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ОглавлениеKAPITEL 1
Schmerzverarbeitung im Neuronendschungel des Gehirns
Schmerz ist nicht gleich Schmerz
Schmerz-Prolog
Dauerschmerz ist wie ein Stachel, der im Körper sitzt. Ob Empfinden, Aufmerksamkeit, Bewegung, Antrieb, Vitalität, Schlaf oder Sex, es scheint, als durchbohre er alles, die gesamte Erfahrungswelt als Mensch. Mir fallen nicht viele vergleichbare Umstände ein, die das Lebensgefühl schwerer belasten als manifestierter Schmerz.
Ihn als Dauergast im Körper zu begrüßen, ihn zu bewältigen oder ihn sogar zu akzeptieren, wie es im Therapiedeutsch heißt, kommt einem am leichtesten über die Lippen, wenn man ihn nicht hat. In der Realität verhält es sich nämlich vollkommen anders, da ist Schmerzbewältigung salopper gesagt als praktisch getan.
Damit wir verstehen, wo das praktische Wirkungsfeld von Meditation im Schmerzgeschehen liegt, müssen wir beide Bereiche in ihrer Essenz begreifen. Schauen wir zunächst einigen schmerzhaften Tatsachen ins Auge, die für die Kopplung dieser beiden Mammutgebiete bedeutsam sind.
Meditation und Schmerz – zwei spannende Themen, die ich mit Fakten, Fragen und jeder Menge praktischer Tipps in ein neues Licht setzen möchte.
Akutes und Chronisches
Wenn von chronischen Schmerzen die Rede ist, gibt es also auch andere, ja, akute. Was wiederum heißt, dass die chronischen da anfangen, wo die akuten aufhören.
Ein akuter Schmerz ist einer, der durch eine Gewebeschädigung oder Funktionsstörung im Körper entsteht. Unsere Sensoren für Schmerz, die Nozizeptoren, nehmen diese auf und leiten sie übers Rückenmark weiter zum Gehirn. Doch ganz gleich, ob es sich um Geburts-, Hals-, Zahn-, Menstruationsschmerz oder eine Nierenkolik dreht, dieses lebenserhaltende Es-tut-weh-Signal verstummt wieder, sobald der auslösende Reiz beseitigt, die Schädigung des Gewebes geheilt ist. Wer keine einschlägigen Erfahrungen damit hat, kennt zumindest die Kurzversion: Beim Rasieren schneiden Sie sich ins Kinn oder beim Brotschneiden in den Finger: Pflaster drauf, Schnitt geschlossen, Schmerz ade. Oder: schmerzender Zahn raus, Füllung rein, Problem behoben. Muskelkater: Milchsäure im Muskel weg, Stoffwechsel normal, das Ziehen vergeht und so weiter. Aber bereits an der Schnittstelle: „OP-Narbe geschlossen, Schmerz vorbei“ beginnt nicht selten das Dilemma, denn viele OP-Narben heilen nicht wie erhofft. Einige bleiben auf Dauer überempfindlich und sind Urheber energetischer Blockaden sowie bleibender muskulärer Dysbalance. Die Folge: Dauerspannung in den Muskeln, eingeschränkte inter- und intramuskuläre Funktion, und schließlich Schmerz, der zum Reaktionsmuster wird.
Schmerzkrankheit
Als chronischen Schmerz bezeichnet man dann genau jenen, der bleibt, und zwar länger als drei Monate, und auf eingeleitete Intervention zögerlich oder gar nicht reagiert. Mit zunehmender Zeit spricht man in der allopathischen Medizin von einem Schmerzsyndrom und sieht das Geschehen als eigenständiges Krankheitsbild an. Diagnose: Schmerzkrankheit. Der Betroffene erfährt von diesem Namen zumeist nichts. Er hört von seinem Arzt Begriffe wie Chronisches Lumbalsyndrom, Carpaltunnelsyndrom, Schulter-Arm-Syndrom, Rezidivierende Ischialgie, Frozen Shoulder, Tennisellbogen, Impinchment-Syndrom, Fibromyalgie, Trigeminusneuralgie, Arthrose, Chronische Polyarthritis und Co. Während ein Syndrom eigentlich nur ein allgemeines Beschwerdebild beschreibt, ist bei einer „Algie“ Schmerz im Spiel. „Algie“ heißt, es tut etwas weh. Und damit beginnt dann meistens der Konflikt. Warum reagiert er nicht, der Schmerz? Oder: Was ist der Grund dafür, dass er bleibt?
Schmerzgedächtnis
Was im Zusammenhang mit der Chronifizierung von Schmerz lange diskutiert wurde, ist das so genannte Schmerzgedächtnis, das sich offenbar entwickelt, wenn Schmerz auf lange Zeit besteht und gegenüber heilenden Impulsen immun bleibt. Der Begriff ist unglücklich gewählt, weil Betroffene ihn mit einem profunden, wenn nicht sogar schwerwiegenden und nur langfristig zu lösenden Problem im Gehirn assoziieren. Was sich dahinter verbirgt, ist aber allein die Beobachtung, dass sich der dauerhafte Verkehr von Schmerzsignalen verselbstständigt hat und zu einer Gewohnheit der reizübertragenden Nervenzellen in Rückenmark und Gehirn geworden ist.
Konkret: Nach längerem Auftreten des schmerzauslösenden Reizes senden die Nervenzellen ununterbrochene Schmerzsignale ans Gehirn, selbst dann noch, wenn der Grund in der Peripherie des Körpers, an der Haut, im Muskel, Gelenk, Kreuzband, Organ oder Sehnenstrang, längst verschwunden ist. Man spricht von „spontanaktiven“ Zellen, deren Reaktion sich mit der Zeit nicht nur automatisiert, sondern auch an Heftigkeit und Schnelle zunimmt.
Auch wenn dieses Modell als veraltet gilt und nicht für die Erklärung jeder einzelnen Schmerzliaison taugt, kennen einige meiner Klienten dessen Wirkung im Körper ganz genau: Während der Schmerz unverändert weiter schießt, können sie mitunter sogar spüren, dass das Schmerzgebiet als solches längst nicht mehr die Wurzel allen Übels ist, sondern, wie eine Klientin es erst kürzlich beschrieb, „als eine tief sitzende Erinnerung im Gewebe“ existiert.
Schmerzverarbeitung: mysteriöser Dschungel Gehirn
Während Schmerzforscher ziemlich detailliert nachvollziehen können, auf welchem Wege Schmerzsignale aus der Peripherie des Körpers zum Gehirn gelangen, besteht weitaus weniger Klarheit darüber, was mit den Impulsen exakt passiert, nachdem sie im Netzwerkdschungel des Gehirns verschwunden sind. Deshalb bleibt das Rätsel: Wie aus dem Körper aufsteigende Impulse nach Ihrer Ankunft im Gehirn exakt gemixt und in Schmerzempfinden übersetzt werden, geschieht innerhalb eines gigantischen Netzwerks von Nervenzellen, das bis ins kleinste Detail kaum nachvollziehbar ist.
Wiederum weiß man, dass sich die Gehirnaktivität bei Menschen mit Dauerschmerz im Zuge der Schmerzverarbeitung anders gestaltet als bei Menschen ohne Schmerz. Es werden nicht nur andere Gehirnareale erregt, die normalerweise ruhig und unbeeinflusst bleiben, sondern auch anders abgerufen und unterschiedlich miteinander verknüpft.
Das Gehirn pegelt sich auf eine Art Schmerzmodus ein, dem eine hartnäckige Beständigkeit zu unterliegen scheint. Umkehrbar ist dieser nicht ohne Weiteres, oder sagen wir: zumindest nicht auf konventionellem Weg.
Schmerzamplituden
Bei aller Pein ist chronischer Schmerz bei weitem kein Einheitsphänomen. Es gibt ihn zwar wirklich, den Dauerschmerz, der permanent anwesend ist, Tag und Nacht, und keine Auszeit kennt. Das ist wohl derjenige, der am meisten den Begriff „chronisch“ verdient. Doch bleibender Schmerz muss bei Weitem keine umfassende Es-tut-immer-weh-Erfahrung sein. Es gibt auch intervallartige Schmerzen, bei denen sich extreme Schmerzschübe und schmerzfreie oder zumindest beschwerdeärmere Phasen abwechseln, und zwar in einem dubiosen Rhythmus, der genau so undurchschaubar ist wie permanenter Schmerz. Während der Körper, einschließlich Gehirn, die Fähigkeit besitzt, die Schmerzmeldung phasenweise zurückzufahren, kann er wie auf Knopfdruck von einem ins andere Szenario komplett umschalten und selbst ohne erkennbaren Grund einen Schmerzschub auslösen, der Betroffene handlungsunfähig machen kann. Symptomkomplexe wie Chronische Polyarthritis, Morbus Bechterew, Fibromyalgie oder Migräne seien hier als Beispiele genannt.
