Читать книгу Together - Katrin Gindele - Страница 9

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Unsicher scharrte ich mit der Spitze meines rechten Schuhs auf dem festgetretenen Lehmboden herum, während ich mich vorsichtig umschaute.

Das war kein Haus, sondern eine Hütte. Schäbig. Verkommen.

Der Tisch wirkte schmutzig, die Stühle abgenutzt. Von den Lumpen, die als Nachtlager dienten, wollte ich lieber gar nicht wissen, welches Ungeziefer dort hauste. Die Holzwände waren alt und an einigen Stellen bereits durchgefault. Das Dach war gleich an mehreren Stellen undicht, hier und da rieselte Schnee in die Hütte.

Ein eisiger Wind fegte durch das löchrige Gebälk und verstärkte mein Kältegefühl. Lediglich der Kamin machte einen recht soliden Eindruck, sodass ich versuchen wollte ein Feuer zu entzünden, um die elende Kälte endlich aus meinen klammen Sachen zu vertreiben.

Wie es aussah, würde ich hier eine Weile feststecken, da konnte ich genauso gut versuchen den Kamin in Gang zu bringen. Mit wenig Begeisterung machte ich mich daran und sammelte einige der dürren Zweige auf, die ganz offensichtlich als Feuerholz dienten.

Das Material war feucht und roch modrig.

Wie sollte man damit ein anständiges Feuer zustande bringen?

Glücklicherweise entdeckte ich gleich neben der spärlichen Ausbeute die Zunderbüchse, darin wurden Baumrinde und bestimmte Teile von Baumpilzen trocken aufbewahrt, um damit ein Feuer zu entfachen, besaß man keine Zündhölzer.

Erleichtert atmete ich auf, als ich etwas trockene Rinde und einen kleinen Pilzschwamm in der Büchse fand. Leider konnte ich keine Zündhölzer entdecken, dafür jedoch gleich oben auf dem Kaminsims die Zundersteine.

Eilig legte ich ein paar Holzscheite in die Feuerstelle, drapierte die Baumrinde zusammen mit dem getrockneten Pilzschwamm mittig und schlug darüber anschließend beide Zundersteine aneinander. Einige Versuche brauchte ich, bis die ersten winzigen Funken entstanden.

Bei Mutter sah das immer so einfach aus, wenn sie in der Küche Feuer machte. Doch in Wirklichkeit war es sogar ziemlich anstrengend, bis sich endlich ein Glutnest entwickelte.

Ungeduldig pustete ich in die Funken und wartete darauf, dass die winzigen Flammen größer wurden. Das feuchte Holz tat sich schwer und schon nach einiger Zeit qualmte es fürchterlich. Binnen weniger Augenblicke schlängelte sich dichter Rauch durch die Hütte und ich begann zu husten. Zu meinem Leidwesen konnte ich nicht einmal die Fenster öffnen, da beide fest vernagelt waren.

Während der Rauch immer dichter wurde und mir schon die Augen tränten, wurde plötzlich die Tür aufgerissen.

Ein Mann stürmte laut fluchend ins Zimmer, schubste mich grob zur Seite und stocherte in dem qualmenden Gluthaufen herum, so lange, bis erste größere Flammen sichtbar wurden.

Eiskalte Luft drang durch die geöffnete Tür in die Hütte und vertrieb ganz allmählich den beißenden Rauch.

Mein Herzschlag beschleunigte sich rasant als mein Blick an der offenen Tür hängen blieb.

»Nur zu«, sagte der Mann, ohne mich anzusehen. »Geh, wenn du gehen willst. Ich halte dich ganz bestimmt nicht auf.«

»Deine Leute sind in mein Haus eingedrungen«, sagte ich und gab mir keinerlei Mühe, meinen Hass zu verbergen.

Der Mann richtete sich auf, ganz langsam drehte er sich zu mir um. Diesmal konnte ich sein Gesicht sehen, er trug eine hüftlange, schwarze Jacke mit Pelzkragen. Seine schwarzen Haare standen nach allen Seiten ab, als hätten sie noch nie einen Kamm gesehen. Das schmale Gesicht war blass, sehr blass, und tiefe Ringe lagen unter seinen dunklen Augen.

»Man sagte uns, in deinem Haus habe Licht gebrannt«, erklärte er sachlich. »Bis jetzt hat noch nie irgendwo Licht gebrannt. Das hat sie neugierig gemacht.«

Ich starrte ihn empört an.

»Dann ist es also meine eigene Schuld, dass ich entführt worden bin?«, giftete ich.

Unbeteiligt zuckte er mit den Schultern.

