Читать книгу Duell der Herzen - Kat Martin - Страница 6
2. KAPITEL
Оглавление»Ich fühle mich schon viel besser«, sagte Molly, als Sam sie mit seinen großen, kräftigen Händen vom Pferd hob. »Ich denke wirklich, daß ich nach Hause gehen sollte.«
»Tut mir leid, Miss James. Sie haben diesen kleinen Krieg angezettelt, und ich werde ihn jetzt zu Ende bringen. Ich möchte, daß der Doktor einen Blick auf Sie wirft, und in der Zwischenzeit können wir uns unterhalten.«
Molly überhörte den Sarkasmus, der in Sams tiefer Stimme mitschwang, und begleitete ihn auf die weitläufige Veranda an der Vorderseite des Hauses. Das Haupthaus der Ranch war ein beeindruckendes, zweistöckiges Gebäude, das Sams Vater, Shamus Brannigan, vor vielen Jahren aus Holz errichtet hatte. Im oberen Stockwerk waren die Schlafzimmer untergebracht, von denen aus man einen herrlichen Ausblick auf den Hof hatte, während das Erdgeschoß mit seinen großen Fenstern vom Sonnenlicht durchflutet war.
Sam riß die schwere Holztür auf, und Molly trat geschwind in den großzügigen Wohnraum. Das hier war ganz offensichtlich das Haus eines Mannes, mit rustikalen Holzwänden und dicken Balken, die unter der Decke verliefen. Die Flure waren mit Stein ausgelegt, und eine breite Treppe verband die beiden Stockwerke. In diesem Haus roch es sogar nach Mann – ein rauchiger Pinienduft erfüllte die Luft. Als sie zusammen zur Ranch geritten waren, war ihr aufgefallen, daß Sam genauso roch.
Molly ließ sich von Sam durch den Raum führen. Ihr Kinn schmerzte nicht mehr, aber die Beule an ihrem Hinterkopf pulsierte immer noch heftig. Obwohl sie insgeheim das Durcheinander genoß, das ihre Schießerei hervorgerufen hatte, fragte sie sich langsam, ob ihr Unterfangen klug gewesen war. Nicht im Traum hatte sie damit gerechnet, daß Sam ein so vernünftiger Mann sein könnte. Er paßte überhaupt nicht in das Bild, das ihr Vater von den Brannigans gezeichnet hatte.
Sam brachte sie zu einer großen Ledercouch, die vor einem breiten Steinkamin stand. Nachdem sie sich gesetzt hatte, fiel ihr auf, daß der weitläufige Raum ihr eine gewisse Ehrfurcht einjagte. Aber andererseits hatte alles, was den Brannigans gehörte oder was sie taten, ihr in den vergangenen Jahren Ehrfurcht eingejagt – oder sie wütend gemacht.
Sam forderte sie auf, sich hinzulegen, zog ihr fachmännisch die Stiefel aus und deckte sie dann mit einer Navajo-Decke zu, die über die Sofalehne drapiert gewesen war.
»Lee Chin!« rief Sam Brannigan, und nur ein paar Sekunden später betrat ein Chinese mit einem langen, geflochtenen Zopf und laut klappernden Holzschuhen das Wohnzimmer.
»Ja, Mr. Sam?«
»Unser Gast, Miss James, hatte unglücklicherweise einen Unfall. Schicken Sie jemanden zu Doc Weston. In der Zwischenzeit wollen wir uns mit einem feuchten Tuch weiterhelfen.«
»Ja, Sir, Mr. Sam. Auf der Stelle.« Der Chinese verbeugte sich knapp und schlurfte aus dem Zimmer, kehrte aber schon kurz darauf mit dem feuchten Tuch zurück.
»Miss James und ich müssen uns über ein paar Dinge unterhalten, Lee. Wenn wir fertig sind, können Sie hier übernehmen.«
Lee Chin verneigte sich und verließ das Zimmer. Molly mußte lächeln, denn sie mochte den Mann auf der Stelle. Auf seinem Gesicht war ein beinah väterlicher Ausdruck aufgetaucht, als er den blauen Fleck gesehen hatte, der ihr Kinn zierte.
