Читать книгу Together - Katrin Gindele - Страница 8

Оглавление

3

Wie viel Zeit inzwischen vergangen war, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Und direkt daneben, wie ich verwundert feststellte, der Mond.

Sonne und Mond, zur gleichen Zeit am Himmel.

Solch ein Schauspiel gab es ganz offensichtlich nur im Winter zu bewundern, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, schon einmal so etwas Eindrucksvolles gesehen zu haben.

Ein paar Mal blinzelte ich, um meinen Verstand einzuschalten, der noch immer von einer dichten Nebelwolke umfangen schien. Ganz allmählich klärten sich meine Sinne.

Ich lag im Schnee, mit dem Gesicht zur Seite gedreht. Meine Hände waren nun vor meinem Bauch gefesselt, nicht mehr auf dem Rücken. Der Schnee unter mir kühlte meine geschwollene Wange und ließ den Schmerz erträglicher werden, der beinahe zeitgleich mit meinem Bewusstsein erwachte. Vorsichtig versuchte ich den Kopf anzuheben, damit ich besser sehen konnte.

Unweit von mir hockten meine beiden Entführer um ein Lagerfeuer herum, zusammen mit anderen Männern.

Das müssen mindestens zwanzig Nordmänner sein, fuhr es mir durch den Kopf.

Mein Blick schweifte ab, ich versuchte mir ein Bild von der Umgebung zu machen. Doch schon kurz darauf blieben meine Augen an der dunkelroten Stelle im Schnee hängen, kaum drei Fuß von mir entfernt.

Mein Magen drohte zu rebellieren. Blut.

Der Schnee war blutdurchtränkt. Leichte Nebelschwaden stiegen empor und die Wärme des Blutes vermischte sich mit der eisigen Kälte.

Der Geruch von warmem Fleisch, gepaart mit literweise frisch vergossenem Blut, stieg mir in die Nase und brachte mich augenblicklich zum Würgen.

Meinen Kopf zur anderen Seite drehend, um dem Gestank zu entgehen, entdeckte ich unmittelbar neben mir einen riesigen Haufen abgetrennter Tierköpfe. Mit hervorgequollenen Augen und Zungen, die weit aus ihren Mäulern hingen, starrten mich ihre toten Überreste anklagend an.

O nein...

Einer weiteren Ohnmacht nahe, versuchte ich den Blick auf etwas anders zu fokussieren, um meinen aufgewühlten Magen abzulenken.

Der Rastplatz glich einem Schlachtfeld, überall entdeckte ich blutige Fußspuren und an einigen Stellen dampften Berge von frischen Eingeweiden.

Die armen Tiere.

Stumme Tränen sammelten sich in meinen Augen. Noch nie zuvor hatte ich etwas derart Grausames gesehen. Der Schauplatz dieser Brutalität übertraf alles, was ich bisher erblickt hatte.

Meine Reflexe ließen sich nicht länger unterdrücken, da mir eine weitere Wolke mit dem Geruch frischen Blutes entgegenwehte.

Ich begann heftig zu würgen.

Einer der Männer drehte sich in meine Richtung.

»Sie ist wach«, stellte er emotionslos fest. »Und wenn ihr nicht wollt, dass sie erstickt, würde ich an eurer Stelle schnellstens den Knebel entfernen, weil sie gleich kotzt.«

Der Mann, der mir ins Gesicht geschlagen hatte, fluchte laut und schamlos. Sichtlich genervt erhob er sich von seinem Rastplatz und steuerte auf mich zu. Mit einem gekonnten Handgriff lockerte er den Knebel und zog ihn runter.

Keinen Moment zu früh.

Ich würgte alles hoch, was sich in meinem Magen befand:

eine Handvoll aufgeweichter Kekse, gemischt mit den Überresten der Honigdrops und einen großen Schwall Magensäure – was ein fürchterliches Brennen in meinem Hals verursachte.

»Das ist ja widerlich«, beklagte sich der Mann lachend.

Die anderen Männer stimmten in sein Gelächter ein, erhoben sich von ihren Plätzen und bildeten einen lockeren Halbkreis um mich, während sie vergnügt dabei zuschauten, wie ich den letzten Rest Keksbrei hochwürgte.

