicht darauf aus, ihre Bekanntschaft zu vertiefen. Wahrscheinlich würde er sich eher in eine Wanne mit Eiswasser legen, als ihr mit Getränken auszuhelfen. Nun, von seiner Zurückhaltung würde sie sich nicht beeindrucken lassen. Sie war schließlich nicht hier, um Bekanntschaften zu schließen. Sie wollte nur arbeiten und ihre geplatzten Träume vergessen. In letzter Zeit war in ihrem Leben so viel schiefgegangen, dass es von nun an eigentlich nur noch besser werden konnte.
Oder etwa nicht?