Читать книгу Dünenvagabunden - Katrin Maren Schulz - Страница 7
Оглавление2. Marielou. Im Februar.
Seit langem einmal wieder habe ich Kai auf der Straße gesehen, als ich gerade einkaufen war. Er schien absichtlich weggesehen zu haben. Ich habe es so sein lassen.
Wir haben uns schon fast ein Jahr lang nicht mehr gesprochen, seit damals, als ich ihm von meiner geplanten Auszeit an der Nordsee erzählt hatte. An diesem lauschigen frühsommerlichen Abend am Boxhagener Platz in Berlin-Friedrichshain war das, als wir vor dem Spätkauf saßen, in dem er damals gearbeitet hat. Es war so nah plötzlich, dieses Vertrauen begann zu entstehen, dieses Vertrauen des voneinander-Wissens, des einander-Verstehens. Und dann, von einem Tag auf den anderen, war er weg, irgendwohin verschwunden, zum Surfen wahrscheinlich.
Vorhin hat er weggesehen. Warum? Haben wir uns nichts mehr zu sagen?
Nein, so fühlt sich das nicht an. Vielleicht hätten wir uns einfach zu viel zu sagen. Zu viel für das, was in unsere jeweiligen Leben passen könnte. Wir haben keinen Platz füreinander.
Eigenartigerweise habe ich ihn oft genau dann zufällig in unserem Kiez gesehen, wenn ich gerade von der Nordsee zurückgekehrt bin. Zuletzt war das im vergangenen Herbst. Da musste ich noch einmal hin, obwohl ich meine Auszeit im Mai und Juni dort hatte, und zwei Wochen im Sommer. Diese viele Zeit im Norden war mir nicht genug, ich war noch immer hungrig nach diesem Leben an der Küste. Also mussten es auch noch ein paar Tage im Herbst sein, im bunten Laub der Dünenwälder und im Herbststurm am Strand, an der See.
Ich hätte es nicht ertragen, in den Winter zu gehen, ohne sie noch einmal gesehen, gerochen, gefühlt zu haben.
Seither ist fast ein halbes Jahr vergangen.
Nichts scheint mehr zu funktionieren in meinem Berlinleben inzwischen. Dabei war nach der Auszeit alles gut. Ich schien glücklich mit dem mir erschaffenen Leben des Pendelns zwischen Stadt und Land, Berlin und St. Peter-Ording.
Ich schien es zu sein.
Alles Lüge? Alles mir zurechtgebogene Wahrnehmung? Alles aus Angst, zu viel verändern zu müssen in meinem Leben?
Alles Ausreden, vor mir selbst? Ausreden dafür, mein Leben nicht in seiner Gänze leben zu müssen?
Feigling, ich.
Es klang noch so gut, was ich dachte nach meiner Rückkehr. Voller Stolz, Freude und innerer Ruhe habe ich da behauptet, dass ich in der Tat neu geworden wäre. Anders aufgestellt, das innere Team von Interessenbekundern, Schwerpunktsetzern, Pläneschmiedern, Erhobene-Zeigefinger-Winkern, subjektiver Zensoren, Aber’s, Ja’s, Nein’s - als hätten sie eine neue Zusammensetzung und Aufstellung. Die Griesgrämigen und Negativen unter ihnen standen ganz hinten an und hatten nichts mehr zu melden. Die Lustvollen, Positiven unter ihnen standen vorn, und bestimmten den Tag. Ich fühlte mich authentisch, ein absolutes Ich.
Inzwischen ist ein halbes Jahr voller Großstadt und Büroarbeit vergangen. Die Sicherheit und Authentizität, mit der ich zurückgekehrt bin im letzten Jahr, ist verflogen. Ganz langsam, Monat für Monat, hat sich die Unsicherheit eingeschlichen, und hat die Sicherheit verdrängt, die ich in meinem Leben gefunden zu haben schien.
Woran liegt das? Am Ort, am Tun, an beidem? Am jeweiligen Umfeld, am fehlenden Alleinsein?
Wäre ich im Norden immer so - so friedlich, ausgeglichen, authentisch - wenn ich immer dort lebte? Egal was ich dabei tun würde?