»Bist du fertig?«, fragte mich mein Peiniger, nachdem ich endlich alles erbrochen hatte.

Er ging in die Hocke und griff nach dem Knebel, doch ein anderer Mann mischte sich ein.

»Wir sind ewig weit weg vom Dorf«, gab er an. »Selbst in dem Fall, dass sie versuchen würde aus Leibeskräften zu schreien, kann sie hier niemand hören. An deiner Stelle würde ich den Knebel weglassen, nur für den Fall, dass sie nochmal kotzt.«

Die Männer lachten wieder und der andere Kerl richtete sich auf, ohne mir das eklige Stückchen Leinen wieder in den Mund zu stopfen. Überlegend betrachtete er mich eine Weile, zuckte schließlich mit den Schultern, drehte sich um und folgte der Gruppe zum Lagerfeuer.

Nachdem sich mein Magen einigermaßen beruhigt hatte, versuchte ich die Schmerzen zu lokalisieren, welche mich noch immer fest im Griff hatten.

Offensichtlich waren meine Mundwinkel von dem Knebel eingerissen. Ganz deutlich konnte ich getrocknetes Blut zwischen meinen Lippen schmecken. Mein rechtes Auge pochte unentwegt, meine gesamte rechte Gesichtshälfte schmerzte von dem Schlag, jetzt, da ich mein volles Bewusstsein zurückerlangt hatte.

Mühsam versuchte ich mich aufzusetzen, was mir erst nach mehreren Versuchen gelang, da ich mich dabei ziemlich ungeschickt anstellte.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass ich beobachtet wurde. Die Männer sprachen leise miteinander, machten Scherze und nagten dabei an den Knochen unserer abgeschlachteten Tiere. Dazu tranken sie unseren Wein. Immer wieder huschten ihre verstohlenen Blicke in meine Richtung, wahrscheinlich, um sicherzustellen, dass ich nicht versuchen würde abzuhauen – was in meinen Augen wenig Sinn machte.

Wohin sollte ich schon gehen? Man musste wirklich kein Genie sein, um die ausweglose Lage zu erkennen, in der ich mich befand.

Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Weit und breit gab es kaum etwas anderes. Hinter mir erstreckte sich ein dunkler Wald mit sehr hohen Bäumen. Direkt vor mir gab es nur die endlose Weite einer kargen Winterlandschaft. Hier und dort entdeckte ich ein paar Hügel und in einiger Entfernung konnte ich einen kleinen zugefrorenen See ausmachen.

Leider kam mir an dieser Umgebung rein gar nichts bekannt vor. Könnte ich mich von den Fesseln an meinen Handgelenken befreien, wüsste ich nicht einmal, in welche Richtung ich laufen musste. Alles sah gleich aus.

»Die haut nicht ab«, gab der Mann zum Besten, der mich über seine Schulter geworfen hatte. »Die war noch nie alleine unterwegs, sie weiß nicht mal, in welcher Richtung ihr Dorf liegt.«

Er lachte dröhnend und die anderen stimmten mit ein.

In mir hingegen sank aller Mut, meine Familie jemals wiederzusehen.

So sehr ich dieses Monster auch hasste, leider hatte er recht mit seiner Behauptung. Nur ein einziges Mal war ich bis jetzt weiter von unserem Dorf entfernt gewesen als bis zu unserem jährlichen Treffpunkt vor der Winterruhe.

Als ich noch klein war, ungefähr so alt wie meine Schwester jetzt, hatte mich mein Vater in die Stadt mitgenommen. Einmal jährlich musste er dort seine Unterlagen hinterlegen, so wie jeder Mann einer Vorsteherin es schon seit Anbeginn der Zeit tat. Das war die Aufgabe meines Vaters, er zählte das Vieh in unserem Dorf, führte genau Buch über Geburten und Todesfälle, trieb die Steuern ein und kümmerte sich um die Belange der Bauern.