»Warum hast du nicht geschlafen, wie die anderen? Dann wäre das alles nicht passiert und ich müsste jetzt nicht das Kindermädchen für ein verwöhntes Gör spielen.«

Das setzte dem Ganzen wahrlich noch die Krone auf.

Wütend funkelte ich ihn an.

»Ein verdammtes Licht gibt euch noch lange nicht das Recht in fremde Häuser einzudringen!«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, weil ich so wütend war – vor allem aber, um die Kälte in Schach zu halten. Ich fror erbärmlich, was ich ihm auf keinen Fall zeigen wollte.

Doch allem Anschein interessierte ihn das herzlich wenig; das wunderte mich nicht weiter, denn Mitgefühl war diesen Männern fremd, das hatte ich unlängst verstanden.

»Du hättest schlafen sollen«, sagte er tonlos und gab mir damit zu verstehen, dass unsere Unterhaltung beendet war.

Schnurstracks eilte er zur Tür, zog sie hinter sich zu und zum zweiten Mal an diesem Tag wurde ich mir selbst überlassen.

Wenigstens brannte das Feuer nun. Hätte ich ihm vielleicht danken sollen? Nein. Dafür nicht.

Kurzentschlossen steuerte ich den kleinen Holztisch an, packte ihn mit beiden Händen an der unteren Kante und drehte ihn um. Mit der Tischplatte zuerst, die Tischbeine nach oben, schob ich ihn anschließend so nah wie möglich an den Kamin heran.

Von unten wirkte der Tisch zum Glück etwas sauberer. Im Schneidersitz hockte ich mich auf die Unterseite, so musste ich wenigstens nicht auf dem kalten Boden sitzen. Ich begann damit, mir die nassen Schuhe und meine durchweichten Socken auszuziehen, um sie am Feuer zu trocknen. Danach lehnte ich mich mit dem Rücken an eines der Tischbeine. Das Feuer knisterte gemütlich vor sich hin und langsam aber sicher wurde mir etwas wärmer. Meine Anspannung legte sich ein wenig, stattdessen übermannte mich eine tiefe Erschöpfung.

Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie mir die Augen zufielen. Im Sitzen einzuschlafen war keine sehr gute Idee. Einige Male war mir das schon beim Lesen passiert, danach hatten mir stets sämtliche Knochen wehgetan. Gar nicht gut.

Doch alles in mir sträubte sich dagegen, mich auf den dreckigen Haufen Lumpen zu legen, der wahrscheinlich auch noch feucht war – weshalb ich den umgedrehten Tisch vorzog, obwohl ich das sicher schon sehr bald bereuen würde.

Weil mir ohnehin nichts anders übrig blieb, gab ich der Versuchung nach, schloss die Augen und alle Anspannung fiel nun endgültig von mir ab.

Nur einen kurzen Augenblick, mahnte ich mich zur Vorsicht.

Als ich hinter mir ein Geräusch wahrnahm, schreckte ich hoch.

Wie lange ich tatsächlich weggedämmert war, konnte ich nicht einschätzen. Dennoch hoffte ich inständig, dass es nur kurz gewesen war.

Da bemerkte ich unweit der Tür einen Schatten, zu weit vom Feuer entfernt, um Genaueres ausmachen zu können.

»Wer ist da?«, fragte ich erschrocken und rappelte mich hastig auf. Beinahe im gleichen Augenblick durchzuckte mich ein stechender Schmerz. Meine Beine waren eingeschlafen und kribbelten nun, als würde ich mitten in einem Ameisenhaufen stehen.

Ich fluchte innerlich und versuchte den Schmerz zu unterdrücken. Um so viel Abstand wie irgend möglich zwischen den Schatten und mich zu bringen, humpelte ich bis zum anderen Ende der Hütte.

»Was machst du da?«, fragte mich eine dünne Stimme.

Wie angewurzelt blieb ich stehen.

»Meine Beine tun weh«, gab ich zögernd Auskunft, denn diese Stimme gehörte zu keinem der Männer, die ich bis jetzt hatte kennenlernen müssen. Meine Angst legte sich sogleich.

Die Stimme gehörte einem Kind.

Einem Mädchen, wie sich kurz darauf herausstellte, als es zaghaft aus seinem Versteck kam.

»Warum tun deine Beine weh?«, wollte sie wissen und kam noch ein Stückchen näher. »Bist du verletzt?«

Die Kleine war kaum älter als sechs oder allerhöchstens sieben Sommer. Sie hatte in ihrem Leben noch nie einen reich gedeckten Tisch gesehen, so wirkte ihre zierliche Gestalt auf mich. Bleich war sie und definitiv unterernährt. Die dunklen Augen wirkten viel zu groß für das schmale Gesicht, welches von langen schwarzen Haaren umrahmt wurde, die glanzlos und strähnig ihre schmächtigen Schultern bedeckten.