Also wieder einmal, oder noch immer, die Frage: liegt das friedliche, authentische Dasein am Tun, oder am Ort? Oder gar am Wechselspiel aus allen Möglichkeiten?
Die Fragen und Gedanken verstopfen mir den Kopf.
Nachdem ich meine Einkäufe in der Küche verstaut habe, ziehe ich die Trainingsklamotten an, schnüre die Laufschuhe, und renne los.
Das habe ich im letzten Jahr gelernt: es hilft, wenn ich mich freirenne. Meinen Kopf leerrenne.
Es ist noch kalt, der Februarwind pfeift mir entgegen. Ich laufe durch kleine Seitenstraßen in Richtung Spree. Am Treptower Hafen liegen ein paar Ausflugsdampfer im Winterschlaf. Die letzten Eisschollen, Reste der Kälte der vergangenen Wochen, treiben auf dem Fluss. Mein Atem wirft neblige Wölkchen vor mir her, die Schuhe knirschen in gleichmäßigem Rhythmus über den sandig-erdigen Uferweg.
Es ist Schwachsinn, was ich da vorhin verkorkst und verknotet gedacht habe. Der Winter hat ganz einfach ein Ungleichgewicht in mein Berlin-Nordsee-Pendlerleben gebracht. Aber der Winter geht gerade zu Ende, und die nächste Auszeit naht. Und was für eine!
Die Umstände sind ganz andere als im vergangenen Jahr. Die Umstände sind eigentlich fantastisch, paradiesisch für mich. Nicht eigentlich. Sie sind es.
Im Herbst nach meiner Auszeit im letzten Jahr habe ich mich mit Frau Martens getroffen, der Besitzerin des liebreizenden Häuschens auf Eiderstedt, in dem ich gelebt hatte. Wir wollten beide voneinander wissen, wie es uns ergangen ist: ihr damit, dass sie ihr Haus für zwei Monate vermietet hatte - mir damit, in ihrem Haus zwei Monate lang gelebt zu haben.
Wir haben uns gegenseitig gespannt zugehört. Jede von uns gibt dem Haus einen eigenen Charakter, belebt und beseelt es anders. Aber jede von uns scheint wiederum vom Haus das Gleiche zu empfangen: Geborgenheit, Nestwärme und fast schon spirituellen Schutz. Als läge ein Segen auf diesem Haus, ein ganz spezieller, ein Segen für uns beide, für Frau Martens und mich.
Frau Martens hat meine Liebe zu ihrem Haus deutlich gespürt. Und sie mag es, wenn Gäste in ihrem Haus sind, die es achten, schätzen, und respektvoll mit ihm umgehen.
Sie dachte über etwas nach, das spürte ich, als wir im Café in Berlin saßen und in unseren Milchkaffees rührten. Dann sprach sie es aus:
„Im nächsten Jahr werde ich hauptsächlich bei meinem Sohn in Dänemark leben, und daher nicht in meinem Haus auf Eiderstedt sein. Ich wäre beruhigt, wenn Sie öfter dort sein könnten. Zum einen ist es dann bewohnt, das ist wichtig für ein Haus, und zum anderen wäre jemand da, der ein bisschen nach dem Rechten sieht. Ich habe zwar Hinrich, Sie kennen ihn ja, der mein Haus während meiner Abwesenheit betreut, aber ich möchte ihm diese Aufgabe nicht ein ganzes Jahr lang zumuten. Zumal es ja auch den Garten gibt, der ein bisschen gepflegt werden muss.“
Es gibt diese Momente im Leben, in denen alles klar ist. In denen zwar der Verstand weiß, dass da gerade eine recht große Entscheidung ansteht, eine Entscheidung, die Zuverlässigkeit und Verantwortungsbereitschaft verlangt. In denen aber zugleich der Bauch so laut, klar und deutlich „Ja“ sagt, dass er damit in einem solchen Moment die Entscheidung schon getroffen hat.
