Читать книгу Dünenvagabunden - Katrin Maren Schulz - Страница 6

Оглавление

1. Viktoria. Anfang Januar.

Der Winter ist hart an der Nordseeküste. Mal wieder. Ich tue mich schwer, es zuzugeben, aber: das alte Backhaus, das ich mir zu meiner kleinen Behausung umgebaut habe, taugt nicht wirklich für den Winter. Es ist bitter kalt darin, zugig, die Winterstürme kriechen durch die Ritzen im Mauerwerk, und mein kleiner Kohleofen kommt dagegen nicht an. Er vermag die schlimmste Kälte zu mindern, aber er schafft es nicht zu wärmen, wenn draußen die Stürme toben.

Diese Stürme, die ich dennoch so sehr liebe. Sie pusten im Herbst das Alte weg, das, was sich im Laufe des Jahres angesammelt hat an Erlebnissen und Erschwernissen und Konflikten und Unbrauchbarem - sie pusten es einfach weg, stelle ich mir vor. Und sie machen so Platz für Neues, das im neuen Jahr auf mich wartet. Die Stürme machen das den ganzen Winter lang. Und sie peitschen die See auf, dass sie zu brüllen scheint und zu toben, sie brüllt zusammen mit dem Sturm gegen all das an, wovon sie im Sommer belagert wird. Sie tosen den Trubel hinweg, um wieder rein und frei zu werden für die nächste Saison. Sie stürmen sich frei vom Treiben der vielen Badegäste, Wattwanderer und Kitesurfer am Strand, die immer mehr werden hier. Ja, der Ort boomt, welch furchtbares Wort, erst recht für dieses wunderschöne Stück Land am Ende des Kontinents, das doch eigentlich so friedlich und still war so unendlich viele Jahrzehnte lang. Nun kommen sie alle und nehmen das Land ein, wollen bummeln im Ort und schlemmen am Strand. Also wird die Infrastruktur dort ausgebaut, wo ich sie nicht haben will: vor und hinter dem Deich.

Gegen all das tosen sie nun an den Herbst und Winter über, der Sturm und die See. Und der Sturm pustet mir den Kopf frei, er lässt mich wieder allein sein am Strand, weil dort kaum mehr jemand spazieren geht bei Böen von acht Beauforts.

Die See hat sich den Strand zurückerobert, ihre Wasseradern ausgedehnt gen Deich. Als würde es sich von hinten anpirschen, kommt das Wasser im Winter von seitlichen Prielen, die fast am Deich entlang zu laufen scheinen. Der Blick auf den Gezeitenkalender, und das Wissen um die Wege, die sich das Meer über den Strand bahnt, sind zu keiner Jahreszeit so lebens-notwendig wie im Winter.

Und bei meinen winterlichen Spaziergängen in dieser karstigen Prärie aus Sturm, Treibsand und überlaufenden Prielen muss ich an Marielou denken, und ihr so viel menschenfreundlicheres und verständnisvolleres Gemüt, als es das meine ist. Sie hätte mir wahrscheinlich widersprochen, mir und meiner Abneigung gegenüber den immer mehr werdenden Touristen. Und mir wird klar dabei, dass ich kein Recht habe zu urteilen über all jene, die immer mehr werden hier, und immer öfter und lieber an diesen Ort kommen. Auch ich gehöre doch zu ihnen, auch ich bin doch keine Einheimische, sondern eine Zugezogene. Ich habe eben ein einfaches, altes Backhaus auf einem abgeschiedenen, weitläufigen Gelände gewählt als Unterkunft, und kein Luxusappartement. Eine Zugezogene bin ich dennoch. Also steht es mir nicht zu, über sie zu urteilen, sie zu verurteilen, aber es fällt mir schwer. Vielleicht fordert es mich jedoch auch zu etwas auf, zu etwas heraus?

Ich werde meinen Lebensort nicht noch einmal verlagern, nein, das habe ich nicht vor. Ein zu harter Einschnitt in mein Leben war der Wechsel vom Stadtleben in mein einsiedlerisches Leben hier auf der Halbinsel Eiderstedt. Nun soll Ruhe sein, und Frieden, und ich hier bleiben.