Sam half Molly dabei, ihre üppige Haarpracht hochzuheben, und legte das feuchte Tuch auf die Beule an ihrem Hinterkopf. Obwohl Sam groß und stark war, fürchtete Molly sich nicht vor ihm. Sein aufmerksames Verhalten verriet die Besorgnis, die er empfand. Sie wußte, daß die Schießerei ihn verärgert hatte, und trotzdem fühlte sie sich in seiner Gegenwart sicher und umhegt. Da er aber auch das Oberhaupt der Familie war, die die ihre vernichtet hatte, behagte ihr dieser Gedanke überhaupt nicht.
»Wissen Sie, Miss Molly«, begann Sam, »das, was sie heute getan haben, war ziemlich dumm. Sie hätten dabei getötet werden können.«
Molly setzte sich auf der Couch aufrecht hin. »Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu, Mr. Brannigan.«
»Ist das Ihr Ernst?« fragte Sam verblüfft nach.
»Aber gewiß doch. Hätte ich gewußt, was für ein vernünftiger Gegenspieler Sie sind, wäre ich einfach hierher geritten und hätte meine Botschaft persönlich überbracht.«
Der respektvolle Ton, den sie anschlug, besänftigte Sams Zorn ein wenig. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen.
»Vielen Dank für das Kompliment, Miss James, aber ich fürchte, daß Sie Ihre Meinung ein wenig voreilig gebildet haben. Sie und ich wissen, daß der Weg zur Mühle zehn Meilen länger ist, wenn man die Straße benutzt. Meine Ochsen können das Holz nicht so weit schleppen.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, und jede Spur von Humor war auf einmal aus seinem Gesicht verschwunden. »Ich habe vor, den Pfad auch weiterhin zu benutzen, so, wie wir es immer getan haben.«
Molly blieb unverzagt. Bis jetzt hatten die Brannigans sie wesentlich besser behandelt, als sie je erwartet hatte. Aber sie war natürlich nicht davon ausgegangen, daß der Mann ihren Forderungen gleich beim ersten Mal nachkam.
»In diesem Fall, Mr. Brannigan, will ich Ihnen einen Gefallen tun, da Sie sich heute als äußerst ritterlich erwiesen haben – wenn wir einmal davon absehen, daß Sie einer Frau einen Schlag aufs Kinn verpaßt haben. Sie können den Paß solange benutzen, bis der Fall vor Gericht entschieden wird. Doch dann erwarte ich, daß Sie dem Gesetz Folge leisten.«
Sams haselnußbraune Augen funkelten sie ungläubig an. »Sie geben mir die Erlaubnis, den Paß zu benutzen? Die Erlaubnis, meine eigene Straße zu benutzen?« Zuerst kicherte er nur, aber dann wurde sein kraftvoller Körper von einem Lachanfall durchgeschüttelt.
Molly entspannte sich auf der Couch und warf mit einer lässigen Geste ein paar rote Haarsträhnen über die Schulter. Schon vor langer Zeit hatte sie gelernt, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, und diese Fähigkeit war ihr bei mehr als einer Gelegenheit zupaß gekommen.
Als Sam sich schließlich wieder im Griff hatte, sagte er: »Sie sind wirklich etwas Besonderes, Miss James. Sagen Sie mir, was Sie tun werden, falls Sie vor Gericht verlieren werden?«
»Ich werde nicht verlieren, Mr. Brannigan.«
Sams Kinnmuskel zuckte auf, als sein Zorn wieder die Oberhand gewann. »Wissen Sie, Miss James, Sie treiben es doch etwas zu weit. Die Cedar Creek Ranch und die Lady Jay benutzen diesen Paß nun schon seit vielen Jahren zusammen. Es gibt keinen Grund, warum wir das nicht auch in Zukunft so halten sollten. Sie besitzen ausreichend Land, auf dem Holz steht; warum drängt es Sie nun so, einen Streit vom Zaun zu brechen?«
Molly schob ihr Kinn vor und warf ihm einen wutentbrannten Blick zu. Sie zwang sich dazu, an die einsamen Jahre im fernen Internat zu denken, an die Vernachlässigung, an den Verlust ihrer Mutter und der Liebe, die sie ihr entgegengebracht hatte. »Ihr Vater hat meine Mutter umgebracht, Mr. Brannigan. Deshalb möchte ich, daß jede Verbindung zu Ihrer Familie ein und für alle Mal beendet wird. Ich möchte, was mir gehört, was mein Vater für mich aufgebaut hat – und zwar jeden Hektar!«