Während von Dauerschmerzen Geplagte fast neidisch auf ihre Leidensgefährten schauen, denen ja immerhin schmerzfreie Intervalle vergönnt sind, sehen das die von Schüben Betroffenen oftmals anders. Ein von Migräneanfällen oder rheumatischen Entzündungsschmerzen Attackierter kann durchaus so geruchs-, geräusch- und berührungsempfindlich sein, dass ihn die Toilettenspülung in der Nachbarwohnung stört und er sich manchmal nicht einmal mehr sicher ist, ob er überhaupt noch leben will.
Schmerz konkret
Birgit
litt früher unter Migräneattacken und sagt: „Ich hab schon auf dem Dachsims gestanden, bis mich mein Mann da runtergeholt hat. Da wusste ich, dass ich etwas unternehmen muss …“
Ina
ist mit chronischer Polyarthritis diagnostiziert und erklärt: „Wenn ich im Schub bin, ist mir ganz egal, was man mir gibt. Ich nehme alles, damit ich nur durchatmen und mich wieder rühren kann.“
Eric
„Es mag sich gut anhören, dass ich am Tag relativ schmerzfrei bin und nur in der Nacht mein Ischias streikt. Aber tauschen möchte mit mir keiner, weil meine Nächte die Hölle sind.“
Bei schubartigen Schmerzen scheint sich das Gehirn auf bestimmte zeitlich-rhythmische Präferenzen einzupegeln – ein Phänomen, das für Betroffene wie Behandler oft im Dunkeln bleibt.
Schmerzpunkt I
WIE Schmerzsignale verarbeitet werden und als Schmerzempfinden in die persönliche Wahrnehmung eingehen, ist bei weitem kein einheitlicher Prozess, denn Schmerz ist nicht gleich Schmerz. Und das sollte nicht überraschen, da Gehirn nicht gleich Gehirn ist und Mensch nicht gleich Mensch. Zum Verständnis von Schmerz braucht es mehr, Individualität eben, von der jeder Schmerzgeplagte profitiert.
Individualität im Schmerzgeschehen
Diagnostik versus Empfinden
Aber genau das, die individuelle Herangehensweise, beschreibt die Tatsache, die unsere medizinische Diagnostik rasend schnell an ihre Grenzen treibt. Schmerz korreliert nämlich kaum mit dem ABC geläufiger Befunderhebung. Zwischen dem sichtbaren Befund, dem dargestellten Gewebeschaden im Röntgenbild, dem MRT oder Ultraschall und dem konkret empfundenen Schmerzgrad können durchaus Welten liegen. Beispiel: „Ihre Hüfte ist gesund, Herr Meier“, so der Orthopäde. Herr Meier sieht das anders: „Aber sie tut höllisch weh.“
Und das Gegenteil gibt es auch: „Na, da kommen Sie wohl, um eine Endoprothese im Knie nicht herum, Frau Obermeier-Möllemann, eine lehrbuchreife Arthrose dritten Grades“, sagt der Arzt. Frau Obermeier-Möllemann: „Was? Immer noch? Ich bin seit einem halben Jahr nahezu schmerzfrei, spiele wieder Tennis und fühle mich fit wie selten zuvor.“
Was die Diagnostik beschwört, muss also lange nicht dem Schmerzpegel entsprechen, den der Betroffene beschreibt. Ein klassisches Beispiel aus der Schmerzpraxis: Der Mensch, der zum „Knie in Zimmer 317“ gehört, kann durchaus sehr anders fühlen.
Diagnosen im Außen
Schauen wir einmal auf das Symptomfeld der Rückenschmerzen, das im Handumdrehen aufzeigt, wie weit strukturorientierte Diagnostik und tatsächliches Befinden auseinanderliegen können.
Nicht jeder Bandscheibenvorfall beispielsweise erzeugt Dauerschmerz. Geschätzt wird, dass bei etwa achtzig Prozent der Menschen die Bandscheiben im Laufe ihres Lebens aus ihrem Platz zwischen den Wirbelkörpern herausrutschen. Aber nur ein Bruchteil der Betroffenen merkt es und ein noch geringerer Prozentsatz entwickelt daraus ein rezidivierendes oder chronisches Lumbalsyndrom, also langfristigen Schmerz.
Hat sich dieser dann manifestiert, kann er sich wiederum auf ganz unterschiedliche Weise bemerkbar machen. Während der eine Schmerzgeplagte mit motorischen Ausfällen bis hin zu Lähmungen in den Beinmuskeln kämpft, klagt ein anderer über Sensibilitätsstörungen oder Wadenkrämpfe, und ein weiterer kämpft mit der Seele, weil ihm das schmerzende Kreuz die Stimmung vergällt.
Und denken wir nur an die häufig diagnostizierten Skoliosen, Seitverkrümmungen der Wirbelsäule, die oft als Verursacher von Kreuzschmerz gelten. Wenn aber jede Skoliose automatisch zu Schmerzen führen würde, hätten wir kaum noch schmerzfreie Menschen auf der Welt. Ich selbst habe eine, und dennoch weiß ich nicht, was Rückenschmerz ist. Und ich kenne Skoliotiker, denen der Rollstuhl in Aussicht gestellt wurde, doch sie bewegen sich flexibel, treiben Sport und sind von diesem weit entfernt. Andere hingegen können sich mit vergleichsweise weniger drastischem Geschehen im Rücken kaum rühren.
Schmerz konkret
Eleonore
kam mit einer Skoliose zur Welt, ihr Oberkörper war sichtbar deformiert. Als der Schmerz in der Pubertät fast unerträglich wurde, nahm Eleonore diesen in die eigene Hand und lernte Tai Qi. Die ersten Bewegungen waren die Hölle, ihr Schmerz heulte auf wie nie zuvor. Aber dann schlug er um. Eleonore erzählte mir davon etwa dreißig Jahre später. Sie hatte einen leicht deformierten Brustkorb, aber sie bewegte sich flüssig und zumeist schmerzfrei. Meditation gab sie einen festen Platz in ihrem Leben. Sie war eine selbstbewusste, schöne Frau.
Daniela
hatte ebenfalls sehr früh die Diagnose „Manifestierte Skoliose“ bekommen, war jedoch von einer sichtbaren Deformierung verschont geblieben. Die Röntgenbilder seien unauffällig, so die Ärzte, auf keinen Fall stünden sie in Relation zu Danielas Schmerz. Mitunter konnte sie, inzwischen vierzehn Jahre alt, nicht einmal aufstehen, und mit dem Mieder, das ihr zur Stabilisierung verordnet worden war, fühlte sie sich noch miserabler als zuvor. Mitunter verbrachte sie den Tag im Bett und weinte. Als ich sie traf, war ihr Hauptproblem nicht der Schmerz als solcher, sondern der Beweisdruck, kein Simulant zu sein. Weder Eltern, Lehrer noch Freunde glaubten ihr, wie sehr sie litt. Der Orthopäde riet zur Psychoanalyse. Sie solle nicht übertreiben, war der allgemeine Kommentar.
Es überrascht deshalb nicht, dass Wissenschaftler an einer Methode tüfteln, wie der individuelle Schmerzgrad messtechnisch erfassbar ist. Man sucht nach einem objektiven Schmerzdetektor, einer Art Schmerzscanner, um Schmerz ohne strukturell nachweisbare Zuordnung zu objektivieren und messbare Veränderungen im Schmerzverlauf sichtbar zu machen. Schmerzforscher hoffen, so das subjektive Schmerzempfinden besser zu verstehen.
Schmerz als degenerative Erscheinung
Ab einem gewissen Alter seien Schmerzen normal, so die Überzeugung vieler meiner Klienten. Und tatsächlich hält sich die Meinung hartnäckig, dass Schmerz ein normaler Ausdruck des Alterns sei. Degenerativ sagt man auch oder altersbedingt. Damit ist gemeint, dass sich körperliche Strukturen verschleißen, gemäß der Idee, dass sich das, was man lange nutzt, abnutzt und automatisch Schaden nimmt. Eine solche mechanistische Betrachtungsweise des Körpers akzeptiert auch den Schluss, dass unser anatomischer Aufbau nach längerem Gebrauch seine Funktion einbüßt und das menschliche Gehirn an Flexibilität verliert. Und das wiederum assoziieren wir häufig damit, dass unser Körper im Alter weniger fähig zum Heilen ist, therapeutische Intervention weniger Wirkung zeigt und Schmerzreduktion einem Wunder gleicht. Von einer bestimmten Jahreszahl an geht es mit unserer Vitalität bergab, so die allgemein akzeptierte Idee.
