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2. Kapitel

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Die dritte Nacht! Er hatte sich die dritte Nacht in Folge um die Ohren geschlagen. Und wofür? Für nichts und wieder nichts!

Grimmig zerknüllte Marc den leeren Kaffeebecher. Das Plastik knirschte zwischen seinen Fingern. Der Unfall seines Schwiegervaters ließ ihm keine Ruhe. Ein Bauer hatte alles aus der Ferne mit angesehen und ausgesagt, dass das Auto zielstrebig auf Josef Tetzner zugerast war und nicht einmal versucht hatte, der Kollision auszuweichen. Das bestätigten auch die Spuren am Unfallort. Es gab keine Bremsspuren. Keinen Hinweis darauf, dass der Fahrer versucht hatte, den Zusammenstoß in letzter Sekunde zu verhindern. War der Fahrer betrunken gewesen? Hatte er unter Drogeneinfluss gestanden? Oder war alles ganz anders gewesen?

Marc hatte seine eigene Theorie. Er war überzeugt, dass der Unfall absichtlich herbeigeführt worden war. Es war ein Anschlag auf das Leben des Tierarztes gewesen. Aber wie sollte er das beweisen?

Er war seit über zwölf Jahren Polizist und hatte ein Gespür dafür entwickelt, wann etwas nicht stimmte. Er spürte, dass mehr hinter dem Unglück steckte. Viel mehr! Aus diesem Grund hatte er seinen Chef überredet, ihn nachts Streife fahren zu lassen. Er hoffte, einen Hinweis auf den flüchtigen Fahrer zu finden, aber bislang war ihm kein Erfolg beschieden. Das Unfallauto war wie vom Erdboden verschluckt. Es tauchte in keiner Werkstatt auf und wurde von keiner Streife gesichtet. Das allein war schon ungewöhnlich. Normalerweise begingen Unfallfahrer nach einer Fahrerflucht immer einen Fehler und wurden gefasst. Diesmal jedoch war alles anders.

Die Sonne zeigte sich gerade als schmaler Lichtstreifen am östlichen Horizont. Der Himmel färbte sich zartgrau und versprach einen freundlichen Herbsttag. Dunst stieg vom Wald auf. Das Dorf erwachte allmählich zum Leben. Vor dem Gemischtwarenladen stoppte ein Lieferwagen von der Bäckerei. Der Fahrer lud Kisten mit Backwaren aus, hielt kurz inne und stemmte beide Hände in seinen Rücken, um sich zu dehnen. Von der Pfarrkirche waren sechs Glockenschläge zu hören.

Es hat keinen Zweck. Heute tauchte der Kerl wohl nicht mehr auf. Marc beschloss, Feierabend zu machen. Er ließ seinen Wagen an und fuhr nach Hause. Nach der langen Nacht fühlte er sich wie zerschlagen sehnte sich nach einer Dusche und seinem Bett.

Als er daheim ankam, brannte im Erdgeschoss Licht. Offenbar war die neue Mitbewohnerin bereits auf den Beinen. Eine Frühaufsteherin war sie also.

Als Tierärztin war sie hier im Dorf allerdings so verkehrt wie ein Kamel auf einem Opernball. Sie war so zierlich, als könnte ein Windzug sie jederzeit umwehen. Unvorstellbar, dass sie genügend Kraft aufbringen konnte, um mit einer störrischen Kuh oder einem ungebändigten Pferd umzugehen. Oder mit den Bauern, die, wenn er ehrlich war, mindestens ebenso eigensinnig sein konnten. Dabei war sie keineswegs knabenhaft, im Gegenteil: Ihre Rundungen saßen an genau den richtigen Stellen. Oh, ja. Etwas in ihm wurde weich und nachgiebig, als er daran dachte. Sie hatte volle Lippen und haselnussbraune Augen, die wach und auch ein wenig prüfend blickten. Das gefiel ihm. Julia hatte etwas an sich, das ihm bewusstmachte, was in seinem Leben fehlte. Trotzdem würde er sich von ihr fernhalten. Frauen wie sie bedeuteten Komplikationen, das wusste er aus Erfahrung, und davon gab es in seinem Leben weiß Gott schon genug.