»Sie meinen, Sie wollen Rache.«
Molly fühlte sich plötzlich unwohl, als sie Sam Brannigans aufgebrachten Gesichtsausdruck bemerkte. »So könnte man es auch ausdrücken, ja.«
»Und was ist mit meinem Vater?« fragte er. »Mein Vater hat im Gefängnis mit dem Leben bezahlt, für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Mein Vater ist gestorben, weil Ihr Vater ihn fälschlicherweise beschuldigt hat!« Seine Stimme strahlte eine tödliche Ruhe aus. »Aber im Gegensatz zu Ihnen, Miss James, lebe ich nicht in der Vergangenheit. Cedar Creek ist mein Leben, meine Heimat. Meine Brüder und ich haben schwer gearbeitet, um den Erfolg zu erzielen, den diese Ranch heute hat. Ich möchte mit Ihnen keine Schwierigkeiten. Was geschehen ist, war weder Ihre, noch meine Schuld.« Er atmete tief durch, um sich etwas zu beruhigen. »Aber wenn Schwierigkeiten das sind, was Sie wirklich wollen, dann, das schwöre ich bei Gott, werden Sie sie kriegen. Und zwar mehr, als Ihnen lieb sein dürfte!« Er ballte die Hand zur Faust. Sein Gesicht lief rot an, glich beinah dem Farbton von Mollys Haaren, und seine Nasenflügel bebten vor Wut.
»Lee Chin! Kommen Sie her und setzen Sie sich zu Miss James.« Dann richtete er seinen ernsten Blick auf Molly, die einen ersten Anflug von Angst verspürte, wie kleine Nadeln, die in ihrer Magengrube rumorten.
»Auf Wiedersehen, Miss James«, sagte Sam leise. Sein Tonfall zeugte nicht von dem Zorn, der in ihm wütete. Dann wandte er ihr seinen breiten Rücken zu und marschierte mit großen Schritten aus dem Zimmer. Mit einem lauten Knall flog die schwere Tür ins Schloß.
Sam band die Pferde vom Pfosten vor dem Haus los und führte sie entschlossen zum Pferch hinüber, wo er Gil und den großen Rappen des Mädchens zur Tränke brachte. Ihm war alles recht, solange er damit seine Wut lindern konnte. Das Letzte, was er wollte, war, die ganze alte Angelegenheit wieder auf den Tisch zu bringen. Die Jameses und die Brannigans. Es hatte Jahre gedauert, bis sich das Gerede in der Stadt gelegt hatte. Es hatte Jahre gedauert, bis seine Familie wieder in die Gesellschaft aufgenommen wurde. Emmet hatte eine Frau und zwei Kinder. Sams jüngster Bruder, Peter, schloß gerade ein Jurastudium in Harvard ab. Peter schmiedete Pläne und wollte Karriere in der Politik machen. Die Brannigans waren dabei, ein Imperium aufzubauen, und ein Imperium brauchte Führer. Peter, der über eine unbekümmerte Persönlichkeit, einen makellosen Lebenslauf und über ein hohes Maß an moralischer Integrität verfügte, war dazu auserkoren.
Nun hatte sein Bruder seinen ersten Fall: er mußte die Cedar Creek Ranch gegen die Landansprüche der Lady Jay vertreten. Wenn der Paß für den Abtransport des Holzes nicht so wichtig wäre, würde Sam den Forderungen des Mädchens nachgeben, nur um den Frieden zu wahren. Aber, zum Teufel noch mal, er war wichtig! Und außerdem gefiel es ihm nicht, daß eine Frau, die Hosen trug, ihm das Leben vergällte. Der Platz einer Frau war ihr Heim; sie sollte Kinder gebären, sich um ihren Ehemann kümmern – zumindest hatte er das bis jetzt immer geglaubt.
Seine Mutter hatte das für richtig gehalten. Lorna Brealorne Brannigan war die süßeste, sanfteste und freundlichste Frau gewesen, die Sam je gekannt hatte. Seinen Vater hatte sie auf einem Viehfrachtschiff kennengelernt, auf dem irische Emigranten nach Amerika gefahren waren. Sie hatten sich ineinander verliebt und geheiratet, sobald die lange, beschwerliche Fahrt ein Ende gehabt hatte. In den fünfziger Jahren hatte Shamus seine Frau nach Kalifornien gebracht, um dort nach Gold zu suchen. Und er hatte auch etwas gefunden. Nicht viel, aber genug, um ein Stück Land zu kaufen und die Cedar Creek Ranch zu gründen.