Ich versuchte mich zusammenzureißen und sie nicht merken zu lassen, dass mich ihr erbärmlicher Anblick erschreckte.

»Körperlich bin ich nicht verletzt«, antwortete ich mit ruhiger Stimme. »Mein Stolz hingegen, der hat mächtig was abbekommen.«

Sie schien nicht zu verstehen, was ich meinte. Ratlos schaute sie mich mit ihren großen Kulleraugen an.

»Dein Gesicht«, hauchte sie kaum hörbar, scheinbar aus Angst mich darauf hinzuweisen.

Kaum zu Ende gesprochen, wurde ihr zarter Körper von einem Hustenanfall gepackt. Sie hustete mit aller Anstrengung, sodass sich winzige Tränen in ihren Augen sammelten.

Ich hielt kurz inne, die Gedanken zu meinem Gesicht erschienen mir in Gegenwart des armen kleinen Mädchens überflüssig. Doch sie sah mich erwartungsvoll an, also versuchte ich unser Gespräch aufrecht zu erhalten.

»Mein Gesicht«, fragte ich leise. »Ist es sehr schlimm?«

Die Kleine bewegte sich auf mich zu, ganz langsam, bis sie nur noch wenige Schritte von mir entfernt stehen blieb. Langsam hob sie ihren rechten Arm und schaute dabei zu mir auf, also ging ich bereitwillig in die Hocke.

Eine schmutzige zierliche Hand legte sich an meine Wange, strich leicht wie eine Feder über die Schwellung unter meinem Auge und verharrt kurz über dem Riss an meiner aufgeplatzten Lippe.

»Tut das weh?«, wollte sie wissen und hustete erneut.

Kopfschüttelnd antwortete ich: »Nicht sehr. Ist auszuhalten.«

Sie schenkte mir ein stummes Nicken, nachdem der Hustenanfall abgeebbt war.

Ich lächelte aufmunternd, um ihr die Scheu zu nehmen. Irgendwie erinnerte sie mich an meine kleine Schwester, obwohl sie keinerlei Ähnlichkeit mit Flo besaß. Vielleicht lag es auch nur daran, dass sie so klein und zierlich war. Mit Gewissheit konnte ich nicht sagen, was mich dazu veranlasste, doch ich mochte sie auf Anhieb.

»Wie ist dein Name?«, fragte ich behutsam. Sie ließ ihre kleine Hand sinken und wich einen Schritt zurück.

Offenbar wusste sie nicht genau, ob sie mir ihren Namen verraten sollte. Wahrscheinlich durfte sie nicht einmal mit mir sprechen.

»Ich bin Solea«, machte ich den Anfang. »Meine Freunde nennen mich Lea.«

»Hast du viele Freunde?«, fragte sie prompt.

»Ja. Sehr viele.«

Aufmerksam betrachtete sie mein Gesicht.

»Hast du auch ...«, weiter kam sie nicht, da wurde ihr Körper abermals von einem Hustenanfall erfasst. Bei genauerem Hinhören erkannte ich das typische bellende Geräusch, welches Unheilvolles ankündigte.

Ungewollt begann ich, mir Sorgen zu machen.

»Das hört sich gar nicht gut an«, bemerkte ich, während ich mich aufrichtete. »Ich glaube, du hast ein Lungenleiden.«

Mit feuchten Augen schaute sie zu mir hoch.

»Was ist ein Lungenleiden?«

Nun war guter Rat teuer. Wie sollte ich einem Kind erklären, was genau ein Lungenleiden bedeutete? Bei uns gab es solch eine Krankheit kaum, ich kannte die Symptome lediglich aus dem Lehrbuch im Heilkundeunterricht und von Hela, unserer Heilerin, die mich hin und wieder unterrichtete. Dennoch war ich mir der Diagnose sicher.

»Der Husten macht dich krank«, vereinfachte ich die Sache. »Deine Mutter sollte dir ganz dringend einen Tee aus frischem oder getrocknetem Toramuskraut kochen, der wird dir helfen.«

Auch das wusste ich von Hela und noch viel mehr, denn mein Wissensdurst, was die Heilkunst betraf, war unersättlich. Später einmal wollte ich eine Heilerin werden, das hatte ich mir fest vorgenommen.

Falls ich Mutter dazu überreden konnte.