Glücklicherweise ermöglicht die digitale Technik, mittels funktionellem MRT tiefer in die Furchen und Winkel des Gehirns zu schauen und damit auch in das alternde Oberstübchen hinein. Fakt ist: Das menschliche Gehirn liebt es, zu lernen. Selbst bis ins hohe Alter kann es eine flexible Informationsrückkopplung zu den Organen und Körperarealen aufrechterhalten, einschließlich der Option – man staune! – diese zu revidieren und sogar noch zu verbessern. Von einem zwangsläufigen Rückgang der Neuronen, dem der alternde Mensch automatisch ausgesetzt sein soll, fehlt jede Spur.
Das dürfte nicht überraschen, denn schließlich entwickelt nicht jeder Senior Beschwerden und Schmerz, und vor allem keinen, der gegenüber Intervention immun bleiben muss. Dass Schmerz im Alter normal wird, kann nur dann verallgemeinert werden, wenn der Mensch als Maschine anstatt als lebender Organismus betrachtet wird und man ihm die Fähigkeit zu Selbstreflexion und Bewusstheit streitig macht.
Aktuellen Erhebungen zufolge bleibt außerdem zu bedenken, dass chronischer Schmerz immer häufiger auch bei jungen Menschen unterhalb der Dreißig auftritt und die Zahl betroffener Teenager rapide in die Höhe schießt. Der Schmerzmittelkonsum bei Jugendlichen im Alter zwischen elf und sechzehn Jahren hat sich in den letzten drei Jahrzehnten verdoppelt und auch die noch jüngeren Schulkinder holen beängstigend schnell auf. Von Verschleiß kann da noch keine Rede sein.
Schmerz, das Erbe
Wie stark und unantastbar der Einfluss unseres genetischen Erbes auf die individuelle Schmerzverarbeitung ist, steht ebenfalls im Mittelpunkt der Diskussion. Tatsächlich zeigt die Statistik, dass sich chronischer Schmerz familiär häuft. Und das bringt uns in gewisser Weise an das Ende unseres Lateins, denn die Gene scheinen eine Art internes Schicksal zu sein, dem der Mensch nun einmal ausgeliefert ist.
Schenkte man dem uneingeschränkt Glauben, müsste jegliche Intervention wirkungslos bleiben. Doch genau diese Annahme deckt sich weder mit dem, was die epigenetische Forschung entdeckt, noch mit dem, was in der therapeutischen Praxis passiert. Mir fällt kein einziger Klient mit schmerzendem Erbe ein, der einer Behandlung gegenüber immun geblieben wäre. Immer war Veränderung sichtbar, was die Vorstellung einer unumstößlichen Prägung wackeln ließ.
Bei näherem Hinsehen kommen hier ganz andere Faktoren ins Spiel als ein stures genetisches Schicksal. Gar nicht so selten steht das Schmerzverhalten im Mittelpunkt des Geschehens, das als funktionelles Reaktionsmodell gelernt, übernommen und verinnerlicht worden ist. Menschliche Funktion wird nicht vererbt, sondern vorgelebt.
Schmerz konkret
Tina
leidet seit dem Kindesalter an Rheumatoidarthritis. Ihre Kindheitserinnerungen bestehen aus Arztbesuchen, Krankengymnastik, harzigen Einreibungen sowie den mitleidigen Kommentaren ihrer Behandler, die der Meinung waren, das grausame Schicksal ihrer Mutter habe auch sie ereilt. In Tinas Denken hatte es deshalb nie einen Platz dafür gegeben, dass ihre Zukunft hinterfragbar sei. Sie wuchs in dem Glauben auf, dass Schmerz zu ihrem Leben dazugehört.
Im Alter von vierzig Jahren bestand der Hauptteil ihrer Behandlung darin, der Aussicht auf Schmerzreduktion wenigstens eine Chance zu geben. Doch selbst als die Schmerzen ihren Charakter veränderten und zeitweise sogar ausblieben, fiel es Tina schwer, diese Realität anzunehmen. Sie konnte nicht glauben, dass ihr „Erbe“ außer Kraft gesetzt worden war.
Bernd
zog sich immer zurück, wenn es Probleme gab. Aber auch schon, wenn sich solche nur anbahnten, brütete er eine Migräne aus. „Er hat ein schwaches Nervenkostüm wie seine Mutter, und bei seinem Großvater war das auch schon so“, lautete die Erklärung seiner Familie.
Als Bernd zu meditieren begann und sich nach der Feldenkraismethode behandeln ließ, wurde ihm im Handumdrehen klar, welches innere Modell er unbewusst übernommen hatte: Wenn es konfliktreich wird, ziehe ich mich zurück, und wenn ich dann nach drei Tagen Bettruhe wieder einsatzfähig bin, hat sich das Problem erledigt. Diese unbewusste Strategie hatte ihm seine Mutter über viele Kinderjahre vorgelebt, um haarigen Konfrontationen aus dem Weg zu gehen.
Empathischer Schmerz
Die Modellfunktion von Schmerzerleben durch andere Menschen sollte nicht unterschätzt werden. Erst kürzlich habe ich dazu eine Studie gelesen, die sich mit dem Unterschied zwischen dem Empfinden selbsterlebten Schmerzes und einem als empathisch bezeichneten Schmerz befasst.
Letzterer bezieht sich auf das Gefühl, das sich einstellt, wenn wir Schmerz an anderen beobachten, beispielsweise, wenn andere Menschen verletzt werden oder unter Schmerzen leiden. Erstaunlich ist, dass dabei dieselben Hirnzentren aktiviert werden, ganz gleich, ob der Schmerz uns selbst oder einer anderen Person widerfährt.
Und auch die Konsequenz ist eine ähnliche. Eine solche sekundäre Schmerzerfahrung macht uns ebenfalls vorsichtiger oder ängstlicher, sobald wir in eine ähnliche Situation geraten. Dazu habe ich eine eigene Erfahrung.
Als ich fünf Jahre alt war, hat sich der Vater meines Kindergartenfreundes mit der Kreissäge den Daumen abgesägt. Ich habe das nicht miterlebt, sondern nur davon gehört. Das Ganze muss meine Vorstellung von Schmerz offenbar so überfordert haben, dass ich mir nicht nur für mehrere Tage den rechten Daumen hielt wie mein Freund, sondern bereits das Geräusch einer Kreissäge verursachte mir noch Jahre später Daumenschmerz, der mich zusammenzucken ließ. Die Assoziation von Kreissäge gleich Schmerz ist in meinem Unterbewusstsein durch eine bloße Vorstellung abgespeichert worden. Ich konnte sie erst auflösen, als ich mir dessen bewusst geworden war.
Doch warum erzähle ich das? Wenn wir einmal bedenken, wie viele Menschen Schmerz und schmerzhafte Vorbilder in ihrem Umfeld erleben, wird dies interessant. Wir müssen eine physische – oder seelische – Verletzung nicht einmal selbst erleiden, um diese als Schmerzerfahrung zu verbuchen, so dass das Gehirn sensibel für ein gesteigertes Schmerzempfinden wird. Und tatsächlich finden sich in zahlreichen Anamnesen Schmerzbetroffener mit Leiden verbundene Erlebnisse, die ihnen gar nicht selbst passiert sind, sich aber dennoch ihren Weg ins Unterbewusstsein gebahnt haben.
Die Gene
Kommen wir aber noch einmal auf die Gene zurück. Die Wirkung der Gene auf die Entwicklung von Schmerz mag auch deswegen für so machtvoll gehalten werden, weil die Schmerzforschung bestimmte genetische Dispositionen als Urheber von Schmerz belegt.
Beispielsweise haben Forscher herausgefunden, dass Menschen mit einer niedrigen Schmerzschwelle anfälliger dafür sind, chronische Schmerzen zu entwickeln. Das korreliert wiederum damit, dass ein hoher Prozentsatz von ihnen eine geringere Variabilität in der DNA aufweist. Mit einer bestimmten, wenig variablen Disposition der DNA-Proteine scheint das Nervensystem leichter und früher in einen veränderten Schmerzmodus umzuschalten, als das normalerweise passiert. Dasselbe geschieht übrigens unter dem Einfluss von dauerhaftem Stress, der ebenso zu einer veränderten Proteinsituation in der DNA führt und das Entstehen von Schmerz hofiert.