Der Ausflug war aufregend gewesen. All die großen Häuser und der Lärm auf den eng befahrenen Straßen, wo es von Pferdekutschen nur so wimmelte. Trotzdem hatte ich die Heimreise damals kaum erwarten können. Ich fühlte mich einfach nicht wohl in der Stadt. Seitdem blieb ich Zuhause, wenn Vater dort seine Geschäfte erledigte.

Meine Gedanken überschlugen sich.

Hier draußen in der Kälte, weit weg von unserem Dorf, war ich der Willkür dieser Scheusale schutzlos ausgeliefert.

Ich war die Tochter einer Vorsteherin, ich sollte hübsch aussehen und unser Haus repräsentieren.

Scheinbar war das alles, was ich konnte: Hübsch aussehen, lächeln, schöne Kleider tragen.

Mit einem prüfenden Blick auf meine Entführer wurde mir klar, dass ich ohne sie hier draußen in der Wildnis keinen einzigen Tag lang überleben würde. So sehr mich dieser Gedanke auch quälte, ich brauchte gar nicht erst versuchen abzuhauen, es sei denn, ich wollte erfrieren oder verhungern, ehe ich das Dorf erreichte. Falls ich es überhaupt jemals finden würde.

Mein Blick heftete sich erneut auf die Männerschar, die immer noch genüsslich an den Knochen nagten. Obwohl ich mir wirklich die größte Mühe gab, schien es mir unmöglich sie auseinanderzuhalten.

Irgendwie sahen alle gleich aus in ihren grauen Mänteln, mit Fell behängt. Groß, breitschultrig und vermummt von Kopf bis Fuß.

Außer den dunklen stechenden Augen, die unter ihren dichten Kapuzen hervorlugten, sahen sie einander viel zu ähnlich.

Aufmerksam betrachtete ich die Männer, auf der Suche nach irgendetwas, wovon ich profitieren konnte, und sei es auch nur ein klitzekleiner Hinweis auf eine Schwachstelle. Vielleicht gab es unter ihnen einen, von dem ich etwas Mitleid erhalten würde.

Wem wollte ich hier was vormachen?

Ich seufzte leise. Keines dieser Ungeheuer würde Mitleid zeigen, dessen war ich mir gewiss.

Ich hasste die Männer für das, was sie unserem Vieh angetan hatten. Und dafür, dass ich von ihnen verschleppt wurde. O ja, ich hasste jeden einzelnen von ihnen abgrundtief.

Allerdings würde sich an meiner Situation nichts ändern, solange ich nur hier im Schnee kauerte und den Kerlen böse Blicke zuwarf.

So oder so.

Um meine Situation zu verbessern, musste ich aktiv werden. Besser heute als morgen.

»Meine Mutter ist die Vorsteherin«, rief ich kurz entschlossen in die Runde, ehe mich der Mut verließ.

»Ich bin sicher, sie zahlt einen hohen Preis für meine Freilassung.«

Auch eine Horde wilder Nordmänner würde doch wohl hoffentlich meine Stellung anerkennen? Als Erstgeborene einer Vorsteherin, wenn ich diesen Titel auch nicht ausstehen konnte, sollte mein Leben einiges wert sein – zumindest hoffte ich das.

Wie auf Kommando verstummten sämtliche Gespräche und ausnahmslos alle Männer drehten den Kopf in meine Richtung. Unverhohlen starrten sie mich mit ihren beinahe schwarzen Augen an.

»Da ich die Tochter einer Vorsteherin bin«, sprach ich erhobenen Hauptes und versuchte nicht zu zittern, »haben wir mehr Geld als ihr alle zusammen. Meine Mutter wird euch für meine Freilassung sicherlich reich belohnen.«

Natürlich würde sie das, schließlich war ich ihr wertvoller als Gold und Gut.

Ein Mann erhob sich nun langsam und kam auf mich zu. Erst als er unmittelbar vor mir stand, erkannte ich den Nordmann, der zuallererst in unser Haus eingedrungen war. Sein stechender Blick heftete sich auf mein Gesicht.

Ich schluckte mehrmals, während er mich finster anschaute, dennoch versuchte ich mit aller Würde, die ich aufbringen konnte, seinem misstrauischen Blick standzuhalten.