Sam war gerade zehn, als seine Mutter bei Peters Geburt starb. Bis dahin war es ihr gelungen, Sam einen Respekt gegenüber Frauen zu vermitteln, den er tief in seinem Herzen bewahrte. Er hielt sie für etwas Besonderes. Er konnte es nicht ertragen, wenn er eine Frau weinen sah, konnte es nicht ertragen, einer Frau weh zu tun. Und das war mit ein Grund, warum er nie geheiratet hatte. Bis jetzt hatte er noch nie eine Frau getroffen, der er treu bleiben konnte – schon gar nicht ein Leben lang. Und der Gedanke an Untreue, der beinhaltete, daß er ein nettes Mädchen anlog, war schuld daran, daß er Junggeselle geblieben war. Selbstverständlich hatte er Freundinnen, aber das ging nie so tief, als daß er ihnen die Ehe versprochen hätte. Auf diese Weise konnte er sie nicht verletzen.
Was ihn betraf, er hatte ja die Ranch, die ihn mehr als genug beanspruchte. Wann immer er sich einsam fühlte, stürzte er sich tiefer in die Arbeit. Außerdem waren da noch Emmet, seine Familie und Peter, um die er sich kümmern konnte. Auf keinen Fall brauchte er eine Frau, die ihn belastete.
Sam öffnete die Tür des Pferchs und führte den Falben hinein. Dann holte er den Rappen, achtete aber darauf, daß sie nicht beieinander standen. Es war sehr wohl möglich, daß Gil sich dem Gefährten im Pferch unsanft näherte, und Sam wollte nicht das Risiko eingehen, daß er seine Spuren auf dem glatten Fell von Mollys Pferd hinterließ.
Er mußte dem Geschmack des Mädchens, was Pferde betraf, Respekt zollen. Auch ihren Mut bewunderte er. Nur wenige Männer würden es wagen, sich mit einem Brannigan anzulegen. Molly James war in der Tat etwas ganz Besonderes. Sie hatte Colleens Augen und Figur – eine atemberaubende Figur – aber die Haare und die Dreistigkeit hatte sie von Malcolm James geerbt. Mal war ein rücksichtsloser und herrischer Tyrann gewesen. War Molly ebenso rücksichtslos wie er? Sie war eine Närrin – daran hatte Sam keinen Zweifel – und dumm genug, zu glauben, daß sie die Lady Jay führen konnte.
Dieser Gedanke beschwichtigte ihn ein wenig. Schon bald würde sie erkennen, wie sinnlos es war, die Arbeit eines Mannes erledigen zu wollen. Vielleicht würde sie dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen war, und die Klage fallenlassen. Zumindest hoffte er das.
Seiner Meinung nach wären damit beide Parteien gut bedient. Schon ein paar Stunden später verließ Molly die Cedar Creek Ranch, ohne auf das Eintreffen des Doktors zu warten. Sie hatte sich schlafend gestellt, und Lee Chin war in die Küche zurückgegangen, um sich dort um seine Aufgaben zu kümmern. Kaum, daß er verschwunden war, hatte sie sich aus der Vordertür geschlichen. Inzwischen war ihr nicht mehr schwindelig, und die Schmerzen am Hinterkopf hatten auch nachgelassen. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch vor Einbruch der Dunkelheit ihr Zuhause erreichen. Und um diese Zeit kehrte auch Joaquin zurück.
Molly führte True aus dem Pferch und schwang sich auf den Sattel, ohne die Steigbügel zu verwenden. Wenn ein Brannigan so aufsteigen konnte, dann konnte sie das auch. Ihr fiel auf, daß der Karabiner wieder in dem Holster verstaut war. Das zur Bedrohung, die sie darstellen wollte. Es war ganz offensichtlich, daß niemand sie ernst nahm. Sie mußte lächeln. Die sollten sich nur in Sicherheit wähnen, bis sie die Klageschrift zugestellt bekamen. Dann mußten sie sie ernst nehmen.
Mollys Blick schweifte durch den Pferch, in dem auch Sams Falbe stand. Aber der Mann war – Gott sei Dank – nirgendwo zu sehen. Die erste Runde hatte ihr gereicht!
