Читать книгу Ein kleines Ei ist auch ein Huhn - Katrin Ludwig - Страница 3
Vorwort
ОглавлениеEssen und Trinken schaffen Erinnerungen und verankern sie im Menschen. Das ist eine andere Art von Heimat, die man in sich trägt und jederzeit lebendig sein lassen kann.
Dieses Buch ist kein Lehrbuch, es versammelt keinen Kodex. Einen "Küchen- und Feiertagsblick" wollte ich geben, in einen anderen Kulturkreis, der uns so fremd nicht ist, wenn man seine liebenswerten, duftenden, schmeckenden, fremdartigen und doch nicht unvertrauten Genüsse einmal erfahren hat und den Glanz seiner Feste. Kochrezepte sind Wegweiser zur Geschichte eines Volkes. Sie können Brücken sein zum gegenseitigen Verständnis.
Ich weiß von den Grenzen dieses Buches, wie sollte auch die Kultur von Jahrhunderten auf ein paar Seiten passen. Berlin und sein Scheunenviertel lebendig zu erhalten, gibt es viele Möglichkeiten. Dieses Buch ist eine Bescheidene, doch hat sie einen praktischen Erfahrungswert, der nachzuempfinden ist am eigenen Herd, in den Restaurants des Scheunenviertels, unter den Menschen, die in Berlin leben.
Um allen unterschiedlichen Schreibweisen gerecht zu werden, richtet sich dieses Buch nach dem "Neuen Lexikon des Judentums" (München 1992) und erhofft sich damit eine Verständigungsmitte. Die Zitate folgen der Schreibweise des jeweiligen Autors.
Zu danken ist lieben Freunden für Gedanken und Geschichten. Zu wünschen ist, dass dieses Buch dazu verführt, Kulinarisches und Kulturelles aufzunehmen, sich einfach daran zu erfreuen und den Blick für das Scheunenviertel in Berlin auf neue Weise zu erfahren.
K. L.
Sehnsucht nach Zeugnissen und die Erinnerungen an ein früheres Leben führen die alte Mara durch die grauen, wenig belebten, aber doch geschichtsbewegten Straßen des Scheunenviertels. Sie verlangt trostlosen, steinernen Zeugen, die sie wiederzuerkennen meint, Beweise ab, die so schnell nicht zu belegen sind. So bleibt es eher bei Wunschbildern, auf graues Berliner Pflaster projiziert.
Mara gehört zu jenem Typ kleiner Frauen, hinter deren Zartheit und Zerbrechlichkeit ihre Stärke und Kraft stecken. Sie ist unerbittlich im Suchen ihrer Vergangenheit, auch wenn es zuweilen mehr Schmerz, als Freude bereitet. Sie erkennt in den Häusern noch die winzigen, muffigen, feuchten Kellerläden. Sie kennt noch die "Mulackritze" in der Mulackstraße 15, das "Pritzkow", ältestes Kino in Berlin. Die Fleischerei an der Ecke Grenadier- und Hirtenstraße, vom Meier Silberberg die jüdische Leihbibliothek, die hebräische Buchhandlung in der Grenadierstraße, die Bäcker-, Obst- und Gemüsewagen, die Kleintierhandlung in der Hirtenstraße, in der doch vornehmlich Tauben in Käfigen auf Käufer warteten, die Lumpenhändler, die kleinen Kolonialwarenläden und das vegetarische Restaurant an der Neuen Schönhauser - ein Film läuft vor Maras Augen, der die Straßen, durch die sie geht, verwandelt, nahbar macht.
"Das Alter zwingt einen in die Spur", sagt sie. "Da gibt es fast eine Sucht nach dem Wunder der Erinnerung."
Mara guckt, erzählt, geht zu sich selbst, wo immer sie sich zu finden glaubt.
Vier Kinder hat sie dem Mann geboren, einfache Leute sind sie gewesen und doch reich genug, die Kinder groß werden zu lassen. Das Scheunenviertel war Heimat, hatte ihnen vier Wände und ein Dach geboten. Mara hatte getan, was zu tun von ihr erwartet wurde, und was sie als Mädchen gelernt hatte. Gelernt hatte durchs Zugucken, Zuhören, und von den Brüdern wusste sie die Vorschriften. Zu viel lernen verdirbt den Charakter, sagte die Mutter immer.
Kochen ist Maras Leben gewesen und ein wenig noch geblieben, obwohl die Kräfte den Töpfen und Pfannen, den Riten und Bräuchen, den Gesetzen und Wünschen nicht mehr so gewachsen sind. Sie kennt alles, was die strenge jüdische Küche ausmacht. Sie kennt die Speisen in "ihren Gewändern". Das will auch sozial verstanden sein, die armen oder die reichen Küchen, die strengen oder die vermischten.
"Damals", sagt Mara seufzend, "damals lerntest du zu kochen, den Haushalt zu führen, auf den Mann zu warten, den der Tate (der Vater) und der Schadchen (der Heiratsvermittler) anbrachten. Dann bekamst du Kinder, hast gekocht, den Haushalt geführt und wieder auf den Mann gewartet, der da irgendwo unterwegs war. Eine jüdische Frau ist doch etwas sehr anderes als ein jüdischer Mann. Das beginnt schon mit der Geburt. Ist es ein Sohn, scheint die Sonne, ist's eine Tochter, wird's dunkel, sagt man.
Freilich gab's später ein Fest in der Synagoge, der Vater durfte während des Gottesdienstes aus der Thora lesen und auf der Bimah (Plattform) stehen. War es ein Mädchen, dann bekam es hier seinen Namen. War es aber ein Junge, gab es ein extra Fest und ein Festessen, so üppig, wie man es sich eben leisten konnte, aber daran mochte man erkennen, wer hier das Leben bestimmt hat. Jedenfalls die Weltfragen, wie man so sagt; zu Hause - das ist etwas anderes! Da ist die Frau das Haus des Mannes. Wer sonst sollte ihm zur Seite stehen?"
Kochen war für Mara Pflicht und Kür, Sieg oder Niederlage, ihre schönste Möglichkeit, der Familie Liebe zu zeigen, aber auch Trost in der Eintönigkeit, der Einsamkeit eines Frauenlebens.