Mir ging es so in diesem Moment: mir war klar, dass dies eine Schicksalsfügung ist, zu der ich nichts anderes als „Ja“ sagen kann. Und als ich das tat, breitete sich auch auf Frau Martens Gesicht ein entspanntes, zufriedenes Lächeln aus, und sie nickte mir zu:
„Nun bin ich beruhigt, die Frage nach der Hausbetreuung während meiner Abwesenheit hat mich lange beschäftigt. Dass ich auf Sie aber nicht schon viel früher gekommen bin, sondern erst gerade jetzt?“
„Manchmal muss man einfach gemeinsam über die Dinge sprechen, die einen beschäftigen oder Sorgen bereiten, dann kommen die Antworten plötzlich, als würden sie vom Himmel fallen“, strahlte ich sie an.
Das ist nun ein halbes Jahr her. Wir haben uns auf für beide stimmige Konditionen geeinigt, Frau Martens und ich, und so bin ich nun so etwas wie eine Hausbetreuerin für ein Jahr. Ich werde es für zwei bis drei Monate im Frühling bewohnen, bis in den Sommeranfang hinein, und im Rest des Jahres kürzere Aufenthalte dort verbringen, sobald ich mich in Berlin ein paar Tage ausklinken werde können. Im Sommer haben sich ein paar Stammgäste eingemietet, solange sieht Hinrich nach dem Haus, und ich verdiene in Berlin mein Geld.
So ist das nun ein auf seine ganz eigene Art und Weise wahrgewordener Traum: ich habe, zumindest in diesem Jahr, eine feste Unterkunft in meinem Lieblingsküstenland.
Ich bin am Wendepunkt meiner Laufstrecke angelangt, der Plattform am Uferweg, deren Geländer sich hervorragend für Dehnübungen eignet. Das Wasser der Spree unter mir kräuselt sich im Wind, ein paar Enten kommen angeschwommen in der Hoffnung, ich sei ein Mensch, der ihnen Futter ins Wasser fallen lässt. „Mäck mäck“ schnattere ich ihnen zurück, es gibt nichts für euch, ihr müsst durchhalten wie ich.
Ich muss einfach noch diese zwei Monate durchhalten in Berlin, dann wird der Frieden wieder einkehren in mich. Und wenn ich mir das bewusst mache, dann tut er das schon jetzt: sich ausbreiten in mir.
Es ist eben, wenn ich zu lange nur in Berlin lebe, als würde meine innere Klarheit aus meinem Nordleben erstickt.
Es ist eben so.
„Mach dir nicht so viele unnötige Gedanken. Alles kommt so, wie es gut für dich ist, und zwar dann, wenn die Zeit reif dafür ist.“
Wer hat das jetzt gesagt? Viktoria, die 450 Kilometer entfernt ist, oder eine Stimme in mir?
Manchmal mag ich das ja gerne glauben, dieses Ding mit der Zeit, die reif ist oder auch noch nicht reif ist für die Erfüllung von Wünschen. Und ein anderes manches Mal macht mich diese mir dann zu esoterisch anmutende Haltung bockig: dann will ich jetzt, sofort, und zwar alles. Nützt aber meist auch nichts.
„Mach dich doch endlich frei von deinen Grübeleien und deinen Ängsten!“
Offensichtlich spricht Viktoria wirklich telepathisch mit mir. Lasse ich mich nun nicht davon irritieren, sondern nehme es an.
Viktoria!
Den ganzen Rückweg entlang sind meine Gedanken bei ihr.
Im letzten Jahr, gegen Ende meiner Auszeit in St. Peter-Ording, habe ich sie endlich kennengelernt; die Frau, die ich die Vagabundin genannt hatte, solange ich sie nur vom Sehen kannte. Viel Zeit hatten wir nicht mehr miteinander, aber immerhin zwei Begegnungen, in denen die Gespräche tief und ernst waren und die gegenseitige Mitteilung offen und direkt.
Ich erinnere mich gut an ein Gespräch, das wir abends im Strandkorb geführt hatten, in dieser letzten Zeit die uns blieb, bevor ich abgereist bin, zurück in mein Städterleben. Genau das war es, wozu mir Viktoria Löcher in den Bauch gefragt hat: warum ich mich für dieses Pendler-Leben entschieden habe, und nicht für ein komplettes Leben an der Küste, so wie sie.