Auch ihr Vater war ein großer, stattlicher Mann gewesen, hatte ungefähr die gleiche Statur wie Emmet gehabt. Die roten Haare hatte Molly von ihm geerbt – und auch das Temperament, auch wenn sie gelernt hatte, ihre Gefühle ziemlich gut unter Kontrolle zu halten. Obwohl sie sich niemals richtig nahegestanden hatten, wünschte Molly, daß ihr Vater hier wäre, um ihr zu zeigen, wie man die Lady Jay leitete. Ohne seine Unterstützung erforderte diese Aufgabe jedes Quentchen Willenskraft, das sie aufbringen konnte, und ein hohes Maß an Bestimmtheit, um die Ranch erfolgreich zu führen. Als sie aus dem Osten zurückgekehrt war, hatten die meisten Arbeiter ihren Job hingeschmissen, weil sie davon ausgegangen waren, daß das Land verkauft wurde. Nur Joaquin, Angelina und der alte Torger Johnson, der oben im Holzfällerlager lebte, waren geblieben. Seit ihrer Ankunft hatte Molly tagsüber jede Minute mit den beiden Männern verbracht, und sie war ihnen für ihr Wissen und ihre Hilfsbereitschaft dankbar.
Joaquin war ein vaquero. Es gab weit und breit niemanden, der sich besser um das Vieh kümmern konnte als er, aber von der Holzfällerei verstand er gar nichts, Torger hingegen kannte sich im Holzfällergeschäft besser aus, als jeder andere Mann auf dieser Erde. Aber er war leider kein Vormann und wollte es auch nicht werden. Seit ihrer Kindheit war er ihr ein guter Freund gewesen und hatte unzählige Stunden damit verbracht, ihr Dinge über den Wald und die Holzfällerei beizubringen. Nun dankte sie ihm seine Geduld. Ihr Wissen um die Fähigkeiten, die in der Welt der Männer zählten, gab ihr vielleicht die Chance, die sie so dringend brauchte.
Molly trieb True an. Sie ritt an dem Schuppen vorbei, trabte durch den Flußarm und verschwand in den Wäldern. Da sie sich in den Bergen gut auskannte, mußte sie sich nicht an die Wege halten. Bevor sie mit dreizehn ins Internat gekommen war, hatte sie jeden Quadratzentimeter, der zur Ranch gehörte, abgeritten. In den drei darauffolgenden Jahren hatte sie den Sommer auch auf der Ranch verlebt, aber dann hatte der Vater ihr nicht mehr erlaubt, nach Hause zu kommen. In ihren Briefen hatte Angelina angedeutet, daß der Vater wollte, daß sie sich voll und ganz auf das Lernen konzentrierte. Der Vater war immer viel zu beschäftigt gewesen, um selbst zu schreiben.
Nachdem sie über einen kahlen Bergkamm geritten waren, suchte True sich an diesem felsigen Abhang seinen Weg selbst. Molly konnte in der Ferne ein paar Männer erkennen, die sich um die Herde auf den Feldern kümmerten. Da sich der Horizont langsam rot färbte, mußten sie die Arbeit bald niederlegen. Mollys Gesicht zierte ein breites Grinsen. Der Himmel hatte fast genau die Farbe von Sam Brannigans Gesicht, als sie ihm gesagt hatte, daß sie den Paß für sich allein beanspruchte. Dieser Mann hatte wirklich Temperament. Andererseits spürte sie aber eine unterschwellige Sanftheit, mit der sie nicht gerechnet hatte.
Nach einem einstündigen Ritt gelangte sie zu dem Kiesweg, der zum Haupthaus führte. Anfänglich hatte die Ranch Vagabund geheißen, aber Mal James hatte sie dann zu Ehren seiner Frau Colleen James in Lady Jay umbenannt.
Zu ihrer Überraschung stand ein leerer Buggy vor dem Haus. Seit ihrer Rückkehr vor zwei Monaten hatte sie keine Besucher gehabt. Und nach dem heutigen Streit mit den Brannigans hatte sie kein Bedürfnis nach sozialen Kontakten. So ritt sie direkt zum Schuppen, sattelte True ab, striegelte ihn und wischte ihn trocken. Nachdem sie damit fertig war, marschierte sie zum Haus hinüber. In den Kleidern, die sie trug, konnte sie eigentlich niemanden empfangen, und außerdem waren die Kopfschmerzen wieder zurückgekehrt.