In einer Nutztierpraxis geht es oft hart zur Sache, grübelte er. Julia Sperling scheint frisch von der Uni zu kommen. Vermutlich hat sie keine Ahnung, was sie hier erwartet. Ich gebe ihr drei Tage, dann ist sie wieder weg. Spätestens.

Marc schloss die Haustür auf. Eine verirrte Wespe schwirrte ihm entgegen. Unwillkürlich wedelte er mit der Hand, um sie ins Freie zu scheuchen, und schlug die Tür hinter ihr zu. Wespen waren der Feind. Marc handelte inzwischen instinktiv, wenn er eine sah. Seine Tochter reagierte allergisch auf Wespenstiche. Seitdem sie nach einem Stich beinahe erstickt war, trug er immer ein Notfallset bei sich.

»Papa! Papa!« Wie ein Gummiball hüpfte Lotta die Treppe herunter und auf ihn zu. Ihre blonden Zöpfe wippten, und selbst die Sommersprossen auf ihrer Nase schienen zu tanzen.

Er fing seine Tochter auf und wirbelte sie einmal im Kreis herum. „Guten Morgen, Krümel. Du bist aber früh auf den Beinen.«

»Mein Zahn ist rausgefallen. Guck.« Stolz strahlte die Fünfjährige und entblößte dabei eine Zahnlücke.

»Donnerwetter. Hast du ihn aufgehoben und unter das Kopfkissen gelegt?«

»Freilich, und heute früh lag eine blitzblanke Münze darunter.« Lotta nickte heftig, und ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter. »Ich helfe Frau Kofler beim Tischdecken.«

»Das ist prima.« Marc setzte sie wieder ab. Lotta wirbelte die Treppe hinauf, und er folgte ihr gemesseneren Schrittes. Oben hängte er seine Jacke an die Garderobe.

Die Wohnung befand sich im ersten Stock. Seine Frau hatte die drei Zimmer noch eingerichtet. Eva hatte eine Vorliebe für Blumen gehabt, und so fanden sich Blumenmuster in den Gardinen, Tischdecken und in den Bildern an den Wänden. Auf den Fensterbänken reckten zahlreiche Pflanzen ihre Blätter und Blüten dem Licht entgegen: Bromelien, Alpenveilchen und Hibiskus standen neben Zimmerfarnen und einer Orchidee. Zum Glück kümmerte sich die Wirtschafterin um die Pflanzen, denn Marc hatte alles andere als einen grünen Daumen und behauptete von sich, selbst Kakteen dazu zu bringen, ihre Stacheln zu verlieren.

In der Küche stellte Lotta alles auf den Tisch, was ihr für ein Frühstück notwendig erschien: Teller, eine Tüte mit Gummibärchen und eine Tafel Schokolade. Emsig räumte sie auch eine angebrochene Packung Kekse herbei. Marc legte wortlos Käse, Wurst und Schinken dazu. Dazu ein Glas Brombeerkonfitüre, das die Wirtschafterin eingekocht hatte.

»Brummel ist krank.« Lotta deutete bekümmert auf den Plüschbären, der auf der Fensterbank saß.