„Erkläre mir dein Pendeln, so dass ich es wirklich verstehen kann. Ansonsten unterstelle ich dir Unentschlossenheit und Ängstlichkeit vor deinen wahren Bedürfnissen“, hatte Viktoria mich in der ihr eigenen Radikalität aufgefordert.
Ich mag diese Radikalität. Denn ich weiß, dass Viktoria mich damit nicht verletzen oder quälen will, nein. Sie will mich auffordern, meine Wahrheit für mich zu finden. Und weil sie ahnt, dass ich diese bereits gefunden habe, fordert sie mich auf, meine Wahrheit in deutliche Worte zu fassen.
Ich mag Wachrüttler. Ich mag Menschen, die reflektieren und Reflektion fordern. Ich mag eigeninitiative und selbstreflektierte Menschen. Vermutlich habe ich Eigenschaften eines solchen Menschen, sonst würde ich mein Leben nicht so führen, wie ich es führe. Meine Lebensführung, meine Gedanken, meine Erkenntnisse bergen keine abschließende Weisheit in sich, und nicht die absolute Wahrheit, natürlich nicht. Denn ich bin auf einem Weg, so wie jeder auf seinem ganz eigenen Weg ist, mit den eigenen kleinen und großen Schritten, im eigenen Tempo, für das es keine Bewertung von langsam oder schnell, gut oder schlecht gibt.
Ja, unser Gespräch im vergangenen Jahr, es hat mich gezwungen, klare Worte zu finden über meine Ansichten des Lebens, meiner Art zu leben. Viktoria hat mich gezwungen, und das war gut so. Es hat mich bekräftigt.
Im Laufe der Auszeit war mir vieles klargeworden in Bezug auf meine Lebensweise, der Frage nach Stadt- oder Landleben. Ich habe versucht, ihr meine damals neugewonnene Sicht zu beschreiben:
„Weißt du, Viktoria, in der Art, ein Leben zu führen und zu gestalten sehe ich kein gut oder schlecht, sondern unzählige Möglichkeiten dazwischen. In allen Lebensbereichen. Das Leben birgt solch eine Vielfältigkeit. Und ich meine, unsere große Chance - und übrigens auch unser Glück - liegt darin, diese Vielfältigkeit auskosten zu dürfen. Und so muss auch für einen Lebensraum nicht gelten: dieser oder jener, Stadt oder Land. Nein. Denn du kannst immer ein oder durch ein und ersetzen. Und genau das habe ich getan, weil ich beide meine Leben liebe, wie sie sind: das kleine, kürzere Leben, das ich hier auf der Halbinsel Eiderstedt führe, und das größere, längere Leben, das ich in der Stadt führe. Es sind wechselnde Lebensphasen innerhalb meines Jahres, die ich beide brauche. Und ich lebe in dem Luxus, beide ausleben zu können - warum also sollte ich mich für eine allein entscheiden müssen?“
Viktoria wäre nicht sie selbst, wenn sie dazu nicht ihre Zweifel kundgetan hätte:
„Nun gut, ich kenne dich in Berlin nicht. Aber was ich sehe, wenn ich dich hier sehe, ist, dass du aufzublühen scheinst und echter zu werden hier, je länger du da bist! Und das erinnert mich einfach allzu sehr an mich, und an mein Empfinden früher, wenn ich aus der Stadt an die Küste kam …“
An dieser Stelle hielt sie inne, und eine Woge von Erinnerungen schien sie zu ergreifen.
Sie malte gedankenversunken mit ihren Zehen Wellen im Zickzack in den Sand vor unserem Strandkorb, als seien die Wellen ihre Erinnerungen, bis sie mit dem flachen Fuß über alles hinwegfegte und der Sand wieder eben war und glatt. Dann erst fuhr sie fort:
„… wobei, wenn ich mich so recht erinnere, kann ich eigentlich kaum von einem Stadtleben sprechen in meinem Fall, das es da mal bei mir gab vor vielen Jahren … mein Stadtleben war eigentlich mein Arbeitsleben, freie Zeit hatte ich kaum. Mein Leben in der Stadt bedeutete bis zu zwölf Stunden Büroarbeit am Tag, oft auch am Wochenende. Die Zeit davor und danach stand ich in meinem schicken Dienstwagen im Stau. Meine Eigentumswohnung kannte wahrscheinlich meine Reinigungskraft besser als ich, denn ich habe dort lediglich ein paar Stunden geschlafen. Und ob das wirklich Schlaf war, bezweifle ich. Es war ein dumpfes, erschöpftes Absinken in ein Designerbett, aus dem mich nach viel zu kurzer Zeit wiederum der Wecker gerissen hat.