Nur an der Dämmung meines Backhauses, an der muss ich arbeiten im kommenden Sommer. Noch solch einen Kältewinter mag mein Körper nicht mehr mitmachen, dafür ist er doch schon etwas zu alt.

Im nahenden Frühjahr wird sich mein Leben - für meine Verhältnisse - ganz wesentlich verändern. Marielou wird wieder ihre Auszeit hier verbringen, und ich möchte die lebhaften Gespräche, die wir im letzten Jahr begonnen haben miteinander zu führen, gerne fortsetzen. Und noch jemand wird Einzug in mein Leben halten: Kai aus Berlin, oder eigentlich aus überall und nirgendwo, denn seine letzten Jahre hat er damit verbracht, von Job zu Job und Surfspot zu Surfspot durch die Welt zu tingeln.

In etwas mehr als zwei Monaten schon wird er hier sein, er hat eine einfache Fahrt zu mir nach St. Peter-Ording gebucht. Bei seinen früheren Besuchen war immer auch die Rückfahrt schon mit dabei. Diesmal nicht. Ich habe keine Ahnung, was er vorhat. Aber ich habe die Geduld, darauf zu warten, bis er es mir erzählen wird.

Zwei Menschen werden also plötzlich in meinem Leben sein, das doch in den letzten Jahren absolut menschenarm war. Zwei Menschen, die ich mag. Die einzigen beiden Menschen, die ich mag.

Vor Jahren, als ich aus meinem alten Leben ausgestiegen bin, hatte ich mich dazu entschlossen, auch alle Kontakte zu kappen. Ich wollte mein altes soziales Umfeld nicht mehr um mich haben, weil es zu meinem alten Leben, zu alten Gedanken, zu alten Lebenseinstellungen gehörte, die ich allesamt beenden wollte. Denn mir wurde damals klar: es kann, unter den falschen Menschen, sich viel einsamer anfühlen als unter gar keinen Menschen.

Ich brauchte diese Jahre ohne menschliche Kontakte, dafür mit umso mehr Kontakten zur Natur. Denn in ihr spüre ich diese absolute Verlässlichkeit, die mir zuletzt bei den Menschen, ja auch bei sogenannten Freunden, fehlte.

Was also blieb, waren der Dünenwald, die Salzwiesen, Ebbe und Flut und das Watt und die See. Eben das vom Land, auf das der Mensch keinen Einfluss haben kann. Ich wollte eins sein mit dem, worauf kein Mensch Einfluss hat. Denn ich wollte, dass niemand Einfluss auf mich hat.

Und nun, mit Kai und Marielou, wird alles anders werden. Oder auch nicht, denn sie sind die einzigen, denen ich zutraue, dass sie wissen wie ich fühle, wer ich bin, und vor allem wie viel Abstand und Abgeschiedenheit ich brauche.

Vielleicht bin ich eine reinkarnierte Nixe, eine von denen, die ich am Ordinger Strand in den Dünen oft sehe. Denn dort sind die Dünen weich und rund wie Nixenleiber, die Fasern der Fischernetze ihr Haar. Stranddisteln darin mit ihren stacheligen Blättern halten den Menschen fern.

Nixenleiber, über sie hinweg treibt der Sturm den Sand. Sie räkeln sich und winden sich in der Sonne. Ich bin zu klein, um mich ihren Körperformen anzupassen. Zu klein, und vielleicht auch zu kantig. Darf ihnen nur zusehen bei ihrem Dasein, aus dem schützenden Dünengras heraus.

Ein Büschel ihres Haars hat sich an einem Pfosten verfangen. Ich weiß nicht, ob ich es befreien soll, oder ob es ein Symbol für sie ist. Welche Sprache sprechen sie? Ihre Laute sind wie ein Gurren in hohen, lieblichen Melodien. Verstehe sie nicht. Darf aber bei ihnen sein. Verstehe sie doch:

„Hab keine Angst“, gurren sie, „folge einfach unseren Fußspuren.“

Und ich folge den Fußspuren der Nixen.

Warum eigentlich sagen sie mir, ich solle keine Angst haben? Mir, die seit Jahren abgeschieden in ihrer Einsamkeit lebt - mir sagt jemand, ich brauche keine Angst zu haben?