Gerade hier bietet es sich an, Fragen zu stellen. Wenn die Verbindung zu unserer genetischen Ausstattung im krankmachenden Sinne tatsächlich prägend und lebendig ist, warum sollten die DNA-Proteine dann immun bleiben, wenn sich ihre Umgebung und Informationsverarbeitung revidiert? Auf demselben Wege, wie Menschen mit einer niedrigen Schmerzschwelle lernen können, diese anzuheben, kann auch ein von Stress Geplagter lernen, belastungsresistenter zu sein. Vielleicht besteht ja sogar eine Chance für die mit Schmerz in Verbindung gebrachten Gene, wenn ihnen ein neurophysiologisch günstiger Nährboden bereitet wird?
Schmerzpunkt II
Unbestritten ist, dass sich sowohl die Ursachenfindung als auch die Diagnostik von Dauerschmerz komplexer gestaltet, als es allen Beteiligten gefällt. Die einzigen Maßgaben, die gesichert zu sein scheinen, sind: Unregelmäßigkeit, Wildheit und Spontanität. Es liegt nahe, dass Schmerztherapie vor diesem Hintergrund eine Herausforderung ist.
Schmerztherapie
Symptombekämpfung
Vorausgesetzt, eine Behandlungsstrategie zielt auf Nachhaltigkeit, kann sie erst dann erfolgreich sein, wenn sie die Quelle des Schmerzes berührt. Das leuchtet so gut wie jedem Schmerzerfahrenen ein. Bleibt diese aber unerreicht, stellt sich automatisch die Frage, was es dann ist, das konkret behandelt wird.
Dieses Thema stand im Mittelpunkt mehrerer Schmerzkongresse, die ich in den letzten Jahren besucht habe. Schmerzexperten aus Medizin und Psychosomatik rangen auf verschiedensten Podien um neue Zugänge zum nervenaufreibenden Thema Schmerz. Was sich am Ende als nahezu deckungsgleich herausstellte, war zwar wenig ermutigend, dafür aber ehrlich und klar: Von einem Modell zum Heilen von Schmerzen ist die Schulmedizin meilenweit entfernt. Das Einzige, was tatsächlich bleibt, ist die übliche Versuch-Irrtum-Strategie: Wenn’s glückt, fein; wenn nicht, Pech gehabt.
Die Quelle dieser Herangehensweise sehe ich darin, dass immer noch am forcierten Bekämpfen des Symptoms festgehalten wird, am Feldzug gegen den Gegner Schmerz, und der Fokus an dessen schnellstmöglicher Vernichtung klebt. Dieses Vorgehen entspricht natürlich dem dringenden Bedürfnis Betroffener, umgehend schmerzfrei zu sein, anstatt sich auf die Suche nach inneren Zusammenhängen zu begeben.
Doch gerade darin sehe ich die Achillessehne der allgemeinen Schmerztherapie. Wenn die Grundlage des Schmerzes im Dunkeln bleibt, mögen Behandlungen und Medikamente zeitweilige Erfolge bringen, doch diese werden genauso schnell verpuffen wie die Zuversicht Betroffener, dass ein schmerzfreier Zustand im Bereich des Möglichen liegt.
Schmerzverschiebung
Bezwungener Schmerz bedeutet keineswegs automatisch Erfolg. Schmerz kann auch lediglich verlagert werden, ein Tatbestand, der in der konventionellen Medizin gar nicht existiert. Das heißt, dass Beschwerden, wenn sie über längere Zeiträume hinweg betäubt, bespritzt und fokussiert behandelt werden, durchaus von einem Körperbereich in einen anderen wandern können. Thematisiert wird dieser Umstand schon deshalb nicht, weil ein Zusammenhang zwischen verschiedenen Ereignissen weder offensichtlich und schon gar nicht nachweisbar ist. Wahrgenommen wird einzig, dass ein Schmerzherd abklingt, doch kurze Zeit später ein neuer entsteht.
Beispiel Gelenkbeschwerden: Wenn in die arthrotische Hüfte ein neues Gelenk eingebaut wird, kann das Hüftgelenk als solches nicht mehr weh tun. Da aber die Hüftmuskulatur im organischen Zusammenspiel mit den anderen Strukturen des Körpers keine Veränderung erfahren hat, ist der ursprüngliche Zustand genau derselbe, abgesehen davon, dass die schmerzende Struktur in Form einer Endoprothese zunächst keinen Schmerz mehr melden kann. Infolgedessen ist der Körper funktionell gezwungen, einen anderen Ausdrucksort zu finden, der mitunter in Schulter und Nacken, zumeist aber in den benachbarten Strukturen wie im Lumbalbereich oder den Kniegelenken liegt.
Oder Nackenschmerz: Wenn man an den Nackenmuskeln beharrlich zieht und dehnt, an den Wirbeln manipuliert und renkt, kann es passieren, dass der Nackenschmerz vergeht. Oft stellen sich einige Zeit später Symptomkomplexe wie Schultersteifen, Impingement-Syndrom, Tennisellenbogen, Karpaltunnelprobleme oder Lumbal- oder Kniebeschwerden ein und die Betroffenen sind nur erstaunt. O-Ton einer Klientin: „Kaum hatte ich den Nacken im Griff, da fing der Ellenbogen zu meutern an.“
Das kann nicht wirklich überraschen. Wo auch immer der Körper seine Dysfunktion ausdrückt, in den wenigsten Fällen handelt es sich dabei um die Lokalisation des primären Problems. Schmerzvertreibung ist ein Vorgang, der jegliche Form der Therapie massiv erschwert und unnötigerweise in die Länge zieht.
Kompensationsmechanismen
Darüber hinaus ist es eine Tatsache, dass zahlreiche Schmerzzustände aus einer kompensatorischen Situation heraus entstehen. Bleiben wir noch beim störanfälligen Nacken: Mit welchem Tonus unsere Nackenmuskeln arbeiten, hängt maßgeblich von der Flexibilität der gesamten Wirbelsäule sowie vom Becken als Bewegungszentrum des Körpers ab, im weiteren Sinne sogar von der Hüft-, Knie- und Fußfunktion. Wenn es zu Einschränkungen in diesen „unteren“ Bereichen kommt, zwingt man die Schulter- und Nackenmuskeln automatisch in eine Kompensationssituation hinein. Wird dann vor diesem Hintergrund an den Halswirbeln manipuliert, gerenkt oder operiert, behandelt man den verkehrten Teil des Systems – genau genommen denjenigen, der aus funktioneller Sicht gar nicht für Veränderung sorgen kann. Er gleicht ja nur aus, was andere Teile verhindern. Er kompensiert, was anderswo aus der Funktion gefallen ist.
Der Körper ist ein System, in welchem alle Teile miteinander verbunden sind und als Team agieren. Ist nur ein winziges Glied im System verändert, ist jedes Teammitglied in diese Veränderung involviert. Wenn infolgedessen Beschwerden auftreten oder Schmerz entsteht, ist das zwar alarmierend, aber tatsächlich zweitrangig und nicht primär ausschlaggebend für die Intervention.
Schmerztherapeutisches
Ob ursachenfokussiert oder symptombezogen, nichtmedikamentöse Schmerztherapie konzentriert sich in der gängigen Praxis zumeist auf ein relativ ähnliches Vorgehen, wenn auch die Betonung dem Heilansatz entsprechend unterschiedlich ist: Physikalische Therapie, Krankengymnastik, Entspannungsverfahren, Schmerzkuren, Psychotherapie, Alternativmedizin oder OP. Schmerzkliniken und Praxen profilieren sich oft mit einer Mischung aus diesen Ansätzen. Der Trend liegt im Therapiekanon, was bedeutet, dass man dem Schmerz auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig zu begegnen versucht. Dieses multimodale Schmerzkonzept beruft sich darauf, Schmerz von der körperlichen und seelischen Seite her in Angriff zu nehmen, und immer mehr kommt auch der mentale Aspekt hinzu.
Doch ob die gewählte Strategie letztendlich greift, ist und bleibt ein Experiment, und zwar deshalb, weil identisch lokalisierte Schmerzen, selbst mit ähnlich gelagerten Ursachen eben nicht homogen auf denselben Impuls reagieren, weder als Einzelmaßnahme noch in der Powerkombination.