Angelina machte die Hintertür auf und begrüßte sie. »Chica. Donde estuviste? Du hast Besuch.« Angel legte ihre kräftige Hand unter Mollys Kinn, hob es hoch und inspizierte den blauen Fleck. »Was ist dir zugestoßen?«
»Ich… ich hatte einen Unfall«, antwortete sie ausweichend und wechselte sofort das Thema. »Warum bist du schon so früh zurück?« Angelina, die schon wieder hinter dem Herd stand, drehte ein Stück Teig von einem großen Klumpen ab, der auf dem Tisch neben dem Herd lag, und formte mit ihren dick gepolsterten Handflächen eine Tortilla.
»Ich bin drüben auf der Cedar Creek gewesen und habe unseren Nachbarn, Sam Brannigan, getroffen.« Molly beobachtete Angels Reaktion. Die dicken Halsfalten unter ihrem Doppelkinn kamen in Bewegung, als sie laut kicherte.
»Unser Nachbar ist ein Mann, nicht wahr, chica? Vielleicht hätte ich dich warnen sollen.«
Molly grinste. »Vielleicht wäre das wirklich besser gewesen. Ich fürchte, ich habe nicht gerade einen guten Eindruck hinterlassen. Ich habe ihm gesagt, daß wir vor Gericht um den Paß kämpfen werden.«
Angel gackerte und legte die Stirn in Falten. Dann wedelte sie mit einem dicken Finger vor Mollys Gesicht herum. »Ich habe dir gesagt, daß du diesen Unsinn lassen sollst. Die Vergangenheit ist vorbei. Laß sie ruhen. Sam Brannigan ist ein guter Mann.«
»Wer ist zu Besuch gekommen?« fragte Molly, die wieder das Thema wechseln wollte. Sie wußte ganz genau, was Angel von der Klage hielt. Die Frau, die ihr wie eine zweite Mutter war, hielt niemals mit ihrer Meinung hinterm Berg.
»Oh, si, das hätte ich ja fast vergessen. Dein Onkel Jason ist hier.«
»Onkel Jason? Ist Tante Vera auch da?« Doch die Antwort wartete sie gar nicht erst ab. Erfreut, ihre Tante und ihren neuen Onkel zu sehen, stürmte sie von der Küche in den Salon. Das Haus war wesentlich kleiner als Sams weitläufiges Haus auf der Cedar Creek, die Möbel aber feiner: Da standen Queen-Anne-Tischchen mit zarten Beinen, Chippendale-Stühle aus Mahagoni, ein Windsor-Schaukelstuhl, eine geschnitzte Walnußtruhe und ein Sofa, das mit einem Gobelin überzogen war. Anmutige Spitzenzierdecken, die ihre Mutter eigenhändig gefertigt hatte, waren auf den Tischen ausgebreitet.
Als Molly in den Salon gelaufen kam, erhob sich ein großer Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war, vom Sofa. Als sein Blick auf ihr dreckiges Hemd und die Reithosen fiel, verschwand das Begrüßungslächeln, und der Mann blickte bestürzt drein.
Molly bemerkte sein Erstaunen und seine weit aufgerissenen Augen und unterdrückte ein Lachen. Warum erstaunte es die Männer so sehr, daß eine Frau zur Arbeit praktische Kleidung trug?
»Sie müssen Onkel Jason sein«, sagte sie mit kontrollierter Stimme. »Ich freue mich wirklich, Sie kennenzulernen. Tante Vera hat mir geschrieben und mir von Ihnen erzählt. Wo ist sie?« Sie streckte ihm ihre rauhe Hand entgegen und suchte das Zimmer nach dem Sommersprossengesicht ihrer Tante ab. Obwohl ihr Onkel von ihrer Aufmachung verwirrt zu sein schien, führte er galant ihre Hand an seine Lippen.
»Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenzulernen, Miss James.«
»Bitte nennen Sie mich Molly«, schlug sie vor. »Wo ist Tante Vera? Ist sie nicht mitgekommen?« Sie konnte es nicht erwarten, ihre Tante zu sehen. Obwohl Tante Vera nie nach Kalifornien gekommen war, hatte sie Molly mehrmals in Mrs. Finchs Mädchenpensionat in Chicago besucht. Zwischen den beiden Frauen hatte sich zaghaft eine Freundschaft entwickelt, von der Molly hoffte, daß sie noch enger würde. Vor gut sechs Monaten hatte Molly einen Brief erhalten, in dem ihre unverheiratete Tante von ihrer bevorstehenden Hochzeit berichtete. Danach hatte sie nichts mehr von ihr gehört. Molly war davon ausgegangen, daß sie sich erst einmal an ihr neues Leben gewöhnen mußte und insofern viel zu beschäftigt gewesen war, um zu schreiben.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Miss James«, sagte Jason Foley. Er hatte wieder die Fassung erlangt, aber auf seinem wohl geschnittenen Gesicht lag trotzdem noch ein ernster Ausdruck.