Ich stapfe am Rande der Dünen entlang, Richtung Westerhever. Stapfe, fast wütend, pfff, ich und Angst!

„Und du hast sie doch“, flüstert es aus der Dünenlandschaft, in der ich die Nixenleiber sehe, heraus. „Du hast Angst vor den Menschen, das ist nicht gut für dich!“

Sie sprechen aus, was ich vor mir selbst verleugne. Ja, ich habe Angst vor anderen Menschen.

Diese Angst kam, als ich erkannt hatte, wie einengend und fern jeglichen Lebensflusses ich doch eigentlich dieses Städterleben finde, das fast nur aus Erwerbsarbeit bestand, und das ich viel zu lange geführt hatte, bevor ich daraus ausgestiegen bin. Damals begann diese Angst. Ich habe mich zurückgezogen, weil ich merkte: mein Umfeld passt nicht mehr zu mir.

Und vielleicht wissen die Nixen in den Dünen auch von dem anderen Problem, das ich in meinem Stadtleben zuletzt sich ins Unerträgliche steigernd hatte. Dieses Problem, das ich nicht wahrhaben wollte - das aber mein Körper mir in aller Deutlichkeit signalisiert hat, mich genötigt hat es wahrzunehmen, mich aufgefordert hat langsamer zu machen und mich abzuwenden von Trubel und vielen Menschen.

Denn da, wo viele Menschen sind, sind auch viele Geräusche. Natürlich. Es ist selbstverständlich.

Mein Körper konnte Geräuschkulissen und Lärm nicht mehr ertragen. Er wollte sie nicht mehr hören. Am Ende war es so schlimm, dass ich mir manchmal die Ohren zuhalten musste, wenn ich in der Stadt unterwegs war.

Wenn ich es mir eingestehe, überrollen mich Schauer der Angst und der Furcht. Es lähmt, dieses körperliche Symptom, dieses Signal, das der Körper aussendet, um den Geist zur Ruhe zu zwingen. Es lähmt, es macht gesellschaftsunfähig, es macht das alltägliche Leben oft unerträglich: von Alltagsgeräuschen überfordert zu sein. Und es wird noch schlimmer dadurch, dass diese Körpersignale als Krankheit kaum bekannt sind.

„Ich muss gehen, mir ist es hier zu laut“, habe ich einmal in einer fröhlichen Runde im Restaurant gesagt. Die meisten in der Runde haben gelacht. Sie haben mich ausgelacht, und mir faule Ausrede unterstellt. Dabei habe ich gelitten.

Ein anderes Mal bin ich geblieben, obwohl es mir zu laut war. Ich wollte es nicht wahrhaben, ich wollte weiter mittendrin sein in meinem gesellschaftlichen Umfeld.

Und in diesem Umfeld hat Geschirr geklappert und Kaffeemaschinen haben Bohnen gemahlen und Gläser haben geklirrt und Bier kam zischend aus dem Zapfhahn und Menschen haben gelacht und gekreischt und einander zugerufen, dazu lief Musik und Gespräche waren an allen Tischen, und Kellner nahmen Bestellungen auf und riefen sie Richtung Tresen … alles zugleich, alles drang ungefiltert in mein Gehör.

Ungefiltert, mit absoluter Präsenz.

Keine Fähigkeit mehr, etwas davon auszublenden.

Es gab in meiner Wahrnehmung nicht mehr das, was Hintergrundgeräusch genannt wird. Es gab nur noch eine riesige ungefilterte Geräuschkulisse, wie eine Lawine wälzte sie sich durch meine Gehörgänge, klirrend und schrill. Dazu, obendrein, das Gespräch das an meinem Tisch geführt wurde, und an dem ich krampfhaft versuchte teilzunehmen. Ich hörte es kaum, zu viel war das Drumherum.

Zu viel. Einfach zu viel.

Ich habe nicht auf meinen Körper gehört, in dem es geschrien hat: mir ist es hier zu laut, ich will raus! Ich habe diesen Körperschrei ignoriert. Mein Körper ist dann eigenständig der Situation entflohen, indem er mich in Ohnmacht hat fallen lassen.