Schauen wir auf zwei Rückenschmerzpatienten, denen mit einer herausgedrückten Bandscheibe im gleichen Segment ein bewegungsbasiertes Schmerzprogramm verordnet wird. Während einer der Betroffenen ausstrahlenden Schmerz bis in die Zehen hinein spürt, der bei Aktivität und Bewegung nachlässt, kann ein anderer nicht einmal durchatmen oder husten, wenn er sich rührt. Lust auf Bewegung? Anstatt sich nach Mobilisation zu sehnen, bleibt er lieber im Bett.
Während ein Schmerzgeplagter im Moorbad inmitten einer Ischialgie entspannen kann und sich für den Rest des Tages ausgewogener fühlt, löst dieselbe Anwendung bei einem anderen eine Schmerzattacke höchsten Grades aus, die ihn für Stunden handlungsunfähig macht und ihm die Laune verdirbt. „Nie wieder …“, schwor einer meiner Klienten nach der Rehakur, „nie wieder steige ich in eine Moorwanne rein.“
Nicht anders verhält es sich in der Psycho- oder Verhaltenstherapie, die bei Rückenschmerz immer häufiger hinzuaddiert wird. Während der eine Patient diese als willkommene Ergänzung begrüßt, begibt sich ein nächster in Abwehrstellung, weil er sich nicht ernst genommen fühlt und mehr Spannung aufbaut als je zuvor.
Dass bei Bandscheibenvorfällen mit Lähmungserscheinungen als einziger Ausweg der operative Eingriff bleibt, stimmt ebenso wenig. Für manche ist er die Rettung, für andere ein ziemlich böser Witz. FBSS nennt man die schmerzenden Probleme nach erfolglosen Wirbelsäulen-OPs oder: „Failed-Back-Surgery-Syndrome.“
Pauschalantworten taugen nicht
Dass es in der Schmerztherapie alles gibt, nur kein allgemeingültiges Konzept, ist eine Tatsache, an der sich so gut wie jeder Involvierte reibt. Denkt ein Physiotherapeut beispielsweise bei der Behandlung muskuloskelettaler Schmerzen darüber nach, wohin diese denn eigentlich steuert, fällt eine eindeutige Antwort schwer. Wäre es nämlich ein durchtrainierter, starker Körper, der das Abklingen oder Ausbleiben von Muskel- oder Gelenkschmerzen garantiert, dürften weder Sportler noch Bodybuilder oder Trainierte solche haben. Das ist aber ein Trugschluss. Gerade unter ihnen finden sich zahlreiche über Schmerzen Klagende, die ihre Trainingseinheiten, Auftritte oder Wettkämpfe nur mit Schmerzmitteln, Wärmepflastern oder zusammengebissenen Zähnen schaffen.
Wären fehlende Beweglichkeit und mangelnde Elastizität des Körpers die Ursache für Schmerzen und stretchwillige Muskeln die Alternative, dürften Tänzer, Leistungsgymnasten, Yogis oder Akrobaten ebenfalls davon verschont bleiben. Das sind sie aber nicht. Ich habe mit zahlreichen Sportlern, Ballettvirtuosen, Yogis und Yoginis gearbeitet. Viele von ihnen führen einen unerbittlichen Kampf gegen den Schmerz, der bei chronischer Überdehnung der Muskelfasern nur schwer zu gewinnen ist.
Wäre ein entspannter Körper der Schlüssel für das Ausbleiben von Schmerz, müssten gelassene Menschen oder solche ohne herausfordernden Lebensstil frei von Schmerz sein. Auch das trifft nicht immer zu, denn einige meiner Klienten mit Dauerbeschwerden sind Spezialisten in Entspannungstechniken wie Autogenem Training oder PMR.
Was uns zum letzten Beispiel bringt: Dass Menschen mit einer gesunden Lebensweise, oder zumindest dem, was im herkömmlichen Sinne darunter verstanden wird, vom Schmerz verschont bleiben, trifft leider auch nicht zu. Viele meiner Klienten kümmern sich ausgesprochen penibel um ihren Körper, ihren Lebensstil und ihr Befinden. Sie vermeiden ungesunde Speisen, Alkohol und Zigaretten, achten auf ausreichend Schlaf, ein optimales Körpergewicht, investieren in Privatbehandlungen und vermeiden so viel wie möglich von allem, was im Allgemeinen als Krankheitsrisiko gilt. Und dennoch bleiben sie vom Schmerz nicht verschont.
Alternativ oder klassisch
Allopathische oder Alternativmedizin wäre dann noch die Frage. Für die Vertreter der Alternativmedizin spricht, dass sie den ganzen Menschen in seiner Einheit sehen und nicht als Knie, Knorpel oder Eierstock. Unabhängig davon, ob aus energetischer, reflektorischer oder funktioneller Sicht, alternative Behandlungsmethoden nehmen den Schmerz als Anlass, Störungen im „System Mensch“ aufzuspüren und dann auch „system-atisch“ zu kurieren. Und das ist ausgesprochen klug.
Schmerz konkret
Marlen
war ein Leben lang gesund und brach dann inmitten einer Unterrichtsstunde zusammen. Nachdem die Ärzte keine physische Ursache finden konnten, schickten sie Marlen durch den gesamten diagnostischen Marathon, den das örtliche Krankenhaus zu bieten hatte. Schlimm waren nicht die Untersuchungen an sich, so Marlen, sondern das Zusammentreffen mit Medizinern, die sich mehr für die dokumentierten Ergebnisse interessierten als für sie als Mensch. „Ich bin mir in meinem Leben noch nie so überflüssig vorgekommen“, berichtet sie. „Es war manchmal, als wäre ich gar nicht da, nur mein Röntgenbild, meine Blutwerte, mein EKG.“
Udo
war auf Drängen seiner Frau zur Alternativmedizin verdonnert und begab sich wegen anhaltender Magenschmerzen in homöopathische Behandlung. Schlimm war nicht nur, dass er Angst hatte, wie er später gestand, er misstraute dem Praktiker auch und verstand nicht, warum sich dieser mehr für seine Familiengeschichte und den frühen Tod seines Vaters interessierte als für seine akute Situation. Dass die Behandlung mit homöopathischen Kügelchen fehlschlug, leuchtet ein, denn Udos Widerstand wuchs mit jeder Konsultation.
Schmerzpunkt III
Ob schulmedizinisch oder alternativ, ob mit oder ohne Bewegung, psychischer Begleitung, physiotherapeutischer oder mentaler, in jedem dieser Denkansätze steckt ein Fünkchen Wahrheit. Doch wenn wir einen der Wege verallgemeinern wollen, ist sein Scheitern vorprogrammiert. Weil es keine Konsistenz gibt, existiert auch keine Generalisierung, wie Schmerzbehandlung allgemeingültig strukturiert werden soll.
Schmerz, das Lieblingskind der Pharmazie
Analgetika und Co
Kommen wir schließlich zum letzten Aspekt, dem größten Zankapfel auf dem Schmerzsektor, zu den Medikamenten. Unabhängig davon, ob chemisch, pflanzlich oder homöopathisch, wer Schmerzen hat, fragt zumeist schnell nach der Powerpille, die seiner Tortur ein sofortiges Ende setzt. Und da geht es gleich weiter im Kanon der Anomalien. Während ein Analgetikum bei einem Patienten Wunder wirkt, lässt dasselbe den nächsten mit gleicher Diagnose kalt. Es ist längst kein Geheimnis mehr: Schmerzmittelverschreibung ist so etwas wie eine Schneeballschlacht. Entweder man trifft oder man trifft nicht.
Was uns unmittelbar zu den Nebenwirkungen bringt, die ihren Namen bei Dauermedikation zu Unrecht verdienen. Denn bei vielen Konsumenten kristallisieren sich gerade diese als das Hauptproblem heraus. Während mancher Schmerzgeplagte glücklich mit seinem Medikament ist, sich gut eingestellt fühlt und sein Leben lebt, steht ein nächster mit derselben Substanz enorme Torturen durch, weil der Körper massive Symptome erzeugt und sich gegen die chemische Keule wehrt. Funktionelle Dysregulation, Immunabwehrschwäche bis hin zu handfesten Folgeerkrankungen schlagen zu Buche, die Abhängigkeit führt nicht selten zum psychischen Eklat.
Opioide beispielsweise, die bei neuropathischem Schmerz oder Rückenbeschwerden relativ salopp verabreicht werden, stehen in der Liste der Nebeneffekte ganz oben: Verstopfung, Durchfall, Erbrechen, Müdigkeit, Schwindel, Hautprobleme und – man staune! – auch Kopfschmerzen gehören dazu. Und, nein, es ist kein Witz: „Medikamenteninduzierter Schmerz“ heißt dann tatsächlich jener, der durch den Dauerkonsum von Schmerzmitteln entsteht und gar nicht so selten mit weiteren Analgetika behandelt wird. Unter den Kopfschmerzen wird er von Medizinern auf immerhin vierzig Prozent geschätzt.