»So etwas haben wir nicht«, riss mich die Kleine aus meinen Gedanken. »Hier ist es immer kalt, da wächst nicht viel.«

Verdutzt schaute ich sie an.

»Und wie heilt ihr eure Kranken?«

Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. »Einige Bäume haben Heilkräfte. Unser Heiler hat Rinde und Blätter gesammelt, wenn er noch welche fand. Aber meistens sind die Bäume schon kahl, wenn unsere Sommerruhe endet. Da gibt es nicht mehr viel, was man zusammentragen könnte.«

Ein ungutes Gefühl beschlich mich.

Natürlich verbarg sich in der Baumrinde bestimmter Bäume eine hohe Heilkraft. Hela nutzte die Rinde der Marugaweide zum Beispiel bei Entzündungen oder Schwellungen. Sie kochte daraus einen Sud, der sich innerlich wie äußerlich anwenden ließ. Aber eine Baumart, deren Rinde bei Lungenleiden half, kannte ich nicht. Dagegen half nur Toramuskraut.

»Warte mal«, sagte ich knapp, lies meine Finger in meine Jackentasche gleiten und förderte kurz darauf ein paar Honigpastillen zutage. Um die Kleine nicht noch mehr zu verunsichern, steckte ich mir zuerst eins in den Mund, ehe ich meine Hand öffnete und ihr eines anbot.

»Honig kennst du?«

Helle Begeisterung flammte in ihren geröteten Augen auf, während sie eifrig nickte.

»Gut.«

Ohne zu fragen, schob ich es ihr zwischen die Lippen.

»Im Mund schmelzen lassen«, ordnete ich an, nachdem ich sicher sein konnte, dass sie es nicht ausspuckte. »Nicht zerbeißen.«

Gehorsam schob sie die Honigpastille von einer Wangentasche in die andere.

»Schmeckt gut«, rief sie strahlend.

»Der Honig hilft dir«, erklärte ich lächelnd.

Allerdings war das bisschen Honig kein Ersatz für Toramuskraut, welches die Kleine viel dringender brauchte. Ohne würde sie die nächste Sommerruhe nicht überstehen. Bei diesem Gedanken zog sich mein Magen zusammen. Sie würde im nächsten Winter einfach nicht mehr aufwachen.

Das Gesicht meiner kleinen Schwester tauchte vor meinem inneren Auge auf. Wie sie mich anlächelte. So jung und unschuldig.

Was würde ich tun, wenn meine Schwester so krank wäre?

Tief in meinen Gedanken versunken, bekam ich einen riesengroßen Schreck, als die Tür krachend gegen die Wand flog.

»Rima!«

Der Mann stürmte auf mich zu und versetzte mir einen Stoß, wodurch ich unsanft auf meinem Hinterteil landete. Ohne mich eines Blickes zu würdigen ging er vor dem kleinen Mädchen in die Hocke, packte sie an den Schultern und schüttelte sie leicht.

»Was hast du hier zu suchen«, beklagte er sich bei ihr. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich von der Hütte fernhalten?«

Die Kleine antwortete nicht und der Mann änderte seine Taktik. »Hat sie dir wehgetan?«, fragte er mit ruhiger Stimme.

»Nein«, antwortete das Mädchen, welches offenbar Rima hieß.

Ein hübscher Name.

»Verdammt noch mal.« Der Mann richtete sich auf. »Dir hätte sonst was passieren können, dieses Weib ist gefährlich!«

Weib? Meine Augen verengten sich.

»Sie ist nicht gefährlich«, ergriff Rima plötzlich Partei für mich. »Sie heißt Solea und sie hat mir Honig gegeben.

Wie von Sinnen packte der Mann Rima am Kinn und zwang sie den Mund zu öffnen.

»Ausspucken«, befahl er und ließ erst wieder von ihr ab, nachdem ein winziges Stückchen von der übrig gebliebenen Honigpastille auf dem Lehmboden aufschlug.

Dann richtete er sich auf, wirbelte herum und kam auf mich zu. In Erwartung weiterer Schläge riss ich reflexartig beide Arme hoch, und versuchte mein Gesicht zu schützen.

»Nein«, hörte ich Rima schreien und als ich einen Blick in ihre Richtung riskierte, sah ich, wie sie sich zwischen uns drängte.

»Tu ihr nicht weh«, flehte das kleine Mädchen mit weinerlicher Stimme.

»Sie ist meine Freundin.«

Der Mann machte große Augen.

»Deine Freundin?«, echote er.