Auch sein Tonfall war ernst, so daß Molly auf der Stelle seinem Vorschlag nachkam.
»Es behagt mir gar nicht, der Überbringer trauriger Nachrichten zu sein, aber ich muß Ihnen sagen, daß Ihre Tante vor drei Wochen bei einem scheußlichen Unfall ums Leben gekommen ist. Ich hätte Ihnen ein Telegramm geschickt, aber da sie und ich schon beabsichtigt hatten, in den Westen zu reisen, hielt ich es für besser, Ihnen die Nachricht persönlich zu überbringen.«
Molly spürte, wie Verzweiflung in ihr aufkeimte. »Tante Vera ist tot?«
»Ja, leider.«
Molly faltete die Hände, damit sie nicht so zitterte. Ihr Onkel legte seine Hand auf ihre, um seiner Anteilnahme Ausdruck zu verleihen. Erst vor relativ kurzer Zeit hatte Molly die grazile Frau kennengelernt, die ihre Tante war.
Vera James Foley war die Schwester ihres Vaters gewesen und somit ihre letzte Blutsverwandte. Nun wo Tante Vera tot war, fühlte sich Molly James so einsam wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
»Ich weiß, daß das ein harter Schlag für Sie ist«, sagte ihr Onkel. »Zuerst der Verlust Ihres Vaters – und jetzt das. Glauben Sie mir, auch ich habe sehr gelitten. Ihre Tante habe ich über alle Maßen geliebt. Unsere gemeinsame Zeit ist sehr kurz gewesen.«
Als Molly aufblickte, sah sie, daß Tränen die schwarzen Augen ihres Onkels zum Funkeln brachten. Sie wünschte, sie hätte es ihm gleichtun und ebenfalls weinen können, aber sie spürte nur eine große Benommenheit.
Erst jetzt fiel ihr der weiße, steife Kragen auf, der im harten Kontrast zu seiner dunklen Haut und seinem noch dunkleren, düsteren Anzug stand.
»Sind Sie… sind Sie ein Prediger?« fragte sie gelähmt.
»Gott, ja, hat Ihre Tante Ihnen das nicht erzählt?«
»Nein. Nein, das hat sie nicht. Wahrscheinlich fürchtete sie, daß mein Vater es herausfinden könnte. Er hätte die Ehe mit einem Protestanten nicht gutgeheißen. Die Jameses sind seit Generationen katholisch.«
»Als Ihre Tante und ich uns ineinander verliebt haben, ist sie zu meinem Glauben übergetreten, der mir auch geholfen hat, die Trauer über ihren Verlust zu ertragen.«
Er wandte sich ab und wischte sich eine Träne von der Wange. Molly beneidete ihn darum, daß er so offen trauern konnte. Statt dessen saß sie schweigend da und starrte ihre Hände an, die sie im Schoß gefaltet hatte. Obwohl der Pfarrer ein frommer Mann zu sein schien, hatte er etwas Seltsames an sich – etwas, das ihr gebot, sich vor ihm in acht zu nehmen.
»Wie ist sie gestorben?« fragte Molly leise nach. Einerseits wollte sie Bescheid wissen, aber auf der anderen Seite wünschte sie inständig, daß sie aufwachte und alles nur ein böser Traum gewesen war.
»In der Pension, in der wir wohnten, brach ein Feuer aus. Es war scheußlich. Scheußlich.« Er zog ein Taschentuch aus seiner Anzugjacke und wischte die Tränen aus den Augen. »Ich fürchte, es regt mich zu sehr auf, darüber zu sprechen.«
»Ich verstehe.« Seltsamerweise hatte Molly das Gefühl, daß seine Trauer nicht ganz so tief ging, wie er sie glauben machen wollte. Sie erhob sich von der Couch und hatte alle Mühe, den Schmerz, den die Beule ihr bereitete, und die Trauer, die sie empfand, zu überspielen. »Danke, daß Sie persönlich vorbeigekommen sind, um mir die Nachricht zu überbringen. Ich hoffe, daß Sie mit dem Gedanken spielen, noch eine Weile auf der Ranch zu bleiben. Ich weiß, daß meine Tante gewollt hätte, daß wir uns näher kennenlernen.« Die höflichen Worte, die ihr über die Lippen kamen, schienen von weit her zu kommen.