Doch auch hier kann man noch eins draufsetzen: Erschreckenderweise mehren sich Studien darüber, dass die Dauereinnahme von Opioiden und deren Überdosierung langfristig sogar zu Todesfällen führen kann.
Gesenkte Schmerzschwelle
Da Dauermedikation zu einer Erhöhung der Schmerzempfindlichkeit führt, addiert sich diese der Liste der Nebenwirkungen in führender Position hinzu. Obwohl bekannt ist, dass Betroffene durch die Einnahme von Schmerzmitteln schmerzempfindlicher werden, antwortet man vielerorts dennoch mit einer gesteigerten Dosierung darauf. Ein Teufelskreis wird manifestiert: Wenn Schmerzsignale bereits gewohnheitsmäßig von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergegeben werden, die Schmerzsensitivierung in Rückenmark und Gehirn sowieso schon hoch ist und zu noch intensiverem Schmerzempfinden führt, setzt das ständige Höherdosieren von Schmerzmitteln dem Ganzen noch eins drauf: Auf Dauer tut die schmerzmeldende Region nämlich nicht nur heftiger, sondern auch immer früher weh. Therapieversuche gestalten sich infolgedessen als noch komplizierter. Selbst wenn sie intelligent sind, reduziert sich ihre Chance auf Erfolg.
Darüber hinaus drosselt die Dauergabe von Medikamenten die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, in der ich eine der Hauptressourcen für eine neurophysiologisch sinnvolle Schmerzbehandlung sehe. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass sich der betreffende Mensch fühlen und wahrnehmen kann und sich sein Körper infolgedessen von selbst wieder reguliert.
Schmerzmittelsucht
Im Zuge der Dauermedikation beobachte ich noch eine weitere Konsequenz. Dass die Abhängigkeit von Schmerzmitteln keine Lappalie ist, weiß ich von zahlreichen Klienten, für die der Entzug nahezu unvorstellbar war.
Schmerz konkret
Anita
hat sich als Fachärztin für Innere Medizin aufgrund jahrelanger Rückenschmerzen selbst medikamentiert. Anfangs gab es noch Spielraum, doch mit der Trennung von ihrem Partner schlug der Schmerz stärkere Töne an und parallel dazu stieg die selbstverordnete Dosis des Opiats. Als ich Anita traf, war es für sie undenkbar, je wieder ohne Schmerzmittel zu leben. Selbst als der Schmerz nachließ, bestand sie auf der unveränderten Einnahme ihres Cocktails. Schmerzfreiheit war in ihrer Vorstellung etwas, das einzig durch Medikamente herstellbar sei.
Jacob
brachte es mit dem Ziel, seine Schmerzmittel so schnell wie möglich loszuwerden, auf den Punkt: „Ich kann es allein nicht schaffen … Ich fürchte, dass ohne Mittel alles sofort wieder beim Alten ist.“ Schließlich staunte er, als er nach ganzen sechs Wochen wieder „nüchtern“ war.
Die Schmerzmittelsucht ist aber längst nicht alles, was die Abhängigkeit von Medikamenten betrifft. Bei vielen Schmerzerfahrenen kommen mit der Zeit auch Psychopharmaka hinzu, deren Einnahme ebenso zu einer unumkehrbaren Gewohnheit werden kann. Und, ja, es ist nachvollziehbar: Schmerzen im Akkord gehen natürlich ans Gemüt. Es ist, als grüben sie sich tief in die Seele hinein, als zerstörten sie jegliche innere Stärke und legten die Nervenstränge blank. Für manchen Schmerzerfahrenen ist schwer zu differenzieren, welcher Teil mehr weh tut, die Bandscheibe, das arthroskopierte Knie, der Kopf oder die Seele.
Doch den Körper mit Schmerzmitteln und Psychopharmaka zu betäuben, halte ich nicht nur für riskant, sondern auch für kontraproduktiv, weil jede Form der Therapie unter diesen Bedingungen im Nebel der verschwommenen Wahrnehmung stattfinden muss und dies den Zugang zu den Ressourcen des Nervensystems versperrt.
Placebo-Effekte
Aufhorchen lässt hingegen, dass Schmerz mitunter auf Mittel ohne schmerzstillende Inhaltsstoffe reagiert. Bei manchen Betroffenen schlagen Schlafmittel an, wenn der Schmerzschub aufzieht, bei anderen wirken Muskelrelaxantien oder Antikonvulsiva als Mittel zur Krampflösung, während ein Antidepressivum bei der Behandlung von Muskel-, Nerven- oder Arthritisschmerz Wunder wirken kann. Es überrascht auch nicht, dass sich Schmerz mitunter vom Faltenkiller Botox in die Flucht schlagen lässt. Allesamt paradoxe Wirkungen, was die Gabe von Placeboprodukten ins Spiel bringt. Von leeren Pillen bis zu gehaltlosen Injektionen, es ist mit gängiger Logik nicht zu erklären, welcher innere Mechanismus hier wirksam wird.
Betroffene begehren bei dieser These gewöhnlich auf: „Bilde ich mir das alles etwa ein?“, so der Tenor des Widerstandes. Nein, das tun sie nicht, das Gehirn macht die Verringerung des Schmerzes tatsächlich fühlbar. Nur scheint der ganze Mensch, der die Signale verarbeitet, über weitere Mechanismen zu verfügen, die für einen schmerzlindernden Effekt verantwortlich sind.
Nocebo
Immer öfter liest man vom Nocebo-Effekt, dem umgekehrten Placebo, was bedeutet, dass Schmerz aufgrund einer bewussten oder unbewussten SchmerzErwartungshaltung entsteht. Die „Self-fulfilling Prophecy“, eine sich erfüllende Voraussage, stellt sich tatsächlich ein, wenn mit Schmerz oder dessen Verstärkung gerechnet wird.
Und damit berühren wir einen der größten blinden Flecken moderner Medizin, denn genau solche im Unterbewusstsein ablaufenden Vorgänge, wie sie dem Nocebo-Effekt zugrunde liegen, werden flächendeckend ignoriert. Denken wir nur an Sätze, die von Arzt- oder Therapeutenseite durchaus gängig sind: „Jetzt versuchen wir erst einmal das … Und wenn das nicht anschlägt, weiß ich auch nicht mehr weiter …“ oder: „Wenn das so weitergeht, wird der Schmerz chronisch, und dann haben wir ein wirkliches Problem …“ oder: „Wenn das so weitergeht, kommen wir um einen operativen Eingriff nicht herum“.
Es macht einen Riesenunterschied, ob man einem Rückenschmerzgeplagten die Operation als „Worst-Case-Szenario“ in Aussicht stellt oder ihm vermittelt, welche Ressourcen es gibt, die für ihn sofort nutzbar sind.
Doch der Nocebo-Effekt kann auch subtiler initiiert werden. Zum Beispiel, wenn es um „Vor-Sorge“ und Präventionsuntersuchungen geht. Ohne Zweifel ist es wichtig, sich um seine Gesundheit zu kümmern. Dennoch halte ich es für krankheitsfördernd, den Fokus auf mögliche Störungen zu richten. Untersuchungen im Sinne der Früherkennung säen oftmals erst die Vorstellung eines Problems. Wer sowieso schon vorbelastet, schmerzerfahren, übermäßig hellhörig oder ängstlich ist, öffnet sowohl Beschwerden als auch der Schmerzentwicklung Tür und Tor.
„Therapieresistenz“
Der Nocebo erreicht dann seinen Gipfelpunkt, wenn Ärzte oder Therapeuten aufgeben. Ich bin einigen Betroffenen begegnet, die von ihrem Arzt irgendwann einmal beiseitegenommen worden waren mit der Botschaft, die Wahl der Heilmittel sei ausgeschöpft. „Therapieresistent“ heißt das, oder schmuckloser: Weitere Versuche sind zwecklos. Dass das eine innere Katastrophe ist, muss man nicht erklären, weil eine solche Prophezeiung jegliche Zuversicht, jeden noch so kleinen Hoffnungsschimmer auf Besserung begräbt.
Glücklicherweise schält sich diese Prognose zumeist als unhaltbar heraus. Ich habe mit zahlreichen „therapieresistenten“ Menschen gearbeitet, die sich entgegen aller Voraussagen regenerierten und in ein schmerzfreies Leben zurückgekehrt sind.