Rima nickte entschlossen. »Du darfst ihr nicht wehtun.«

Beinahe hätte ich gelächelt, doch ich war starr vor Angst. Der Mann hatte seine aggressive Haltung nicht aufgegeben, ganz im Gegenteil, energisch versuchte er Rima von mir wegzuzerren, was ihm jedoch erstaunlicherweise nicht gelang. Rima wehrte sich hartnäckig gegen ihn. Schlussendlich beugte er sich vor und nahm das Mädchen kurzerhand auf den Arm.

»Schluss damit«, grollte er und wandte sich zum Gehen.

Als sein Gesicht im Feuerschein eintauchte, erkannte ich den Mann, der mich unlängst vor einer Rauchvergiftung gerettet hatte. Er war viel jünger als ursprünglich von mir angenommen. Bereits im Begriff die Hütte mit Rima zu verlassen, nahm ich all meinen Mut zusammen und legte meine Hand auf seinen Arm. Erschrocken hielt er inne.

»Sie ist sehr krank«, flüsterte ich, in der Hoffnung, die Kleine würde mich nicht verstehen. »Sie braucht ganz dringend Toramuskraut, sonst schafft sie die nächste Sommerruhe nicht.«

Als wollte ihre Krankheit meine Behauptung untermauern, bekam Rima einen weiteren Hustenanfall. Kurzentschlossen griff ich in meine Jackentasche und drückte ihr die letzten beiden Honigpastillen in die Hand.

»Der Honig wird deinen Husten lindern«, sagte ich, ohne auf seinen grimmigen Blick einzugehen. Und an ihn gewandt fügte ich leise hinzu: »Aber nicht für lange.«

Er antwortete nicht, sondern verließ nun endgültig mit Rima die Hütte. Wieder stand ich alleine hier, zum dritten Mal in Folge. Doch diesmal war etwas anders.

Ich fühlte mich nicht mehr allein, weil ich eine neue Freundin gewonnen hatte. Und ich wusste genau, dass sich Rima nicht davon abhalten lassen würde, mich erneut aufzusuchen; das verschaffte mir eine gewisse Art von Genugtuung. Still in mich hinein lächelnd, warf ich einige Zweige ins Feuer, ließ mich anschließend wieder auf der umgedrehten Tischplatte nieder und schloss meine Augen.

Mein Magen begann zu knurren und ich versuchte es zu ignorieren. In dieser Hütte würde ich nichts Essbares finden, die Mühe konnte ich mir getrost sparen.

Was sollte nun aus mir werden? Würde ich hier drinnen sterben? Elendig verhungern oder vielmehr erfrieren, sobald das Feuerholz zur Neige ging?

Diese und weitere bedrückende Gedanken begleiteten mich in einen unruhigen Schlaf und weit in meine Träume hinein.

Geweckt wurde ich von einem erbärmlichen Krächzen, welches sich entfernt wie der Schrei eines Kibidu anhörte. Schwarzbraun gefiederte Vögel mit einer kräftigen Lunge. Sie konnten nicht besonders gut fliegen, dafür aber umso lauter schreien, sobald die Sonne einen neuen Tag ankündigte. Vater hielt sich einige Exemplare davon. Ihre Eier schmeckten herrlich nussig.

Dieser arme Vogel schien jedoch sehr viel von seiner Stimme eingebüßt zu haben. Oder er hatte schlichtweg vergessen, wie man vernünftige Töne von sich gab.

Jedenfalls wusste ich nun, dass ein neuer Tag angebrochen war. Mühsam rappelte ich mich auf und wurde sogleich von meinem knurrenden Magen begrüßt. Eine für mich völlig unbekannte Situation, noch dazu äußerst unangenehm.

Ich hatte noch nie Hunger leiden müssen.

Zuhause stand immer ein Korb mit Obst auf dem Tisch, im Küchenschrank lag stets ein frisch gebackenes Brot und die Vorratskammer war bis unter den Giebel gefüllt mit eingelegtem Fleisch und geräuchertem Speck. Kuchen und Kekse gab es, so viel ich wollte, wann immer ich Appetit darauf hatte.

Was würde ich jetzt für eine Scheibe Brot geben, dick mit Kräuterbutter bestrichen. Bei dem Gedanken lief mir das Wasser im Mund zusammen und mein Magen rebellierte noch lauter. Hinzu kam die unerbittliche Kälte, die sich immer weiter in der Hütte ausbreitete und mich schlottern ließ. Das Feuer musste schon vor einer Ewigkeit erloschen sein. Mit einem Blick auf den kläglichen Holzhaufen überlegte ich, ob ich es wagen sollte. Wenn ich nicht erfrieren wollte, musste ich versuchen das Feuer in Gang zu bringen, soviel stand fest.

Da vernahm ich Schritte vor der Hütte.