»Scheiß auf dein Geld«, stieß er hervor und spuckte direkt vor mir in den Schnee. »Wir brauchen dein Geld nicht.«

Ohne noch etwas zu sagen, trat er den Rückweg an.

»Aber was ...«, rief ich ihm hinterher, von meiner Verzweiflung angetrieben.

Der Mann blieb auf halbem Wege ruckartig stehen und wirbelte zu mir herum.

»Was wollt ihr dann von mir?«, beendete ich meinen Satz ganz vorsichtig und leise.

Seine tiefbraunen Augen wirkten kalt und hasserfüllt, darum wagte ich es nicht, meine Stimme noch einmal zu erheben.

»Ich könnte eine Dienstmagd gebrauchen«, rief einer der anderen Männer. »Oder eine Braut für meinen Sohn.«

Die übrigen Nordmänner grölten vor Lachen.

»Eine Braut?«, echote der Mann, mit dem ich eben noch zu verhandeln versucht hatte. Dabei wurden seine Augen zuerst riesengroß, dann zog er die Brauen finster zusammen.

»Du würdest Matalo ernsthaft eine Südtochter ins Bett legen?«, fragte er den alten Mann.

Ich konnte den Ekel aus seinen Worten heraushören, den er für mich empfand.

»Vorher würde ich mich über die Klippen stürzen, das versichere ich dir«, schwor dieser mit eiskalter Stimme.

»Und ich würde freiwillig hinterher springen«, warf ein anderer ein.

Alle lachten über mich, laut und schamlos, während mir der Nordmann nun endgültig den Rücken zudrehte und sich zügig entfernte.

Mit zusammengepressten Lippen ballte ich die Fäuste. Die Schmach, die mir soeben zuteilgeworden war, wog schwer. Ich fühlte mich in meinem Stolz verletzt – und gedemütigt.

Ob ich den Titel nun mochte oder ablehnte, es gab Dinge, die waren in Stein gemeißelt: Niemand durfte sich über die Tochter einer Vorsteherin lustig machen.

Mein angeknackstes Selbstbewusstsein blendete die gefährlichen Tatsachen komplett aus. Ich wusste genau, wen ich vor mir hatte und auch, wozu sie in der Lage waren. Doch das war mir in diesem Moment völlig egal.

»Du könntest dich glücklich schätzen eine Südtochter als Frau zu bekommen«, rief ich dem Nordmann wutentbrannt hinterher. »Aber wer will schon solch ein Monster als Ehemann haben? So etwas Widerliches wie dich würde keine von uns anfassen. Du bist nicht besser als die dreckigen Schweine meines Vaters hinter unserem Haus.«

Schon kurz nachdem die Worte meinen Mund verlassen hatten, bereute ich jede einzelne Silbe davon. In meiner Position war es äußerst unklug gewesen solche Bemerkungen zu machen.

Während ich erschrocken den Kopf einzog, sprang der Mann, der sich gerade erst hingesetzt hatte, ruckartig wieder auf. Geradewegs kam er auf mich zu, mit hastigen Schritten und Augen, die vor Wut beinahe Funken sprühten.

Er sagte nichts, nicht ein einziges Wort. Trotzdem rutschte mir das Herz vor Angst förmlich in die Hose, weil ich genau wusste, dass ich zu weit gegangen war.

Kurz bevor er mich erreicht hatte, bremste er ab.

Mit angehaltenem Atem schaute ich vorsichtig zu ihm hoch. Es folgte plötzlich ein beißender Schmerz von unvorstellbarem Ausmaß. Mein Kopf flog zur Seite.

Durch die Wucht seines Schlages wurde ich rücklings in den Schnee geschleudert. Meine Schläfen hämmerten, der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen.

Indem ich mich mühevoll auf die Knie zwang, versuchte ich mich aufzurichten und bemerkte die Blutlache direkt vor meinen aufgestützten Handballen im Schnee. Es tropfte unaufhörlich aus meinem Mund.

Ganz vorsichtig setzte ich mich in den Schnee und betastete mit gefesselten Händen meine aufgeplatzte Unterlippe. Bedingt durch die Wucht seines Schlages, hatte ich mir zudem auch noch auf die Zunge gebissen. Mein Kopf wollte mir zerspringen, augenblicklich wurde mir schwindlig.

