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Kapitel 3

MANIFESTATION. DAS LEBEN HAT SICH VERÄNDERT

Erinnerst du dich an die Geburt deines ersten Kindes und die erste Zeit mit dem Neugeborenen zu Hause? Du hattest bestimmt viele Fragen, mögliche Sorgen und hast dich gefragt ob du alles richtig machst. Ein bisschen vergleichbar ist das mit der Diabetesmanifestation. Je nachdem wie alt dein Kind ist, war es gerade schon sehr selbständig und schlagartig hat sich alles verändert. Besonders deutlich wird dies, wenn Jugendliche Diabetes bekommen. Sie waren bereits dabei ihre eigenen Wege zu gehen und plötzlich unterliegen sie wieder mehr der Kontrolle. Diese Situation ist, egal wie alt dein Kind ist, wieder völlig neu. Es ist tatsächlich damit vergleichbar wieder ein Neugeborenes mit nach Hause zu nehmen und viele Dinge neu lernen zu müssen. Das ist herausfordernd und jedes Gefühl ist dabei erlaubt. Wahrscheinlich erinnerst du dich noch gut an den Moment, als dir gesagt wurde, dass dein Kind Diabetes hat. Wie war das für dich? Welche Gedanken und Gefühle sind aufgetaucht? Hättest du dir mehr Unterstützung gewünscht? Vielleicht war es ein Zufallsbefund und ihr seid wegen etwas ganz anderem beim Arzt gewesen. Vielleicht war dein Kind aber auch bereits sehr krank und musste sogar auf einer Intensivstation behandelt werden. Hast du dir Vorwürfe gemacht? Hast du dir oder irgendjemandem die Schuld gegeben? Welchen Einfluss hatte die Diagnose auf dein Privat- oder Berufsleben? Vor welche Herausforderungen wurdest du von einer auf die andere Minute gestellt? Egal wie die Situation war du hast sie gemeistert. Dein Kind hat es überlebt und mit jedem Tag, der vergeht lernt ihr zusammen dazu. Wenn es einmal nicht so läuft, wie ihr es Euch vorstellt, dann erinnert euch daran, was ihr schon alles gemeinsam geschafft habt und wie oft es gut funktioniert. Hättest du dir das vorstellen können, dass dein Kind diese Diagnose bekommen würde? Vielleicht kanntest du jemanden der Diabetes hat, aber hättest du gedacht, dass es dein Kind trifft? Von einer Minute auf die andere hat sich dein Leben verändert. Außenstehende kommentieren das Ereignis möglicherweise mit: „Ihr schafft das schon.“ Oder: „Zum Glück nichts Schlimmeres, nur Diabetes.“ Für dich aber, hat sich die Welt verändert. Nichts ist mehr, wie es vorher war. Vielleicht hast du sogar das Gefühl niemand könne dich verstehen. In meinen Augen ist die Diabetesmanifestation eine posttraumatische Belastungssituation, mit der jeder anders umgeht. Wir alle haben jedoch die Fähigkeit, unsere Welt sprichwörtlich wieder neu zu erschaffen. Viele Abläufe in deinem Leben haben sich verändert, aber du hast es gemeistert. Am Anfang dreht sich der Tagesablauf wahrscheinlich fast ausschließlich um die neuen Glukosewerte. Es treten viele neue Situationen auf, doch nach und nach hast du dir Wissen und Erfahrung angeeignet und es wird leichter, auch wenn es eine Herausforderung bleibt. Versuche einmal, auch wenn das jetzt möglicherweise erst einmal völlig absurd klingt, nach positiven Aspekten der Erkrankung zu suchen. Habt ihr möglicherweise eine bessere Tagesstruktur? Gesündere Essgewohnheiten? Mehr familiären Austausch? Mehr Nähe? Versuche ganz bewusst das Positive zu sehen.

Ich habe einmal einen Achtsamkeitsworkshop für Jugendliche veranstaltet. Zum Abschluss war es eine Aufgabe zu sagen wofür man dem Diabetes dankbar ist. Du hast richtig gelesen: dankbar. Von den Jugendlichen kamen unter anderem folgende Antworten: „Ich bin dankbar dafür, dass ich jetzt weiß, wer meine wahren Freunde sind.“, „Ich bin dankbar dafür, dass ich weiß, wie sehr meine Eltern mich lieben.“, „Ich bin dankbar dafür, dass ich ein gutes Körpergefühl entwickelt habe.“ oder „Ich bin dankbar dafür, dass ich mich auf meine Familie verlassen kann.“