Hastig suchte ich die klägliche Behausung nach einem Unterschlupf ab. Die spärlichen Lichtstrahlen, die durch die zugenagelten Fenster eindrangen, reichten nicht ganz bis zu dem provisorischen Nachtlager aus feuchten Lumpen, weshalb ich diese Ecke auswählte, um mich zu verkriechen.

Kaum hatte ich mein Versteck erreicht, wurde die Tür auch schon geöffnet.

Zu meiner Erleichterung betrat eine Frau die Hütte. Ich erkannte die Vorsteherin.

»Du kannst herauskommen«, bot sie an und schwenkte einen kleinen Korb hin und her. »Oder willst du nichts essen?«

Essen?

Zögernd kam ich aus meinem Versteck hervor.

»Hilf mir mal«, forderte die Frau mit einem Kopfnicken zum Tisch und stellte ihren Korb auf dem Boden ab.

Gemeinsam drehten wir den Tisch herum.

Sie bückte sich, griff nach dem Korb und reichte ihn mir.

»Danke«, sagte ich höflich, auch wenn ich bei meiner Ankunft bereits gelernt hatte, dass in diesem Dorf kaum Wert auf gute Umgangsformen gelegt wurde.

»Nur zu«, ermunterte sie mich, als ich vorsichtig in den Korb spähte. Ich entdeckte ein Stück Fleisch, einige Beeren und einen Becher mit Wasser. Erst da wurde mir bewusst, wie durstig ich war. Gierig stürzte ich das Wasser hinunter und erschrak vor der eisigen Kälte, weshalb ich mich bekleckerte.

»Geschmolzener Schnee«, merkte die Frau an.

Neugierig betrachtete ich den letzten Rest Wasser im Becher, konnte aber keinen Unterschied zu unserem Quellwasser ausmachen.

»Jetzt mach schon, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, drängte mich die Frau, während ich zögernd den Inhalt des Korbes inspizierte.

Das Fleisch sah merkwürdig aus und unterschied sich im Geschmack deutlich von dem unseren. Schlecht gewürzt und sehr mager. Die Beeren waren beinahe vertrocknet und rochen leicht säuerlich. Trotzdem stopfte ich alles in mich hinein. Mein Hunger war größer als der Ekel vor dem Unbekannten.

Während ich das Essen vertilgte, begann die Frau damit ein Feuer zu machen. Schon nach ungewöhnlich kurzer Zeit züngelten die Flammen über das Holz und bald darauf breitete sich eine wohlige Wärme in der Hütte aus. Skeptisch geworden, beäugte ich die alte Kochstelle. Nicht einmal mein Vater brachte so schnell ein gutes Feuer zustande.

Die Frau richtete sich auf, dabei wischte sie ihre Hände an ihrer Kleidung ab. Wie schon am Vortag steckte ihr schmächtiger Körper in einem abgewetzten alten Kleid, eine Pelzweste aus grauem Fell schützte sie vor der Kälte. Ihre Haare hatte sie lieblos zusammengebunden, der lange ungepflegte Zopf reichte ihr bis auf den Rücken, erste graue Strähnen zeigten sich darin.

Niemand würde bei uns so das Haus verlassen, schoss es mir durch den Kopf. Mutter würde bei diesem Anblick eine Ohnmacht erleiden. Der Gedanke brachte mich zum Lächeln.

»Ich bin Solea«, startete ich einen zweiten Versuch, da der erste am gestrigen Tag kläglich gescheitert war.

Die Frau richtete sich auf und drehte den Kopf in meine Richtung.

»Das sagtest du bereits«, meinte sie schulterzuckend.

»Dürfte ich Euren Namen erfahren?«, versuchte ich es weiter.

Die Frau seufzte. »Von mir aus, wenn es dich glücklich macht. Ich heiße Estera.«

»Freut mich«, setzte ich nach und Stolz erfüllte mich, weil ich tatsächlich etwas erreicht hatte.

Das ließ mich mutiger werden.

»Seid Ihr die Vorsteherin?«, mutmaßte ich.

Anders konnte es gar nicht sein, warum sollte man ihr wohl sonst Geschenke machen wollen?

Die Frau mit dem schönen Namen Estera betrachtete mich eine Weile mit nachdenklicher Miene. Sie schien abzuwägen, ob sie sich an dem Gespräch beteiligen, oder doch lieber gehen sollte.

»Ich bin nicht die Vorsteherin«, antwortete sie auf meine Vermutung. »Hier bestimmen die Männer.«

Aber sie hatte das Sagen oder zumindest eine Art von Handlungsfreiheit, davon war ich überzeugt.