»War das wirklich nötig?«, hörte ich einen anderen Nordmann fragen. Seine Stimme klang fast ein bisschen besorgt und ein peinlich berührtes Schweigen breitete sich unter den Männern aus, die eben noch über mich gelacht hatten.

»Ja, das war nötig«, erwiderte der Mann, dem ich diese heftige Ohrfeige zu verdanken hatte. »Dieses arrogante Gör versteht ganz offensichtlich keine andere Sprache.«

Tief in mir drinnen begann es zu brodeln.

Mutter wird dich dafür auspeitschen lassen, fuhr es mir durch den Kopf, vor allen Dorfbewohnern, mitten auf dem Marktplatz. Und ich werde danebenstehen und die Schläge zählen.

Eins. Zwei. Drei…

Ich spürte, wie sich meine Lippen teilten und die Worte formten, die sich in meiner Kehle sammelten. Doch diesmal war ich klug genug, um den Mund zu halten, denn einen weiteren Schlag wollte ich nicht riskieren. Also schluckte ich meinen Ärger hinunter und versuchte stattdessen, mich auf die Schmerzen zu konzentrieren.

Nachdem ich einen weiteren Schwall Blut in den Schnee gespuckt hatte, stellte ich erleichtert fest, dass keines mehr nachkam.

»Wir müssen weiter«, forderte einer der Männer unvermittelt.

Schweigend wurde zusammengepackt. Ein paar Männer beluden kleine Karren mit Fell und Fleisch, andere trugen riesige Berge Proviant auf ihren Rücken.

Ich kauerte im Schnee, halb sitzend, halb liegend, weil ich mir nicht sicher war, ob ich doch noch das Bewusstsein verlieren würde. Das Bild vor meinen Augen drohte zu verschwimmen.

Ruckartig wurde ich auf die Beine gezerrt.

»Beweg dich«, kommandierte der Schläger, indem er mich an der Schulter packte und vorwärtsdrängte.

Mühevoll versuchte ich, nicht gleich wieder umzukippen, was sich jedoch als ziemlich schwierig erwies. Meine Knie zitterten und ich wankte.

»Die macht uns nur Probleme«, brummte ein weiterer Mann, der zu uns aufholte.

Anhand der unzähligen Falten um seine Augen herum, schätzte ich ihn auf sechzig bis siebzig Sommer.

»Lass sie hier«, murrte er und schob sich an uns vorbei. »Das ist unnötiger Ballast, so kommen wir nie an.«

Vor Schreck blieb mir fast die Luft weg. Mich hierlassen? Alleine in der Wildnis? Großer Lichtgott, das durfte nicht geschehen, dann wäre ich verloren!

»Wenn es nach mir geht, kann sie hier verrecken«, gab mein Peiniger zurück und machte Anstalten, mich stehenzulassen.

»Es geht aber nicht nach dir«, mischte sich der ältere Nordmann ein, dem ich meine allererste Ohrfeige verdankte.

»Sie kommt mit uns. Ende der Diskussion.«

Ich wurde angetrieben, vorwärts geschoben und unsanft in Richtung Wald dirigiert.

Der Weg durch den kniehohen Schnee war beschwerlich, ich stolperte immer wieder und fiel hin. Meine Halbschuhe boten wenig Schutz gegen den Schnee, nach wenigen Schritten waren meine Socken triefend nass. Doch die Männer hatten kein Erbarmen mit mir. Ungeduldig zerrten sie mich jedes Mal wieder auf die Füße. Inzwischen zitterte ich am ganzen Leib. Die eisige Kälte, die sich durch meine Sachen wühlte, wurde von Atemzug zu Atemzug schlimmer. Meine Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander, während ich versuchte mit den anderen Schritt zu halten. Meine Beine wurden schwer wie Blei.

Dann, nach einem Fußmarsch, der wahrscheinlich nur wenige Zeit angedauert hatte, mir aber wie eine Ewigkeit vorgekommen war, erreichten wir endlich den Wald. Dunkel und bedrohlich ragten die Bäume vor mir in den Himmel.