Und dann kam dieser eine, alles verändernde Sonntag. Ein Sonntag, an dem ich tatsächlich endlich mal wieder frei hatte.
Ich war nachts aus gewesen, erstaunlich lange, und war daher etwas verkatert erst gegen Mittag aufgewacht. In dieser lauen Sommernacht hatte ich eine eindrucksvolle Begegnung, die mich aufgewühlt hatte. Und nach dieser Nacht, es regnete inzwischen, stand ich seit Ewigkeiten einmal wieder einfach so in meiner Wohnung, und hatte tatsächlich nichts vor, nichts zu tun.
Da fielen mir Gegenstände auf in meiner Wohnung, die mir überhaupt nicht vertraut waren. Für eine Weile überlegte ich, ob vielleicht meine Reinigungskraft sie gekauft und dekoriert hatte. Je länger ich die Gegenstände aber betrachtete, umso klarer wurde mir: ich selbst hatte sie vor etwa einem Jahr gekauft, an einem meiner letzten wirklich freien Wochenenden, bevor die intensive Projektarbeit im Büro begann.
Ich bin schockiert auf meinem Sofa zusammengesunken, und eine Erkenntnis machte sich in mir breit. Ich verdiene sehr viel Geld - aber ich tue eben genau das: ich ver-diene es, in dem ich anderen diene, dabei aber überhaupt nicht mehr mir! Und dabei lebe ich so sehr an meinem eigenen, freien Leben mit ureigenen und persönlichen Interessen und Bedürfnissen vorbei, dass ich sogar meine eigene Wohnungseinrichtung nicht mehr erkenne!
Am nächsten Tag habe ich meine Kündigung eingereicht und beschlossen, es nie nie nie wieder so weit kommen zu lassen!“
An dieser Stelle lachte Viktoria kurz sarkastisch auf:
„Es so weit kommen zu lassen??? Was für eine irrwitzige Formulierung! Nie wieder so tief zu sinken, träfe es wohl besser. In all dem Saus und Braus, in dem ich lebte, in all dem Geld, in dem ich schwamm, war mir das Wichtigste abhandengekommen: mein Leben!“
Es war ganz still. Ein paar Vögel zwitscherten im Himmel über den Salzwiesen, ab und zu blökte eine Kuh. Kaum Wind, kein Meeresrauschen, weil Ebbe war. Es war diese besondere Stille nach Viktorias Vergangenheitsschilderung, die selten und einzigartig ist. Eine Stille, die ganz trocken ist und ehrlich und klar, weil gerade ganz viel Gefühlsintensität offenbart wurde.
Wir saßen in unserem Strandkorb, regungslos, schienen gar nicht mehr zu atmen vor Bewegungslosigkeit, und umklammerten unsere Rotweingläser, als ob sie wärmen könnten.