»Dann ... seid Ihr sicher die Frau eines Vorstehers«, überlegte ich laut, denn ich wollte unbedingt mehr erfahren.

Mit einem flüchtigen Blick auf das knisternde Feuer meinte sie: »Mein Mann ist vor drei Wintern verstorben. Ich muss mir innerhalb von fünf Wintern einen neuen Gemahl suchen, damit der Posten des Vorstehers nicht unbesetzt bleibt.«

Ich begann zu verstehen. Die Männer machten ihr Geschenke, weil sie auf den freien Platz an ihrer Seite hofften, der zweifelsohne eine Menge Privilegien mit sich brachte, sofern man bei diesen ärmlichen Verhältnissen überhaupt von Vorzügen sprechen konnte.

Der Nordmann hatte mich also nur verschleppt, um bei Estera Eindruck zu schinden – und war damit kläglich gescheitert. Mir wurde sofort klar, dass dieser Umstand für mich nichts Gutes bedeutete. Niemand fühlte sich für mich verantwortlich und niemand wollte sich mit mir belasten, nun, da Estera das Geschenk abgelehnt hatte. Früher oder später würde jemand versuchen mich loszuwerden, ganz egal auf welche Art und Weise.

Nachdem ich der Frau den leeren Korb übergeben hatte, schickte sie sich an zu gehen.

»Wann kann ich nach Hause«, rief ich ihr nach, von meiner Verzweiflung angetrieben.

Sie blieb stehen, ohne sich umzudrehen.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie nur, ehe sie die Tür hinter sich ins Schloss zog.

Die Wut über meine eigene Feigheit brachte mich dazu, dass ich mehrmals gegen den Tisch trat.

Die Tür war nicht verschlossen, von Anfang an war sie es nicht gewesen. In einem unbeobachteten Augenblick könnte ich einfach hinaus spazieren und die Flucht ergreifen. Von wegen.

Ich würde nichts dergleichen tun, obgleich der Tod hier auf mich wartete. Viel zu sehr beherrschte mich die Angst vor der klirrenden Kälte, vor den Wölfen, die in den Wäldern lungerten und allem voran die Gewissheit, dass ich niemals den richtigen Weg nach Hause finden würde.

Ich war nicht in dieser Hütte gefangen. Meine eigene Unfähigkeit fesselte mich an diesen trostlosen Ort.

Irgendwann drehte ich den Tisch wieder herum und kauerte mich vor dem Kamin auf die Tischplatte. Aufmerksam betrachtete ich meine Hände im Schein des Feuers. Sie erschienen mir schmutzig und ungepflegt, eine Tatsache, die ich mit einem leisen Seufzer quittierte.

Mein morgendliches Ritual bestand darin, dass ich mir zuerst warmes Wasser aus der Küche holte, auf dem Herd stand dafür immer ein Kessel bereit. Dann wusch ich mir Gesicht und Hände, reinigte meine Zähne mit Minzpaste, kämmte danach meine Haare, band sie ordentlich zusammen und widmete mich anschließend der Hautpflege. Dafür gab es mehrere Tiegel mit wohlriechendem Inhalt. Mutter kontrollierte regelmäßig mein Aussehen, wenn ich das Haus verlassen wollte. Jede einzelne Haarsträhne musste sitzen, mein Gesicht sollte immer frisch und rosig aussehen.

Sie würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn sie mich jetzt sehen könnte.

Die Tür knarzte, als sie langsam geöffnet wurde. Zu meiner Freude betrat Rima kurz darauf die Hütte.

»Hallo, Solea«, begrüßte sie mich und fiel mir ohne Vorwarnung um den Hals.

»Du kannst Lea sagen«, bot ich an und erwiderte ihre schwungvolle Umarmung.

Sie rückte ein Stück von mir ab und schaute mir aufmerksam ins Gesicht.

»Du siehst schon etwas besser aus«, merkte sie an. »Nur dein Auge, da ist alles blau und grün.«

Zum Glück gab es in der Hütte keinen Spiegel.

Rima rutschte neben mir auf die Tischplatte und legte ihre Hände in den Schoß. Sie waren noch schmutziger als meine. Dunkle Ränder zeichneten sich unter ihren Fingernägeln ab.

Ich wollte lieber gar nicht wissen, wann die Kleine zum letzten Mal ein Bad genommen hatte. Scheinbar nahm es hier niemand so genau mit der Körperpflege.

»Ich muss mal wohin«, merkte ich an. Schon seit dem ersten Sonnenstrahl musste ich ganz dringend.