»Nicht stehen bleiben«, kommandierte einer der Nordmänner und schubste mich.

Nur sehr widerwillig folgte ich der Gruppe in den Wald, was mir einen weiteren, diesmal viel kräftigeren Stoß einbrachte. Ich kam ins straucheln und landete bäuchlings im Schnee. Mühsam rappelte ich mich auf und stolperte vorwärts.

Zwischen den Bäumen lag der Schnee nicht einmal annähernd so hoch wie auf der Lichtung. Trotzdem hatte ich noch immer Mühe, schnell genug zu folgen. Immer wieder stolperte ich oder kam ins Rutschen.

»Verdammt noch mal«, beschwerte sich der alte Nordmann, der sich in meine Richtung drehte. »In dem Tempo sind wir in drei Monden noch immer nicht Zuhause.«

Trotz seines vorangeschrittenen Alters schien er sehr kräftig zu sein, er bewältigte die Strecke mit sichern Schritten, ohne dabei aus der Puste zu kommen.

Das brachte mich ins Grübeln.

Mein Vater war mindestens zwanzig Sommer jünger und nicht annähernd so gut in Form, obgleich er täglich schwere körperliche Arbeit auf unserem Hof verrichtete. Scheinbar waren die Männer an ein hartes Leben in der rauen Natur gewöhnt, anders konnte ich mir die Kondition des alten Mannes nicht erklären.

Nach einiger Zeit endete der Wald und wir erreichten eine noch größere Lichtung als jene, auf der unser Vieh abgeschlachtet worden war. Kurz darauf kamen die ersten Häuser in Sicht.

»Na endlich«, murrte einer der Männer vor mir.

Sogleich wurde die Gruppe schneller. Die Traube finsterer Gestalten, die sich zwischen den Häusern versammelt hatte, bemerkte ich erst, als wir das Dorf fast erreicht hatten.

Die anfänglichen Begeisterungsrufe verstummten jedoch, sobald sie mich erblickten. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie mich an. Männer. Frauen. Kinder. Ihre Mienen wirkten wie erstarrt.

Ich versuchte ihren eindringlichen Blicken auszuweichen, indem ich mir die Umgebung etwas genauer anschaute, während ich weiter Richtung Marktplatz gedrängt wurde.

Die Häuser schienen allesamt in einem erbärmlichen Zustand zu sein, an vielen Gebäuden bröckelte der Putz von den Wänden. Stellenweise entdeckte ich Fenster, die einfach mit Brettern vernagelt worden waren, anstatt sie zu reparieren. Auf einigen Dächern gab es Löcher, so groß wie mein Kleiderschrank, notdürftig mit Stroh abgedeckt.

Die Straße, der wir folgten, war nicht einmal als eine solche zu bezeichnen, es handelte sich eher um festgetretenen Lehmboden, überzogen mit einer schmierigen Masse aus Schnee und Schlamm.

Das ganze Dorf wirkte auf mich, als wäre hier schon seit unzähligen Sommern nichts mehr vernünftig repariert worden.

Da blieb die Gruppe ruckartig stehen. Ich stolperte kurz, konnte mich aber glücklicherweise abfangen, sodass ich nicht in den Schlamm fiel.

Wir standen vor einem Haus, unmerklich größer als die anderen Gebäude, jedoch nicht weniger sanierungsbedürftig.

»Was soll das?«, donnerte eine aufgebrachte Frauenstimme über die Straße.

Neugierig geworden hob ich den Kopf und lugte zwischen zwei breiten Rücken hindurch, um einen Blick auf die Person zu erhaschen, die ihre Stimme erhob.

Eine Frau mittleren Alters, mit rabenschwarzen langen Haaren und tiefdunklen Augen, beide Hände in die Hüfte gestemmt, verharrte auf der obersten Stufe einer alten Holztreppe. Ihr schwarzer Rock wirkte alt und zerschlissen. Über ihren schmalen Schultern lag ein graues Fell, wahrscheinlich zum Schutz gegen die Kälte.