Es fiel mir schwer, in diese Stille hinein das Gespräch wieder aufzunehmen. Aber zu sehr wühlte mich Viktorias sarkastischer Unterton in der Art, in der sie über ihr vergangenes Arbeitsleben gesprochen hatte, auf:
„Du hast also keine andere Möglichkeit gesehen, dein Leben zu verändern, außer dieser, dein altes Leben komplett abzubrechen?“
Viktoria nickte versunken. Ich aber wollte mehr wissen:
„Aber diese Vielfältigkeit an Möglichkeiten, die es im Leben gibt, die gibt es nicht nur bezüglich des Wohnortes! Es gibt sie auch hinsichtlich vieler denkbarer Lebens- und Arbeitsformen! Gerade in Berlin habe ich den Eindruck, dass so viele Lebensbereiche dort von den Menschen neu überdacht und oft auch verändert werden. Das finde ich übrigens auch einen der inspirierenden Momente in Berlin, auf die ich ungern verzichten möchte.“
Viktoria erwachte aus ihrer Versunkenheit, und warf ein:
„Was ist es denn, was du da so inspirierend findest? Ich kann mich an keine Inspiration mehr erinnern aus meinem Stadtleben. Aber vielleicht konnte ich sie ja auch einfach nicht sehen, weil ich keine Zeit dafür hatte?“
„Ja, vielleicht hast du sie einfach nicht gesehen. Denn in Hamburg ist es doch ähnlich wie in Berlin. Es gibt so viele Freiberufler, Selbständige und Kreative, die frische Ideen haben, Werkstätten aufmachen oder Initiativen, Tauschbörsen und ähnliches. Sie haben Ideen, und probieren sie einfach aus. Verdienen meist nebenbei mit irgendetwas ihr Geld. Sie haben Mut, und setzen um, und verteilen dabei ihr Tätigsein auf viel mehr Bereiche, als nur einen einzigen Arbeitgeber oder einen einzigen Ort. Einige meiner Bekannten in Berlin arbeiten in Teilzeit, so wie ich, und machen in der restlichen Zeit noch etwas anderes. Es ist eine enorme Wandlungsfähigkeit, die sich da im Berufsleben zeigt. Dabei gibt es nicht mehr nur die harte Unterteilung in malochender Angestellter oder befreiter Selbständiger, nein. Viele Formen dazwischen entwickeln die Menschen, jeder für sich, entsprechend ihrer eigenen Bedürfnisse.“
Viktoria schien irgendetwas zwischen interessiert und resigniert zu sein. In die Ferne starrend, sagte sie mit tonloser Stimme:
„Mein Eindruck in meinem alten Leben war ganz einfach der, dass Angestellt-Sein bedeutet, mit dem Arbeitsplatz verheiratet zu sein. Dabei ist der Angestellte oft Werkzeug, nicht Partner. Werkzeug wird ersetzt oder beseitigt, wenn es nicht mehr funktioniert oder gebraucht wird. Vielen macht das Angst. Was dazu führt, dass sie sich noch mehr abmühen am Arbeitsplatz, noch besser, noch schneller, noch vermeintlich unverzichtbarer sein wollen, um bloß nicht gekündigt zu werden eines Tages. Warum? Weil sie keine Alternative haben. Auch mir hat das Angst gemacht, und die einzige Möglichkeit, diesem Strudel und dieser Festgefahrenheit zu entkommen, habe ich darin gesehen, diesem alten Leben vollständig zu entfliehen.“
Es war nicht nur Resignation, sondern auch eine abgrundtiefe Traurigkeit in Viktorias Stimme. Die machte mich stutzig. In meiner Nachfrage formulierte ich das aber noch nicht:
„Kann es sein, dass aus deinen Worten auch ein bisschen Verbitterung herauszuhören ist?“
Viktoria warf mir von der Seite einen stechend scharfen, aber auch neugierigen Blick zu. Letzteres bekräftigte mich darin, fortzufahren:
„Ich meine, dass Veränderung in einem jeden selbst anfängt. Wer also mit irgendeiner Situation in seinem Leben, auch der beruflichen, unglücklich sein sollte, der kann an sich arbeiten, um die Situation zu verändern - anstatt eine Art von Schuld dem Umfeld oder gar dem System, den Arbeitsstrukturen, in die Schuhe zu schieben. So vieles ist möglich, wenn man beginnt es zu denken, und irgendwann auch auszusprechen. Und indem ich genau das getan habe, hat sich für mich herausgestellt, dass beides geht! Angestellt sein, und nebenbei ein weiteres Leben, in meinem Fall an der Küste, zu leben.“