»Selbstverständlich werde ich bleiben. Jetzt, wo Ihre Tante tot ist, bin ich Ihr Vormund. Ich bin auch hierhergekommen, um Ihnen bei der Verwaltung Ihres Erbes behilflich zu sein. Wenn wir die Ranch erst einmal verkauft haben, werden wir zusammen in Richtung Osten aufbrechen.«
Mollys Kopf fuhr hoch. »Zusammen nach Osten gehen? Ich fürchte, ich verstehe nicht. Nachdem Sie und Vera geheiratet hatten, hat mein Vater Sie mit meiner Vormundschaft betraut, das weiß ich wohl. Aber ich habe es als rein formale Angelegenheit begriffen. Sicherlich gehen Sie nicht davon aus, daß ich die Lady Jay verkaufen werde?«
»Aber natürlich, meine Liebe. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.« Er stand auf und schaute ihr ins Gesicht. Wieder fiel ihr auf, was für ein gutaussehender Mann Pfarrer Jason Foley doch war. Er war groß und besaß einen wohlproportionierten Körper. Seine ordentlichen Kleider saßen ausgezeichnet. Kurzes, schwarzes Haar, das frisch geschnitten und gewaschen war, umrahmte in Locken sein distinguiertes Gesicht, das von wenigen Falten geziert wurde. Nur die silbernen Schläfen verrieten sein wahres Alter. Trotz ihrer Verwirrung fiel ihr auf, was für ein seltsamer Gefährte er für ihre Tante gewesen sein mußte.
»Ich habe vor, die Lady Jay zu leiten«, antwortete Molly. Ihre Stimme schien immer noch von fern zu kommen.
»Molly, meine Liebe, das ist doch absurd. Eine junge Frau kann unmöglich eine so große Ranch führen. Ich fürchte, ich muß das verbieten.« In seinen forschenden Augen glimmte ein eigenwilliges Licht.
»Sie verstehen nicht, Onkel Jason«, erwiderte Molly, die langsam wütend wurde. »Sechzig Prozent der Lady Jay gehören mir. Da Tante Vera nicht mehr am Leben ist, nehme ich an, daß die anderen vierzig Ihnen gehören.«
»So ist es.«
»Dann dürfte Ihnen ja einleuchten, daß ich diejenige bin, die die Entscheidungen fällt. Und daß ich die Ranch leiten werde.« Im Testament ihres Vaters waren einige strenge Bedingungen festgehalten. Die Wichtigste besagte, daß sie innerhalb von zwei Jahren nach dem Tod ihres Vaters Profit machen mußte. Außerdem mußte sie in den nächsten vierundzwanzig Monaten auf der Ranch leben, solange sie nicht heiratete. Aber wie dem auch war, sie mußte Profit machen. Ihr Vater hatte nie geglaubt, daß es ihr ernst damit gewesen war, die Lady Jay zu behalten, aber er hatte ihr eine Chance eingeräumt. Und dafür würde sie ihm immer dankbar sein.
»Natürlich, meine Liebe. Obwohl ich Ihr Vormund bin, hatte ich nicht vor –«
»Ich kann mir vorstellen, daß Sie aufgeregt und müde sind, Onkel Jason. Das bin ich auch«, unterbrach Molly ihn. »Wir beide haben einen langen Tag hinter uns. Falls Sie mich jetzt entschuldigen würden, werde ich mich zurückziehen. Angelina wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Das Abendessen wird um sieben serviert, aber ich werde heute auf meinem Zimmer speisen.«
»Selbstverständlich.« Jason Foley verbeugte sich knapp. Sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich. »Wir werden uns morgen früh weiter unterhalten.«
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Molly sich älter als neunzehn. Die Tatsache, daß die Ranch unter ihrer Leitung Profit abwerfen mußte, war eine schwierige Herausforderung, auf die sie sich freute. Probleme mit ihrem Onkel wollte sie hingegen um keinen Preis.