Irgendwann in dieser Zeit ist mir im Buchhandel ein Buch über Tinnitus in die Hände gefallen. Darin wurde als Nebenerscheinung von Gehörproblemen die Hyperakusis genannt: das Krankheitsbild der übermäßigen Geräuschempfindlichkeit.

Keiner der fünf Ärzte, an die ich mich mit meinem Problem wandte, hatte es gekannt. Keiner der wenigen Freunde, denen ich mich anzuvertrauen versuchte, hatte nur einen Hauch von Verständnis. Alle sahen mich mit einem halb mitleidigen, halb spöttischen Blick an, als ob sie dächten: die spinnt, und redet sich ihre Symptome nur ein!

Ich fühlte mich wie eine Aussätzige.

Was blieb, zusammen mit den Erkenntnissen darüber, mein altes Leben nicht mehr führen zu wollen, war der Rückzug in die totale Stille.

Hier, in den Dünen, ist die Stille am intensivsten. Hier ist es so still, dass die Stille fast schon spürbar ist. So wie Sonnenenergie im Sommer in der Stadt durch ihr Abstrahlen von Häuserwänden spürbar ist, so ist Stille in den Dünen spürbar.

Fast greifbare Stille.

Ich halte sie in den Händen und ehre sie. Ich sauge sie in mir auf. Endlich ist Frieden in mir, hier in den Dünen. Das Gehör ist entspannt, und mit ihm mein ganzer Körper.

Ich begann über mich und mein Leben zu reflektieren und lernte schnell, sowohl meine Gedanken, als auch die Hyperakusis, zu verschweigen, denn die anderen verstanden mich nicht. Zu sehr gefangen waren sie in ihrer Projektarbeit und ihrem Leistungsstreben, im Geld verdienen und wieder ausgeben. Effizienz, Effizienz, war ihr Sehnsuchtswort, aber nicht mehr meines. Sie wollten alle mehr und mehr und höher und schneller und weiter kommen, ganz weit, in ihren sogenannten Karrieren.

„Ich will glücklich sein, ausgeglichen und zufrieden, ich will Dankbarkeit empfinden an jedem einzelnen Tag“, habe ich einmal, es war das letzte Treffen mit meinen alten Freunden, gewagt zu sagen.

Es folgte schallendes Gelächter. Nicht, weil sie das lustig fanden, nein. Sie haben mich ausgelacht.

„Dann verdiene mal noch ein bisschen, dann kannst du das im Ruhestand haben“, grienten sie, als hätte ich einen unerreichbaren, vermessenen Wunsch geäußert.

Habe ich vielleicht auch, aus ihrer Lebensansicht heraus, die lange Zeit auch meine war. Wie soll ich ausgeglichen, zufrieden und jedem Moment gegenüber dankbar leben, wenn ich weder mein Leben noch den Moment wahrnehmen kann - vor lauter Arbeit und Projekten und Trends, denen es galt hinterher zu rennen und mitzuspielen, wollte man wer sein.

Sie waren gefangen in ihrem Arbeits- und Konsumwahn, und ich mittendrin. Aber ich war dabei, es zu merken, und mein Körper assistierte mir dabei, indem er mein altes Leben nicht mehr hören wollte. Und so war ich plötzlich und ganz schnell dabei, meinen Ausstieg aus diesem Strudel zu planen.

Den Ausstieg aus dem Strudel des immer-weiter, immer-besser, immer-mehr habe ich geschafft. Den Wiedereinstieg in normales Hören-Können nicht.

Was ich auch nicht geschafft habe, war, gleichgesinnte Menschen zu finden, mit denen ich den neuen Weg gemeinsam gehen könnte. So blieb ich allein auf meinem Weg der Rückbesinnung auf ein einfaches, aber glückliches Leben und dem Bedürfnis nach Stille.

Seither habe ich in der Tat noch eine einzige Angst: die vor anderen Menschen, und den vielen Geräuschen, die durch ihre Anwesenheit entstehen könnten.

Ich habe Angst davor, dass sie nicht so denken und fühlen und hören wie ich. Das könnte ich aber nur herausfinden, wenn ich mit ihnen sprechen würde. Und genau das traue ich mich nicht.