„Ich muss zugeben, es hat etwas Einleuchtendes, was Du sagst“, schmunzelte Viktoria. „Aber bestimmt gehört auch sehr viel Kraft und Mut dazu. Wahrscheinlich beginnt die Schwierigkeit für die Menschen schon damit, überhaupt herauszufinden, was sie wirklich gerne noch erfüllt hätten in ihrem Leben. Das ist ja der Schritt davor, überhaupt etwas in die Realität umzusetzen ...“
Viktoria zögerte kurz, als wüsste sie nicht, ob sie noch etwas hinzufügen sollte oder nicht. Dann sprach sie weiter:
„… und möglicherweise stecken viele so sehr fest in ihrem Berufsleben, dass sie darüber gar keine Zeit haben, zu entdecken, was sie noch aus sich selbst heraus ausleben möchten, und wo ihre persönlichen Bedürfnisse liegen.“
Mir war nicht mehr klar, ob Viktoria über andere sprach, oder über sich, und mir dabei etwas Entscheidendes verschwieg. Sie wirkte zwar wieder etwas lebhafter inzwischen, aber auch vom Thema entfernt. Ich wollte es mit einer letzten Äußerung abschließen:
„Was dann herauskommen kann, wenn jemand sich die Zeit nimmt, die eigenen Bedürfnisse freizulegen, das siehst du an mir. Womit ich auf mein Pendeln zurückkomme, das du ja zu Beginn unseres Gespräches in Frage gestellt hast. Viktoria, weißt du, mein Pendeln zwischen zwei Lebensräumen, das ist meine Lösung! Es ist nicht deine Lösung, deshalb fällt es dir vielleicht schwer, sie zu verstehen. Aber es ist meine Lösung, und sieh mich an: wirke ich unglücklich mit meinem Leben? Wirke ich, als wäre mir mein Stadtleben zuwider?“
Viktoria schwieg einige Minuten lang. Sah mich an, sah auf die See. Lächelte, und gab dann zu:
„Nein, meine Liebe, ich sehe es ja auch. Du wirkst in der Tat wie eine, die glücklich ist, und ihren Weg auf ihre Art geht. Ich scheine von uns beiden der radikalere Typ zu sein. Bei mir muss alles immer ganz oder gar nicht sein. Ich könnte mir ein Pendeln zwischen Stadt und Land nicht vorstellen. Vielleicht ist das eine Schwäche von mir, die ich bislang für eine ausgeprägte Entschlusskraft hielt: von mir zu verlangen, mich für Schwarz oder Weiß zu entscheiden. Vielleicht übersehe ich dabei die Grautöne dazwischen … genau diese Grautöne, von denen du anfangs sprachst, diese Grautöne, die die Vielfältigkeit zwischen Schwarz und Weiß bedeuten.“
Viktorias Stimme war im Verlauf dieser letzten Sätze ganz ruhig und leise geworden, fast so, als würde sie ein wenig in sich zusammensinken.
Ich war ein bisschen darüber erschrocken, war doch Viktoria immer die Starke, Entschlossene für mich, diejenige, für die alles klar ist, alles stimmig, alles authentisch.
Viktoria, die Vagabundin, die nur noch macht was sie will - diese Viktoria hat womöglich auch hin und wieder Zweifel an dem was sie tut?
Oder verschwieg sie mir etwas? Gab es womöglich noch einen anderen Grund, der sie ihr Leben in Hamburg abbrechen ließ?
Ich wusste in diesem Moment, der nun schon fast ein Jahr her ist, nichts, was ich darauf hätte sagen können. Wahrscheinlich hatten wir beide das Gefühl, in diesem Gespräch an sehr viel gerüttelt zu haben. Und für jede von uns steckte hinter dieser umfangreichen Thematik ein riesiger Schatz an eigenen Lebenserinnerungen, die da hochkommen, und erinnern lassen, warum an so mancher Weggabelung dieser oder jener Schritt gegangen, oder eben nicht gegangen wurde.
So tief war ich in die Erinnerung an dieses Gespräch am abendlichen Strand geraten, dass ich fast erschrecke, als ich wieder vor meiner Haustür, und zwar in Berlin, stehe. Völlig gedankenversunken muss ich den Rückweg wie automatisch gelaufen sein.
Ich öffne die Tür, und betrete meine so vertraute Wohnung. Es ist mein Zuhause. Eines meiner beiden Zuhauses.