Wenn Kinder das können, kannst du das auch. Schau genau hin! Vielleicht nimmst du dir sogar ein Blatt und schreibst es auf, um dich in herausfordernden Momenten daran zu erinnern. Kurz nach der Diagnose ist das möglicherweise herausfordernd, aber vielleicht gelingt es dir auch in dieser Phase dankbar zu sein. Bist du schnell in der Klinik gewesen? Dein Kind lebt und du weißt jetzt was los ist. Dein Partner ist an deiner Seite usw. Was auch immer dir einfällt, sei dankbar dafür, denn unsere Gedanken beeinflussen unsere Bewertungen und Gefühle. Keine Frage, wenn das Kind krank wird, ist das erst einmal etwas, das in unseren Augen nicht passieren sollte. Wir würden die Erkrankung lieber selbst übernehmen und leiden mit. Insbesondere dann, wenn klar ist, dass die Erkrankung unser Leben ab sofort begleitet und nicht geheilt werden kann. Verschiedene Gedanken tauchen auf. Insbesondere Gedanken darüber, wie es in der Zukunft weitergehen wird. Ich beobachte oft, dass kurz nach der Diagnosestellung Fragen dazu auftauchen, wie es in mehreren Jahren sein wird. Wie sich die Erkrankung mit Schule, Beruf, Sport oder anderen Dingen vereinbaren lässt. Diese Fragen sind völlig normal, denn wir Menschen wollen Dinge verstehen und am liebsten kontrollieren. Das meiste, was wir uns vorstellen, tritt allerdings gar nicht ein. Wozu also all diese Gedanken? Letztlich beeinträchtigen sie den aktuellen Moment, ohne etwas an ihm zu verändern.