Nur Kai, der blieb, über all die einsamen Jahre hinweg, ein vertrauter Mensch für mich. Leider konnten wir uns bislang nur einmal im Jahr sehen.

Auch Kai hat sich, schon lange, aus diesem Kreislauf des Arbeitens und Konsumierens befreit. Falsch - er hat ihn an seinen Eltern und erwachsenem Umfeld beobachtet, schon als er ein Kind war. Und dabei wurde ihm klar, dass er in das, was er damals als normales Erwachsenenleben kennenlernte, überhaupt erst nie einsteigen würde.

Vielleicht hat er es leichter, weil er ein ganzes Stück jünger ist als ich. Vielleicht auch, weil er nie wirklich drin war in diesen Welten, die offensichtlich eine immense Anziehung auf den Menschen ausüben: die Faszination der Warenwelt, und die Faszination der Arbeitswelt. Sie geben Status und Selbstbewusstsein, meint der Mensch. Und er kauft sich mit den Waren die Hoffnung auf ein zufriedenes Leben, das ihm die Werbung damit verspricht.

Status und Selbstbewusstsein. Beides sind Werte, die in der Realität nur von innen heraus bedient werden können. Kaufen kann man sie nicht. In anderen Welten, am Strand, unter anderen Menschen, ist dieser Status meist rein gar nichts mehr wert. Dann hat nur noch das Innere Wert. Und das Innere wächst nicht durch Konsum.

Wenn ich auf mein altes Leben zurückblicke, dann graut mir vor der Erinnerung, wie vieles ich doch ganz einfach deshalb gekauft habe, weil ich es kaufen konnte! Nicht, weil ich es wirklich brauchte.

Was ich übersehen habe dabei ist, dass ich mir auch hätte Zeit kaufen können - ganz einfach dadurch, dass ich meine Arbeitszeit reduziert hätte. Das ist der Weg, den Marielou geht. Sie hat mir im letzten Sommer davon erzählt, bei unserem ersten abendlichen Gespräch im Strandkorb.

Diese beiden Menschen, die da sind in meinem Leben. Ich merke, wie gerührt ich bin, wenn ich an sie denke. Jeder dieser beiden geht auch andere Wege, so wie ich. Wir alle drei haben jeweils unterschiedliche, eigene Wege für uns gefunden, oder sind noch dabei, sie zu entwickeln.

Das einzige, wofür Kai wirklich Geld braucht, ist das Surfen. Aber mit Gelegenheitsjobs ist das schnell verdient.

Ich habe ihn kennengelernt auf einer superschicken Party in Hamburg, bei einer Arbeitskollegin, er war, und ist, ihr Cousin. Er fiel mir gleich auf, denn er passte optisch so gar nicht in diese Partyrunde in edlen Cocktailkleidchen und eleganten Sakkos. Nein, er passte da wirklich nicht rein, in seinen verbeulten Jeans und seinem Surfer-Shirt, mit sonnenverbrannter Nase und zerzausten Haaren. Er fiel auf, nicht nur mir.

Aber den anderen fiel er optisch auf, und ihren Blicken nach zu urteilen fiel er ihnen mit seinem Äußeren auch negativ auf. Ich empfand sein Äußeres als eine Wohltat, es war schon in der Zeit, in der ich mein damaliges Leben begann, in Frage zu stellen. An der Bar kamen wir ins Gespräch, weil wir beide gerne ein bodenständiges Bier gehabt hätten, aber nur die Wahl hatten zwischen Champagner und Cocktails. Mit unseren Champagnergläsern haben wir uns an den Rand dieser Gesellschaft verzogen, an die Brüstung der riesigen Dachterrasse mit Blick auf das nächtliche Hamburg.

„Na, fühlen Sie sich unwohl in dieser Gesellschaft hier?“ fragte mich Kai augenzwinkernd.

Erschrocken gab ich zurück: „Wieso, sieht man mir das etwa an?“

Er lachte leise, schwieg, und blickte nicht mehr mich an, sondern die abendliche Stadt, die halb vor, halb unter uns lag.

Schweigen.

Es war mir zunächst unangenehm. Was denken die anderen, die uns hier stehen sehen?

Die anderen, die anderen, was denken die anderen. Das, zumindest, habe ich inzwischen nun wirklich abgelegt.