Schmerz konkret
Anna
litt an diffusen Schmerzen im ganzen Körper und hatte bereits mit zweiundvierzig das Gefühl, steinalt zu sein. Zu machen sei da nichts mehr, hatte man ihr gesagt, sie sei „vollständig austherapiert“.
Anna ist inzwischen beschwerdefrei. Die Biss-Schiene für den Kiefer hat sie in den Müll geworfen, sie lacht wieder und ist ihrem Naturell entsprechend ein bewegungsaktiver Mensch.
Geert
stellte mir seinen eingegipsten Arm mit einem Tennisellenbogen vor, der seit einem Jahr auf keinerlei therapeutische Intervention reagiert hatte. Die Palette der Mittel sei ausgereizt, so sein Arzt, und in seinem Alter (gerade fünfzig geworden) sei es einfach Verschleiß, der für seine Beschwerden verantwortlich war. Für Geert kam das einer Katastrophe gleich, denn mit einem Computerarbeitsplatz und einer leitenden Position, die Schonzeiten ausschloss, hatte er keine Alternative parat. Und einen Plan B gab es nicht.
Mit einem auf ihn zugeschnittenen Intensivprogramm für Körperbewusstheit brauchte Geert kein Vierteljahr, bis er schmerzfrei und bald auch wieder frei beweglich war.
Elisa
stand kurz vor einer geplanten Bandscheiben-OP, aber sie wollte doch noch einen letzten Versuch unternehmen, um ihre bis in die Zehen ausstrahlenden Schmerzen loszuwerden. Längeres Sitzen, Stehen und Liegen waren längst unmöglich und die Lust am Leben fehlte ihr auch. Elisa habe zu lange gewartet, so ihr Orthopäde. „Kaputt ist kaputt“, kommentierte dieser den Röntgenbefund. Selbst eine OP werde nur partiellen Erfolg bringen.
Nach einem knappen Jahr begann Elisa wieder Sport zu treiben. Sie joggt, reitet, tanzt, fährt Ski und reist. Sie lebt das aktive Leben, das sie mit vierunddreißig Jahren begraben hatte.
Katharina
suchte nach drei Jahren Kopfschmerz eine sogenannte Koryphäe im Bereich der Schmerzmedizin auf. Als der Spezialist ihre Geschichte mit mehreren Unfällen und ebenso vielen Therapieversuchen hörte, empfahl er Katharina, sich mit dem Schmerz zu arrangieren. Es gebe nun einmal Menschen, bei denen nichts helfe, und mit fast sechzig sei es normal, dass der Körper weniger ansprechbar sei.
Nach nur sechs Sitzungen, in denen wir einfache Bewusstheitstechniken anwendeten, reduzierte Katharina ihren Schmerz um gefühlte fünfzig Prozent. Mit Meditation kam dann die Wende. Die vernichtenden Worte des Arztes zu vergessen war der schwierigste Teil der Intervention.
Schmerzpunkt IV
Unangefochten ist die Tatsache, dass Schmerz zu den heiklen, weil hochkomplexen Themen im therapeutischen Alltag gehört. Während Symptomvernarrtheit direkt ins Leere führt und Schmerz sich weder in diagnostische Gleichmacherei noch in eine Therapie von der Stange packen lässt, liegt nahe, dass der symptomfokussierte Lösungsansatz nur partiell hilfreich ist.
Abenteuer Gehirn
Und das hat etwas damit zu tun, dass Dauerschmerz hausgemacht – oder präziser: hirngemacht ist. Wenn wir Schmerz beeinflussen wollen, geht es automatisch um die Verarbeitung von Schmerzsignalen im „Headquarter Gehirn“. Und da betreten wir geradewegs Neuland. Trotz High-Tech-Medizin und digitaler Diagnostik ist es nicht einmal ein Vierteljahrhundert her, dass die Wissenschaft das Rodeo der Neuronen in unserem Nervensystem erstmals sichtbar machen kann und so in leisen Ansätzen zu verstehen beginnt.
Wiederum reichen Forschungen aus, um den Fokus auf die richtige Fährte zu lenken: Es existiert kein abgrenzbares Schmerzzentrum im Gehirn, das für die Schmerzverarbeitung verantwortlich ist. Während eine Schmerzreaktion im Körper tobt, ist eine Vielzahl verschiedener Hirnareale erregt, die so gut wie jeden Aspekt unserer Erlebniswelt involviert. Vorgänge des Fühlens, Denkens, Bewegens, des Wahrnehmens und Beurteilens sind in Schmerzprozesse ausnahmslos eingeschlossen, sämtliche Prozesse des Agierens als Mensch.
Fokus Mensch und Meditation
Was wir als Erstes akzeptieren müssen ist, dass der chronische Schmerz als solcher nicht existiert. Deshalb kann dieser auch nicht im Mittelpunkt der Intervention stehen, sondern der Mensch, der ihn hat, die Konstitution seines Körpers, die Funktionsweise seines Nervensystems, sein Empfinden und seine Sensibilität. Und besonders das Potenzial, das in ihm steckt.
Und genau hier setzt Meditation an: Sie involviert das Individuum. Sie trifft auf den agierenden, fühlenden und sich selbst reflektierenden Menschen, dessen Nervensystem zu natürlicher Balance zurückfinden muss.
Im Licht des Zen: Vom „Glas“ zum „See“
Der Schmerz des Lebens
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen sehr heiklen Schnitt wagen. Heikel deshalb, weil es nun darum geht, den Bogen zu schlagen vom komplexen Thema Schmerz hin zum noch komplexeren Gebiet der Meditation. Vom analytischen Denken zum internen Verstehen. Von intellektueller Folgerichtigkeit zu lebensbezogener Intelligenz.
Sicherlich haben Sie schon einmal von Zen-Meistern gehört, von weisen Lebenslehrern, die gemäß der fernöstlichen Tradition des Zen-Buddhismus für ihre spirituell interessierten Schüler ein Erfahrungsfeld zum meditativen Lernen kreierten. Die Erleuchtung stand im Mittelpunkt der Intention.
Von einem solchen Meister wird berichtet, dass er es eines Tages satt hatte, sich das Jammern eines seiner Schüler über die Schwere und den Schmerz seines Lebens anzuhören. Es war Zeit für eine Lektion.
Der Meister nahm den Schüler beiseite und forderte ihn auf, eine Handvoll Salz in einem Glas Wasser aufzulösen und von dem Cocktail zu trinken. „Wie schmeckt das?“, fragte er.
Der Schüler verzog das Gesicht. „Uuhh! Salzig!“, antwortete er und spuckte den Rest des Wassers aus.
Dann gingen die beiden zum See und der Meister wies seinen Schüler an, dieselbe Menge Salz in den See zu werfen und wieder vom Wasser zu trinken. „Wie schmeckt das?“, fragte er erneut.
„Frisch“, sagte der Schüler. „Frisch, wie immer…“
„Und schmeckst du das Salz?“, bohrte der Meister nach.
„Nein …“ Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht“, sagte er und deutete auf das Wasser. „Der See ist größer als das Glas.“
Der Meister nickte. „Genau. Der Schmerz des Lebens ist wie pures Salz, nicht mehr und nicht weniger. Die Stärke dieses Schmerzes bleibt immer dieselbe. Aber die Stärke der Bitternis, die wir schmecken, hängt von dem Gefäß ab, in das wir die Bitternis füllen. Wenn du Schmerzen hast, kannst du nur eines machen: Vergrößere dein Gespür für die Dinge. Hör auf, ein Glas zu sein. Werde zu einem See.“
Die Reise zum See
Und jetzt wird es ernst: Alle, die mein Manuskript bisher gelesen haben, prophezeiten mir, dass ich genau an dieser Stelle neunundneunzig Prozent meiner Leser verlieren würde. „Hier verjagst du deine Fans“, warnte erst kürzlich eine Bekannte. Warum? Weil es für den Geschmack des Schmerzerfahrenen zu unrealistisch, zu blumig, esoterisch und praxisfern werde. Das Thema Schmerz verlange nach Ernsthaftigkeit, es vertrage weder Polemik noch Augenwischerei und Scharlatanerie.
Und doch! Ich riskiere es. Ganz bewusst mute ich es Ihnen zu, noch einmal zur Schmerzparabel zurückzukehren.