Scheinbar hatten alle Bewohner diese beinahe schwarzen Augen. Man erkannte erst, dass sie eigentlich dunkelbraun waren, sobald man direkt vor ihnen stand. Eine außergewöhnliche Augenfarbe, die man beim Südvolk vergeblich suchte.

»Ich habe ein kleines Geschenk für dich«, beantwortete einer der Nordmänner ihre Frage.

Wie auf Kommando wurde ich vorwärts geschoben, durch die Gruppe hindurch, sodass ich schlussendlich direkt am Fuße der Treppe stand.

Der stechende Blick dieser Frau heftete sich auf mein Gesicht. Langsam kam sie die Treppe herunter.

»Und was soll ich deiner Meinung nach mit ihr anstellen?«, empörte sie sich, nachdem sie mich gründlich von Kopf bis Fuß gemustert hatte.

Bei ihrem Anblick keimte in mir ein kleiner Hoffnungsschimmer auf. Diese Frau war eindeutig die Vorsteherin des Dorfes – ganz egal, wie ärmlich ihre Bekleidung auch wirkte, oder wie ungepflegt ihre Haare aussahen, die sie lose zusammengebunden zu einem Zopf über ihrer rechten Schulter trug. Zumindest schien sie hier das Sagen zu haben, überlegte ich. Warum sonst sollte man ihr ein Geschenk machen wollen?

Etwas Besseres hätte mir in meiner Situation gar nicht passieren können. Nur sie konnte mir helfen. Sie war in der Lage den Männern zu befehlen, mich zurückzubringen.

Also nahm ich all meinen Mut zusammen, machte einen Knicks, wie es die Höflichkeit gebot, und ergriff das Wort.

»Mein Name ist Solea. Ich bin die Tochter einer Vorsteherin und wurde von euren Männern verschleppt. Voller Ehrfurcht erbitte ich um die Gnade in mein Dorf zurückkehren zu dürfen.«

Ich hatte so viel Respekt in meine Stimme gelegt, wie ich unter diesen Umständen aufbringen konnte. Ich zitterte am ganzen Leib und meine Zähne klapperten so laut, dass es bestimmt jeder hören konnte. Nichtsdestotrotz lag nun all meine Hoffnung in ihren Händen.

Aufmerksam betrachtete ich ihr wettergegerbtes Gesicht und hoffte auf ihren Zuspruch. Ihre Augen wurden zunehmend größer. Entgeistert starrte sie mich an.

»Wie redest du denn?«, fragte sie und ehe ich etwas darauf erwidern konnte, lachte sie lauthals los.

Das gesamte Dorf stimmte in ihr Gelächter ein, alle lachten aus vollem Herzen. Sogar die Männer, die mich eben noch finster angeschaut hatten, grinsten breit.

Was war nur los mit diesen Leuten? Gab es denn in diesem verdammten Dorf überhaupt keine zivilisierten Bewohner?

»Ich versteh nicht, was es da zu lachen gibt«, brachte ich mein Unverständnis zur Sprache. »Um Euch mit dem nötigen Respekt zu begegnen, habe ich meine Worte mit Bedacht gewählt. So benimmt man sich, wenn man auch nur einen Funken Anstand im Leib hat.«

Das Lachen der Bewohner verstummte genauso schnell, wie es zuvor eingesetzt hatte. Urplötzlich herrschte eine unangenehme Stille auf dem Marktplatz.

»Ist das so?«, fragte mich die Frau, die nun unmittelbar vor mir stand. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. »Willst du damit sagen, wir haben keinen einzigen Funken Anstand im Leib?«

Zuerst wollte ich ihre Frage verneinen. Doch meine Erziehung gebot mir stets die Wahrheit zu sagen, sei sie auch noch so unangenehm. »Ja, das will ich damit sagen«, antwortete ich mit klarer Stimme.

Die Frau schwieg einen Moment, dann hob sie ihren rechten Arm. Erschrocken kniff ich beide Augen zusammen und wappnete mich innerlich gegen den Schmerz, der auf ihre Ohrfeige folgen würde, ausgelöst von meiner ehrlichen, aber nicht sehr klugen Antwort.

Als nichts dergleichen passierte, blinzelte ich verwirrt.