Es müssen viele Minuten vergangen sein, bis ich mich traute, etwas auszusprechen, was mir genau in diesen Minuten überhaupt erst klar geworden war. Und ich sprach es aus gegenüber diesem mir eigentlich wildfremden jungen Mann, von dem ich lediglich wusste, dass er der Cousin der Gastgeberin war:

„Ich fühle mich nicht nur unwohl in dieser Gesellschaft hier, ich fühle mich unwohl in mir selbst und in meinem Leben.“

Hätte er mir sofort geantwortet, hätte ich seine Antwort wahrscheinlich für ein beschwichtigendes Herausreden gehalten. Aber er ließ sich Zeit, und mich nervös werden. Hatte ich mich nun vollkommen vor diesem Mann blamiert, der eindeutig einer jüngeren Generation angehört, die vieles viel lockerer sieht als ich?

Nein, hatte ich nicht, wie ich aus seiner Antwort, die Minuten später kam, heraushörte:

„Ich vermute, Ihr Leben sieht schon seit einigen Jahren so aus, wie es hier auf dieser Party aussieht. Schick, aber oberflächlich. Turbulent, aber sinnlos. Allem hier fehlt jeglicher Tiefgang, oder Inhalt, so ein Inhalt, der den Gedanken ‚wow - das hier ist mein Leben‘ auslöst.“

Er machte eine kurze Pause. Auf der nächtlichen Elbe zog ein Partyschiff vorbei, voller tanzender Menschen und bunter Lampions. Sie wirkten fröhlich und ausgelassen - das genaue Gegenteil von meiner Stimmung. Endlich sprach Kai weiter:

„Was kann ich für dich tun? Soll ich dir ein anderes Leben zeigen?“

Das war der Moment, in dem wir vom Sie zum Du gewechselt waren, er hatte das scheinbar mal eben so entschieden. Und das war der Moment, in dem ich Kai ins Herz schloss.

„Ja“, antwortete ich, gar nicht wissend, worauf sich dieses Ja eigentlich bezog.

Ich wusste nur, dass etwas geschehen muss, ganz schnell, jetzt und hier auf dieser unausstehlichen Party, und binnen weniger Wochen in meinem Leben im Ganzen. Ich wusste, dass ich einen Impuls von außen dafür brauchte. Und ich sah in Kai genau den Menschen, der mir diesen Impuls geben könnte.

So war es auch: er nahm mich an der Hand, und führte mich am Rand dieser riesigen Terrasse an fast allen Menschen vorbei, vor allem an denen, die diese gefürchtete Frage fragen könnten, die ich so hasste:

„Wie, du gehst doch nicht etwa schon?“

Sie kam nicht, diese Frage, weil Kai sie mit mir im Schlepptau alle umschiffte: die anderen, mitsamt ihrer blöden Frage.

Als wir auf der Straße standen, ließ er meine Hand los, und ging schnurstracks Richtung Elbufer. Ich hinterher - was sollte ich sonst tun?

Es war noch dunkel, aber hinter uns, sehr tiefstehend noch, zeigte die Sonne ihren ersten feinen zartgelben Schimmer am Himmel. Bald würde sie über der Stadt erscheinen und einen neuen Tag werden lassen.

Wir waren inzwischen an der Hafenstraße angelangt, Kai steuerte die Landungsbrücken an. Auf einer Mauer saß eine Gruppe jugendlicher Partygänger, kreischend mit irgendwelchen trendigen Flachmännern anstoßend. Wir ließen sie und ihren Radau hinter uns.

Die Landungsbrücken schienen noch zu schlafen. Selbst die Möwen flogen noch nicht, sondern dösten auf Geländern und Relings der Ausflugsdampfer vor sich hin.

Auf einer Bank, hoch oben auf einer der Elb ufer-Plattformen, ließ Kai sich nieder. Aus seiner Jackentasche kamen zwei Flaschen Bier zum Vorschein, er muss sie gekauft haben, als er auf unserem Weg kurz in einem Kiosk verschwunden war. Er gab mir eine davon. Seit wir von der Party aufgebrochen waren, hatte er kein einziges Wort mehr zu mir gesagt. Jetzt, als er mir ein Bier gab, hatte ich zumindest wieder die Gewissheit, dass ich für ihn überhaupt noch existierte.

Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen beschienen unsere Gesichter von links, und tauchten das Elbwasser in Gelbgold. Es roch frisch und klar und rein.

„Hier hast du noch nie einen neuen Tag begrüßt, oder?“ war das erste, was Kai nach langem Schweigen zu mir sagte.

„Nein. Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, jemals einen neuen Tag begrüßt zu haben. Erst recht nicht hier, an den Landungsbrücken, und schon gar nicht mit einem Bier in der Hand“, musste ich nach einigen Momenten des Suchens in meiner Vergangenheit gestehen.

„Einen neuen Tag zu begrüßen, ist, wie sein Leben zu begrüßen, mit all dem, was es einem zu bieten hat“, sinnierte Kai. „Ich begrüße jeden Tag bewusst.“

Es gab nichts mehr, was ich zu sagen gehabt hätte. Ich fühlte mich miserabel, ertappt, bloßgestellt als eine, die ihr Leben achtlos an sich vorüberziehen lässt. Mir war absolut klar, was Kai mir zeigen wollte mit diesem frühmorgendlichen Ausflug an die Landungsbrücken. Mit dem bloßen Dasein an diesem Ort zu dieser Zeit hat er mir das gezeigt, was er kurz zuvor auf der Party in seiner Frage, ob er mir ein anderes Leben zeigen solle, gemeint hatte.

In diesem Moment sah ich zum ersten Mal ein anderes Leben. Nein, ich sah es nicht wirklich. Ich bekam vielmehr eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen könnte. Was ich dafür tun musste, damit es sich dauerhaft so wertvoll anfühlen würde wie in diesem Moment, das war mir noch völlig unklar.

Inzwischen war die Sonne in ihrer vollendeten runden Fülle am Horizont erschienen, wie ein glühender Ball lag sie auf der Himmelskante. Wir sahen beide hin. Dann sah Kai mich an:

„Dein Leben allerdings steht nicht mehr im Sonnenaufgang. Willst du verbrennen im Zenit, oder aufblühen?“

Ziemlich harte Worte von so einem Endzwanziger in verbeulten Jeans an eine gestandene Karrierefrau. Aber ich wusste, dass dies genau die Frage war, die ich zu dieser Zeit für mein weiteres Leben brauchte. Er kramte einen verknitterten Zettel aus seiner Hosentasche, und einen Kugelschreiber, und schrieb mir seine Telefonnummer auf.

„Melde dich, wenn du dein Leben aufgeräumt hast.“

Ein leichtes, warmes Lächeln. Ein tiefer, fester Blick in die Augen. Dann stand er auf, hauchte eine Kusshand in die Luft und ging.

Der nächste Tag war der, an dem ich bemerkte, dass mir meine eigene Wohnungseinrichtung fremd war. Und an dem ich die Richtung meines Lebens entschieden änderte.

Bald ist das drei Jahre her. Ich lebe gerade tatsächlich bereits den dritten Winter in meiner zu kalten und eigentlich provisorischen Behausung.

Die Nixen haben mich eingestehen lassen, dass ich Angst vor Menschen habe. Eine Angst, die mich lähmt. Lähmt inmitten dieses vagabundierenden Lebens, das so unglaublich freiheitlich scheinen mag. Scheint. Angst vor anderen Menschen zu haben ist keine Freiheit - es ist ein Zustand, der lähmt, der befangen macht, der gefangen macht in der eigenen Isolation.

Es ist die Zeit der Raunächte, diese zwölf Tage, die so kurz sind, dass sie als Nächte bezeichnet werden, zwischen Heilig Abend und dem fünften Januar. In diesen Nächten schlafe ich kaum. Ich wache durch die Nacht, ich beobachte die Nacht, ich lausche in ihre Dunkelheit und Stille und höre ihr zu. Es ist diese Zeit, in der das Unterdrückte - das man nicht sehen will im eigenen Leben, was man nicht wahrhaben will, weil es zu ändern so mühevoll wäre, oder die Änderung zu schwer scheint - in der all dieses Unterdrückte herauskommt. Ob der Mensch will oder nicht: es äußert sich, sagt „Hallo, ich bin es, deine Baustelle, die du nicht sehen willst, an die du aber ran musst“.