Hast du dein Kind in der Zeit der Manifestation beobachtet? Die Kinder nehmen die neue Situation an. Je jünger die Kinder sind, desto schneller geht das. In der Klinik können wir das immer wieder beobachten. Natürlich gibt es auch immer wieder Protest und Tränen beim Blutzuckermessen oder Insulin spritzen, doch relativ schnell gehört es dazu. Die Kinder bewerten es nicht, es gibt kein „hätte, wäre, wenn“ Wir Erwachsenen dagegen fragen nach dem Warum oder stellen uns vor, wie es hätte anders sein sollen. Diese Gedanken rauben Energie und führen nicht zum Ziel. Ich möchte dich dazu ermutigen, die Situation anzunehmen wie sie gerade ist. Das bedeutet nicht, sich nicht zu kümmern oder sich keine Gedanken mehr zu machen. Das wäre gerade mit Diabetes fatal, denn du wirst bei jeder alltäglichen Handlung mehr nachdenken (müssen). Wie ist der Glukosewert (Blutzucker oder Sensorwert), steigt oder fällt der Wert gerade? Wann und was esse ich? Bewege ich mich genug? Dazu kommen all die Dinge und Situationen oder Emotionen, die dann selbst wenn ihr „perfekt“ geplant habt, doch alles durcheinanderbringen. Was ich meine ist: Du kannst nicht ändern, dass dein Kind Diabetes bekommen hat. Damit werdet ihr ab dem Zeitpunkt der Manifestation leben. Du kannst die Situation aber annehmen, wie sie ist. Der Vorteil ist dann, dass du dich nach vorn in die Zukunft ausrichten kannst. Du kannst dein Kind bestmöglich unterstützen und bist nicht Opfer der Situation. Du holst dir quasi die Macht zurück, denn vielleicht kennst du das auch, dass du dich als die Diagnose genannt wurde hilflos, machtlos oder ohnmächtig gefühlt hast. Mir haben einige Eltern berichtet, dass sie sich nach der Diagnose an kaum etwas erinnern konnten. Vor allem nicht, was der Arzt ihnen gesagt hat, da sofort viele Gedanken und Gefühle aufgetaucht sind. Sie hatten das Gefühl die Situation nicht bewältigen zu können. Andere Familien waren von Anfang an rational und im Lernmodus. Jeder geht mit neuen Situationen, Lebensumständen oder Herausforderungen anders um. Hier gibt es kein Richtig oder Falsch. Wichtig ist nur, jeden Gedanken und jedes Gefühl zuzulassen, um handlungsfähig zu bleiben. Mir persönlich ist es am liebsten, wenn am Anfang auch Tränen fließen und Emotionen auftauchen. So hat man sich das Leben für sich und sein Kind nicht gewünscht. Es ist normal wütend, traurig und vielleicht sogar verzweifelt zu sein. Werden diese Gefühle unterdrückt, wirken sie unbewusst über eine viel längere Zeit und beeinflussen automatisch unsere Einstellung und Handlungen. Irgendwann tauchen sie dann wie aus dem Nichts auf. Stell es dir ungefähr so vor, als würdest du eine Luftmatratze vollständig unter Wasser drücken wollen. Drückst du eine Seite unter die Oberfläche, dann taucht die andere Seite über der Oberfläche sofort wieder auf. So stelle ich es mir vor, wenn man versucht Gefühle zu unterdrücken. Sie sind sowieso da und sie haben einen Einfluss auf deine Bewertung der Situation. Im Erstgespräch ermutige ich Eltern alles zu sagen was sie denken. Ich sage im Verlauf dann oft, dass ich weiß das sie die neue Situation meistern werden. Dass ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrung als Kinderdiabetologin am liebsten manchmal ein Tonband aufnehmen und abspulen würde, denn auch wenn wir nicht gleich sind, so ähneln sich unsere Gedanken und Gefühle in vielen Aspekten sehr. Es erscheint unvorstellbar die Situation zu meistern und dennoch nach spätestens drei Monaten (dem Zeitpunkt der ersten Quartalsuntersuchung nach der Manifestation) seid ihr die „Profis“. Das klingt erst einmal unmöglich, doch in dieser Zeit habt ihr bereits viele neue Situationen gemeistert. Sicher nicht immer perfekt, aber du lernst in jeder Situation dazu. Jedes Kind ist anders und unsere Empfehlungen als Ärzte passen mal besser und mal schlechter zu euch. Deshalb seid ihr irgendwann die Experten. Ihr seid es, die den Alltag zusammen bestreiten. Du weißt wie dein Kind reagiert, wenn es gestresst oder glücklich ist und auch, wie dann der Glukoseverlauf sich verändert. Du bist in diesen Situationen nicht allein und wirst von deinem Diabetesteam und vielen anderen Menschen unterstützt. Vielleicht denkst du gerade: ich mache das alles allein. Es kann sein das dein Netzwerk kleiner ist, aber du bist nie allein. Schau genau hin: Wer unterstützt dich in verschiedenen Situationen? Wo siehst du dein Kind? Im Rahmen der ersten ambulanten Vorstellungen frage ich dann manchmal nach. „Erinnerst du dich daran, du dachtest, du schaffst das nicht.“ Oft lachen wir dann gemeinsam, denn du hast es natürlich geschafft! Du hast auch diese Erfahrung und Situation gemeistert. Es muss nicht immer perfekt sein – das schafft keiner und der Versuch ist anstrengend. Im Idealfall funktioniert es ohne größere Komplikationen – mit Lebensfreude und einer hohen Lebensqualität. Die Diagnose hat dein Leben und das Leben deines Kindes und der ganzen Familie verändert. Ihr habt zusätzliche Aufgaben zu bewältigen, aber du schaffst das. Vertraue dir und deinem Kind. Versuche alle neuen Herausforderungen als Spiel zu sehen. So als würdest du mit jeder weiteren neuen Situation ein neues Level erreichen. Du wirst bestimmte Aufgaben bewältigen müssen, du wirst ausprobieren und auch scheitern, aber du hast aus der Situation gelernt. Du hast unvorhersehbare Hürden zu bewältigen, die dich vielleicht auch wieder zurückwerfen, wenn es gerade endlich gut lief. Du ärgerst dich möglicherweise, machst dir Vorwürfe und hast Zweifel oder du bist vielleicht sogar wütend und sicher auch gestresst. Lass das kurz zu und sieh es dann als Zeit des Lernens. Es ist gut mit einem Gesellschaftsspiel vergleichbar. Mal liegst du vorn und es läuft nach Plan. Du freust dich und verspürst gute Gefühle. Im nächsten Moment geschieht ein unvorhersehbarer Zug des Mitspielers vielleicht sogar des Gegners. Dann ist alles neu gemischt. Vielleicht ärgerst du dich oder wirst wütend. Ändert das etwas am Spielverlauf? Der ist wie er ist. Wenn du jedoch schnell aus den negativen Gefühlen aussteigst, fallen dir wahrscheinlich schnell Lösungen ein und du bist wieder im Spiel. Ist es mit dem Diabetes nicht genauso? Mal läuft es und mal eben auch nicht oder weniger gut. Deine Gefühle ändern daran nicht viel. Wenn es dir aber gelingt die Situation anzunehmen und gelassen mit ihr umzugehen, finden sich schneller funktionierende Lösungen. Es klingt provokant, aber dein Verstand erschafft die Welt, die du siehst. Wenn du Vorwürfe oder Schuldgefühle hast und wieder dagegen kämpfst, erinnere dich daran, wer gerade dein wahrer Gegner ist.

Manchmal hat's mit Zucker Nichts zu tun

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