Rima hob den Kopf und schaute mir geradewegs in die Augen. »Draußen vor der Hütte steht ein Eimer, soll ich ihn für dich holen?«

Beim Lichtgott ...

»Hier wird ein Eimer benutzt?«, fragte ich ungläubig. »Gibt es denn keine Räumlichkeiten dafür?«

Selbst die Ärmsten der Armen hatten in unserem Dorf zumindest hinter dem Haus eine Örtlichkeit für ihr dringendes Bedürfnis. Und Arme gab es in unserem Dorf eigentlich nicht sehr viele, weil unsere Ernten immer sehr ertragreich ausfielen.

»Einen Raum für die Notdurft?«, fragte Rima voller Staunen. »Wir gehen dafür in den Wald. Nachts darf ich aber nicht raus, dafür gibt es den Eimer.«

Mir klappte die Kinnlade runter.

»Dann einen Eimer bitte«, sagte ich, nachdem ich mich wieder gefangen hatte.

Rima sprang auf, rannte nach draußen und kehrte kurz danach mit dem Eimer zurück.

Ich schluckte beim Anblick der rostigen Alternative für den Abort. Doch anscheinend blieb mir nichts anderes übrig. Widerwillig nahm ich ihn entgegen und verzog mich in die hinterste Ecke, während es sich Rima auf der Tischplatte bequem machte.

»Wohin damit?«, fragte ich anschließend, mit einem Blick auf den verbeulten Eimer.

Rima zuckte die Schultern.

»Lass ihn einfach dort hinten in der Ecke stehen, du musst sicher noch öfter.«

Um das Thema so weit wie nur möglich von mir zu stoßen, schob ich den Eimer in die hinterste Ecke und gesellte mich wieder zu meiner neuen Freundin.

»Ich würde mich gerne waschen«, begann ich vorsichtig. »Gibt es irgendwo eine Schüssel mit Wasser?«

Ohne einen Ton von sich zu geben, rannte Rima abermals nach draußen und kehrte schon bald mit einem Topf voller Schnee zurück. Als sie versuchte den Topf am Haken über der Feuerstelle zu befestigen, eilte ich ihr zu Hilfe.

»Wenn der Schnee geschmolzen ist, kannst du dich waschen«, erklärte sie voller Eifer.

Mein skeptischer Blick heftete sich unverzüglich auf den rostigen Topf, der auch schon bessere Tage gesehen hatte.

»Danke«, äußerte ich abwesend.

Welche Überraschung würde dieses Dorf noch für mich bereithalten?

»Ich bin so müde«, murmelte Rima plötzlich. Ihr Kopf sackte kraftlos gegen meine Schulter.

»Hast du nicht gut geschlafen?«, erkundigte ich mich und zog ihren kleinen Körper näher an mich heran. Rima wehrte sich nicht, sie kuschelte sich an mich und schloss die Augen.

»Ich kann nicht«, brachte sie schlaftrunken hervor. »Der Husten. Davon werde ich immerzu wach.«

Mein Magen zog sich zusammen. Wenn Rima nicht ganz schnell Hilfe bekam, würde sie nicht mehr lange durchhalten. Meine Befürchtung bestätigte sich, als ich mit der Hand sanft ihre Haare aus dem Gesicht strich. Ihre Haut fühlte sich heiß an.

»Wo ist deine Mutter?«, wollte ich wissen. Ich musste sie dringend von dem Gesundheitszustand ihrer Tochter in Kenntnis setzten.

»Im Wald«, lautete ihre schleppende Antwort. »Sie hat dir vorhin Frühstück gebracht.«

Ich wurde hellhörig. Estera war ihre Mutter? Sie schien mir eine verantwortungsvolle Frau zu sein, warum war ihr noch nicht aufgefallen, wie schlimm es um ihre Tochter stand?

»Weiß deine Mutter, dass du krank bist?«, forschte ich weiter.

Diesmal dauerte es eine Weile, bis Rima antwortete.

»Sie gibt mir jeden Tag Tee zu trinken«, wisperte sie kaum hörbar. »Aber der hilft nicht. Der Husten ist immer noch da.«

Röchelnde Atemgeräusche begleiteten ihren unruhigen Schlaf. Sie hatte Mühe, Luft zu holen, das Atmen fiel ihr schwer. Was immer Rima verabreicht bekam, Toramuskraut konnte es nicht sein, sonst hätte sich ihr Zustand längst gebessert.

Liebevoll streichelte ich der Kleinen über die Haare, während sie in meinen Armen schlief.

Sie würde nicht überleben.

Mühsam unterdrückte ich die aufsteigenden Tränen. Sie war mir in dieser kurzen Zeit ans Herz gewachsen.

Together

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