Immerhin habe ich es geschafft, auf Marielou zuzugehen im letzten Sommer. Ich weiß nicht wohin es mich führen wird, dass ich sie nun kenne, und dass ich sie in mein Leben habe eintreten lassen. Aber ich weiß, dass ich mich darauf einlassen werde, mir anzuhören, was sie mir mitzugeben hat für mein weiteres Leben.

Manchmal wirkt sie so naiv, so gutgläubig, so schönredend. Dann mag ich sie schütteln und schreien „du redest dir dein Leben schön, dabei ist es doch eine Notlösung, ein Provisorium, ein goldener Käfig.“

Und wenn ich das denke, bleibt es mir im Halse stecken, denn ich merke: ist das mein eigenes Leben nicht auch? Eben kein goldener Käfig, sondern mit blätterndem, falschen Gold verzierte Freiheit?

Mir ist kalt in meinem zugigen Backhaus. Ich muss mich im kommenden Jahr um eine neue Unterkunft kümmern.

Mir ist kalt, so fast gänzlich ohne andere Menschen. Ich muss mich im nächsten Jahr um Freundschaften kümmern.

Mir ist einsam, solange ich mich nur der Stille öffne. Ich muss mich um die Heilung meiner Hyperakusis kümmern.

Ich weiß, wie es geht, das habe ich in dem Buch gelesen. Aber ich traue mich nicht. Der Weg heißt: langsame Wiedereingewöhnung in die Welt der Alltagsgeräusche. Aber das bedeutet, mich ihnen wieder auszuliefern. Ja, ich empfinde es als ein Mich-Ausliefern, das, was für andere einfach normaler Alltag ist.

Ich habe solche Angst davor.

Angst, es doch nicht zu ertragen, es doch nicht hören zu können. Gehen zu müssen, fliehen zu müssen. Es ist dann wie ein Zwang zur Flucht vor Geselligkeit und Miteinander und menschlichen Kontakten. Bevor mein Körper mich wieder dazu zwingt, meide ich sie lieber von vorneherein. Es tut einfach zu sehr weh in der Seele, wenn der Körper mittels seines Gehörs fordert: fliehe!

Es ist, als hätte ich keine Bestimmungskraft mehr über mich selbst, sondern mein Gehör über den ganzen Rest, inklusive dessen, was ich doch eigentlich Ich nenne. Dieses Ich hat nichts mehr zu melden, nur noch das Gehör mit seiner unerträglichen Überempfindlichkeit bestimmt darüber, wo ich sein darf, und wo nicht. Es quält mich, ich fühle mich meinem Gehör ausgeliefert.

Also ist dies nun meine nächste Aufgabe, das wird mir in diesem kalten, einsamen Winter bewusst. Die Aufgabe lautet: versöhn e dich mit deinem Gehör.

Wir sollen wieder zusammengehören, mein Gehör und ich. Zusammen-gehören.

Auch für Kai scheint diese Zeit der Raunächte intensiv zu sein. Wie sonst kommt er auf die Idee, eine einfache Fahrt zu mir zu buchen? Möchte auch er seinem Leben eine neue Richtung geben?

Es beruhigt mich, dass er kommt. Zum ersten Mal seit Jahren verspüre ich eine Freude darüber, mit jemandem zusammen an meinem Leben zu arbeiten, und vielleicht werden wir auch zusammen an unser beider Leben arbeiten. Es wäre schön.

Zu zweit denkt es sich manchmal leichter über das Leben nach, als allein. Denn manchmal braucht es andere Menschen, die einem die richtigen Fragen stellen, damit man sich weiterentwickeln kann.

Nach Jahren der fast totalen Einsamkeit merke ich, dass Fragen etwas sind, was mir fehlt. Tiefgehende, ernste Fragen von Menschen, die mir zugehört haben, bevor sie mir eine Frage stellen. Dann nämlich geht so manche Frage sehr tief. Und dann bewegt sie etwas. Und ich möchte, dass sich etwas bewegt in meinem Leben. So wie Kai sich das vielleicht auch für sein Leben wünscht.

Dünenvagabunden

Подняться наверх