Im nächsten Moment spürte ich ihre kalten Finger an meinem Kinn. Mit einem groben Handgriff drückte sie meinen Kopf nach oben und betrachtete aufmerksam meine Verletzungen.

»Wer war das?«, hörte ich sie kurz darauf fragen.

Zunächst erhielt sie keine Antwort.

»Sie hat unser Volk beleidigt«, verteidigte sich der Mann, der für meine aufgeplatzte Lippe verantwortlich war. »Sie hat verdient, was sie bekommen hat.«

Die Frau ließ mich los, reckte den Hals und schaute an mir vorbei in die Richtung, aus der die Stimme kam.

Ich wagte nicht, mich umzudrehen. Wie erstarrt blieb ich stehen, schlotternd vor Kälte, und lauschte auf ihre Worte.

»Wir unterhalten uns später«, sagte sie an den Mann gewandt. Sie machte auf dem Absatz kehrt und begann die Treppe hochzusteigen. »Bringt sie in das Haus von Ragol und Iwara. Gebt ihr Feuerholz, ich will nicht, dass unser Gast erfriert.«

Gast?

»So wird hier also ein Gast behandelt«, rief ich hinterher und riss meine gefesselten Hände in die Höhe, als sie sich zu mir umdrehte. »Das nennt Ihr Gastfreundschaft?«

Ein Lächeln umspielte ihre fahlen Lippen.

»Was erwartest du von einer Horde Wilder, ohne einen Funken Anstand im Leib?«

Ehe ich etwas erwidern konnte, verschwand sie in dem Haus mit den kaputten Fensterläden. Jemand trat von hinten an mich heran.

»Folgt mir, verehrte Dame.« Seine Stimme triefte vor Spott. »Ich begleite Euch in Eure Gemächer.« Dabei packte er mich an der Schulter und stieß mich vorwärts.

Die Menge löste sich allmählich auf, einer nach dem anderen verschwand in den umliegenden Häusern. Nur ein paar wenige blieben, um den Männern beim Abladen der gestohlenen Vorräte zu helfen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich ein altes Mütterchen, das, gestützt auf einem krummen Stock, hinter mir herschaute. Ihr faltiges, wettergegerbtes Gesicht war blass und eingefallen, beinahe schon ausgemergelt. Ihre grauen Haare wirkten fettig, sie waren schon eine Ewigkeit nicht mehr gewaschen worden. Doch ihre dunklen Augen schauten klar und wachsam.

Noch während ich darüber nachdachte, warum die alte Frau stehengeblieben war, um mich zu beobachten, erreichten wir unser Ziel. Eine Hütte, so winzig, dass dort drinnen unmöglich zwei Personen leben konnten. Ich musste beim Durchschreiten der Tür den Kopf einziehen.

Innen war es kühl, die Luft roch alt und abgestanden. Im Kamin brannte kein Feuer. Die einzigen Fenster in der Hütte, waren beide von außen vernagelt worden. Ein winziger Holztisch mit zwei Stühlen stand mitten im Raum. In einer Nische, unweit vom Kamin entfernt, entdeckte ich einen Berg alter Lumpen, angehäuft auf einem zusammengenagelten Bretterverschlag.

»Ihr Schlafgemach«, erklärte der Nordmann und deutete dabei mit einem Kopfnicken auf die Lumpen. »Holz findest du dort hinten in der Ecke, falls dir kalt ist.«

Ich hatte genug von angeschwollenen Augen und aufgeplatzten Lippen, weshalb ich meine bissige Bemerkung hinunterschluckte. Stattdessen fragte ich: »Wo sind die Bewohner? Ragol und Iwara, wenn ich mich recht erinnere. Hieß es nicht, das wäre ihr Haus?«

Ohne auf meine Frage einzugehen, schnitt mir der Mann mit einem Messer die Fesseln durch und schlug danach den Weg zur Tür ein.

»Du kannst gerne versuchen abzuhauen, wenn dir danach ist«, sagte er beim Hinausgehen. »Ich bin schon darauf gespannt, wie weit du kommst.«

Dann fiel die Tür ins Schloss und ich stand mutterseelenallein in der fremden kleinen Hütte.

Together

Подняться наверх