Obwohl Zengeschichten mit geläufigen Denkmechanismen kaum interpretierbar sind und nur in der nonverbalen Tiefe ihrer Botschaft erfasst werden können, kommt in dem Meister-Schüler-Dialog ein sehr vernachlässigter Aspekt ins Spiel: Der Grad und die Weise, in der anhaltender Schmerz empfunden wird, hängen damit zusammen, in welchem Verhältnis sie zum Rest des „Mysteriums Körper“ stehen, zum endlos komplexen „System Mensch“.
Wie gestaltet sich die Empfindungswelt des Körpers? Ist der Körper „eng“, undurchlässig, verspannt? Ist er wie ein kleines begrenztes Gefäß, in dem Schmerz gefangen ist? In dem sich Schmerzempfinden „verdichtet“, gewissermaßen komprimiert? Oder kann er auch Weite und Raum bedeuten? Ein See sein? Ein großer Organismus, in dem sich Empfinden, einschließlich Schmerzwahrnehmung „weitet“, weil Bewusstheit von anderen Qualitäten gleichrangig besteht? Ginge es, dass aufgrund dessen das Gehirn als Chefdirigent des Orchesters Körper die Botschaft ändert, die er in die physischen Strukturen schickt?
Und umgekehrt: Wenn der Körper als feiner, differenzierter und daher als weiter empfunden wird, können dann Informationen aus seiner Peripherie auch Einfluss nehmen auf die Wahrnehmung von Schmerz? Und können sie denjenigen Teil beeinflussen, der Schmerz erzeugt, nämlich der eingespurte Mechanismus im Gehirn?
Schaffen es neuartige, weil durch Bewusstheit erfasste afferente Informationen dort, in der Chefzentrale des zentralen Nervensystems, langfristig für eine andere Arbeitsweise der Neuronen zu sorgen, sodass das Eldorado der Schmerzsignale neu gemixt wird, sich Gehirnsubstanz anders vernetzt, sich differenzierter verknüpft?
Und ganz persönlich gefragt:
1. Wie ist Ihre Beziehung zu dem „Gefäß“, das Ihr Körper ist?
2. Wie ist Ihr Verhältnis zu dem Bereich Ihres Körpers, der keine Schmerzen hat, sodass sich der Schmerz wie das Salz im See „verteilen“ kann?
3. Worauf schauen Sie, wenn Sie über Ihren Schmerz sprechen? Auf das Salz? Oder den See? Auf Ihre „Triggerpoints“? Oder auf die Spielräume, die Sie haben?
4. Trauen Sie sich zu, selbst Einfluss auf Schmerzverarbeitung zu nehmen, weil Sie der Experte im Schmerzgeschehen sind?
Hand aufs Herz: Wo gehen Sie los? Beim Glas? Oder beim See?
Glas oder See?
Beginnen wir sofort mit einer praktischen Übung. Verschieben Sie diese bitte keinesfalls auf später, machen Sie sie JETZT. Genau jetzt.
Ihre Eigenanamnese
Vielleicht haben Sie die vier Fragen soeben in Gedanken schon beantwortet. Wenn nicht, holen Sie es nach. Schreiben Sie Ihre Antworten kurz und bündig auf. Grübeln Sie nicht lange, selbst wenn Ihre Antwort ungewöhnlich klingt.
Und nun zum Kern: Lesen Sie sich Ihre Antworten laut und deutlich und so bewusst wie möglich vor. Lassen Sie sich dabei jedes einzelne Wort auf der Zunge zergehen. Danach begeben Sie sich in eine bequeme Position, sitzend, liegend oder stehend, schließen für sieben Atemzüge Ihre Augen und ruhen im Kontakt mit Ihrem Atem nach.
Mein Tipp: Heben Sie das Geschriebene bis zum Ende des Buches auf.
Standortbestimmung
Sobald ich mit Klienten zu arbeiten beginne, ist es das Wichtigste, zu wissen, wo wir starten, an welchem Ort wir losgehen. Das haben wir gerade gemacht. Da ich so viel Körperbewusstheit wie möglich aus Ihnen herauskitzeln möchte, animiere ich Sie außerdem dazu, die übliche Schmerzhierarchie zu verlassen und Ihr eigener Experte innerhalb Ihres Schmerzgeschehens zu sein. Ja, Sie lesen richtig. Verlassen Sie den Patientenstatus! Arbeiten Sie sich in den Chefsessel Ihrer Situation vor, sodass Sie als fühlender, reflektierender und wissender Mensch am Ruder Ihrer Schmerzgeschichte sitzen.
Ich ermutige Sie, sich in die Nabe des Geschehens zu begeben, genau in die Mitte hinein, medial, dorthin, wo jegliche Information zusammenläuft.
Tagebuch
Um diesen Prozess klarer zu gestalten, empfehle ich, ihn schriftlich zu dokumentieren. Das hat sich in meiner Arbeit mit Klienten bezahlt gemacht. Kaufen Sie sich ein Tagebuch und führen Sie es als einen Veränderungsdetektor. Falls Sie Ihr Tagebuch im Handy, im Tablet oder im Notebook führen, ist das ebenso in Ordnung. Wichtig ist, dass Sie es bei sich haben und Beobachtungen ad hoc und frisch aufschreiben können. Notieren Sie alles, was sich in Ihrer Wahrnehmung verändert, egal, ob es mit dem Schmerz offensichtlich in Verbindung steht. Warum? Weil jede Art veränderter Perzeption wichtig ist. Jede. Jede einzelne. Sie hat Gewicht, damit Sie die Indikatoren für neuronale Veränderung erkennen können, die im Zuge von Meditationspraxis passiert.
Wenn sich meine Klienten von mir verabschieden und ihren Weg anhand ihrer Notizen rückblickend verfolgen, können sie es oftmals kaum fassen, wie weit sie gegangen sind. O-Ton einer Klientin: „Es ist kaum zu glauben, wie mein Körper damals war.“ Eine andere Klientin beschrieb es wie das Ansehen eines Fotoalbums, in dem sie auf die alten Bilder schaut. „Der Schmerz ist wie Schnee von gestern“, sagte sie. „Schnee, der längst geschmolzen ist.“
Das Tagebuch dokumentiert aber nicht nur Ihre veränderten Wahrnehmungen, sondern es soll außerdem Ihre Ressourcensammlung sein. Sie können es wie ein Kochbuch führen, in dem Sie Rezepte archivieren, Tipps und Tricks sammeln, Zitate, Bilder oder persönliche Bemerkungen hineinpinnen, die Sie später nutzen. Dann greifen Sie auf das zurück, von dem Sie wissen, dass es Ihren aktuellen Bedarf erfüllt.
Ihr Spannungs-Schmerz-Score (SSS)
An dieser Stelle installieren wir einen Vergleichswert, nach dem ich Sie noch mehrere Male fragen werde.
1. Ihr Spannungsscore: Fühlen Sie den Grad der Anspannung Ihres Körpers und ordnen Sie ihn auf einer Skala von null bis einhundert Prozent ein. Während der Wert null einem völlig entspannten Dasein entspräche, bezöge sich ein Wert von einhundert Prozent auf Ihre maximalste Anspannung. Notieren Sie den Wert und versehen Sie ihn mit dem heutigen Datum.
2. Ihr Schmerzscore: Schätzen Sie den durchschnittlichen Grad Ihrer Schmerzen auf einer Skala von null bis einhundert Prozent ein. Der Wert null wäre gleichzusetzen mit Schmerzfreiheit, während sich einhundert Prozent auf durchgängige Schmerzen in Maximalstärke beziehen. Fügen Sie diesen Wert ebenfalls Ihren Aufzeichnungen hinzu.
Inneres Hilfsmittel Meditation
Und schon sind wir mittendrin im Prozess des Bewusstwerdens, in den Sphären von Innenschau und verfeinerter Perzeption. Wo auch immer Sie losgehen, Meditation ist im Zuge der Schmerzbeeinflussung das Mittel der Wahl. Das ist sie nicht, weil sie unmittelbar heilt, sondern weil sie Aufmerksamkeit und Bewusstheit über intern ablaufende Vorgänge im Inneren Ihres Körpers erzeugt, die mit herkömmlichen Mitteln unantastbar wären.
Wenn Sie mit Ihrem Schmerz sowieso in der Warteschleife stehen, wenn erhoffte Veränderung ausgeblieben ist und das bessere Medikament ebenso, wenn Sie nur noch hoffen – auf die anschlagende Therapie, die OP oder schlichtweg ein Wunder, dann nutzen Sie Ihre Zeit.
Machen Sie das Erlangen von Bewusstheit zu Ihrem persönlichen Instrument. Vorkenntnisse brauchen Sie keine, nur Mut zu Veränderung und einen offenen Blick.