»Was fehlt ihm denn, Krümel?«

»Sein Ohr ist abgerissen. Ob Tante Julia ihn gesundmachen kann?«

»Woher kennst du denn unsere neue Tierärztin?«

»Frau Kofler hat von ihr erzählt. Tante Julia wohnt unten in Opas Gästezimmer. Sie hilft kranken Tieren.«

»Das stimmt, aber sie hat vermutlich viel zu tun. Wir sollten sie lieber nicht behelligen. Ich werde Frau Kofler bitten, Brummels Ohr wieder anzunähen.«

»Sie ist aber keine Tierärztin. Tante Julia soll es machen.« Lotta reckte energisch das Kinn, eine Geste, die Marc nur zu gut kannte. Sie bedeutete, dass sein kleiner Wirbelwind sich etwas in den Kopf gesetzt hatte und nicht davon ablassen würde. Es war ihm gar nicht recht, dass seine Tochter so gespannt auf die Tierärztin war. Julia Sperling würde es vermutlich keine Woche hier aushalten. Lotta sollte auf keinen Fall ihr Herz an sie hängen und dann traurig sein, wenn sie wieder ging. Marc presste die Zähne so fest aufeinander, dass es knirschte. Er würde das verflixte Ohr lieber selbst annähen, als die Fremde darum zu bitten.

Er wandte sich um und füllte Kaffeepulver in die Maschine. Sein Schwiegervater tadelte ihn oft, weil er so viel Kaffee trank; er hatte ihm bereits prophezeit, dass ihm das Gebräu früher oder später Magengeschwüre bereiten würde, aber Marc vermutete, dass sein Beruf eher dafür sorgen würde.

Er stellte einen Becher bereit und holte eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank. »Möchtest du Kakao, Lotta?«

Hinter ihm blieb alles still.

»Lotta?« Marc wandte den Kopf, aber seine Tochter war nirgendwo zu entdecken. Auch Brummel war von seinem Aussichtsplatz verschwunden. Dafür stand die Wohnungstür einen Spalt weit offen. Es brauchte kein sonderlich kriminalistisches Geschick, um zu ahnen, wohin die Fünfjährige verschwunden war.

»Herrschaftszeiten«, murmelte Marc und eilte aus seiner Wohnung. Er war schon auf der Treppe, als er von unten die helle Kinderstimme hörte, die ihn zur Küche der Tierärztin lotste.

In der Wohnung im Erdgeschoss standen alle Türen offen, als wollten sie Besucher jederzeit willkommen heißen.

Julia schien hellwach zu sein. An diesem Morgen hatte sie ein himmelblaues T-Shirt mit Rosendruck und Jeans an. Sie wirkte so jung und verletzlich, dass sich etwas in ihm zusammenzog. Die Tierärztin hatte ihn noch nicht bemerkt, denn sie beugte sich gerade über den Küchentisch, auf dem Brummel an der Teekanne lehnte. Lotta saß auf der Eckbank, beugte sich ein wenig vor und sah gespannt zu, wie die Tierärztin dem Plüschbären eine Spritze in die Pfote gab. War das eine Bratenspritze? Marc runzelte die Stirn. Bevor er zu einem Schluss kam, nähte Julia das Ohr des Plüschbären mit einer Nadel und braunem Garn wieder an und lobte ihn dafür, wie gut er stillhielt.

Wenig später saß das Ohr wieder an seinem Platz. Julia richtete sich auf und nickte Lotta zu. »Alles in Ordnung. Brummel ist wieder gesund.«

»Dankeschön!« Die Fünfjährige drückte ihren Bären ans Herz und strahlte dabei über das ganze Gesicht. »Ich bin froh, dass du da bist.«

»Das bin ich auch, Spätzchen.« Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über das Gesicht der Tierärztin. Marc konnte ihn nicht recht deuten. War es Trauer? Einsamkeit? Er wusste es nicht, aber er ertappte sich bei dem Wunsch, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten. Dabei war jeder Kontakt zu ihr doch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er wusste, dass er sich von ihr fernhalten sollte, aber das schien nicht so leicht zu werden, wie er es sich vorgestellt hatte. Julia hatte etwas an sich, das ihn anzog wie eine Blumenwiese eine Biene.

Das war ja eine schöne Bescherung!

Vier Pfoten für Julia - Feuerprobe

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