Читать книгу Wolken klingen rosa - Katrin Meyer - Страница 5
Merle
ОглавлениеDer Abend, der nur meiner Freundin Merle und mir gehören sollte, beginnt mit trüber Stimmung. Ich bin viel zu müde, daran wird auch sicher die Kälte und das klare Licht des Vollmondes nichts ändern. Eigentlich liebe ich diese mystische Stimmung. Sie ist rätselhaft und hat gleichzeitig etwas Heilendes. Sie hat mich bisher immer mitgenommen in eine andere Welt, in die ich mich zurückziehen konnte, wenn mir die reale zu überwältigend vorkam. Aber heute Abend wird es keine Möglichkeit zum Rückzug geben. Ich werde mich hineinstürzen in ein Universum von Fülle und Überforderung. Was ist nur passiert, dass ich mich nicht mehr auf ein paar unbeschwerte Stunden mit meiner Freundin freuen kann? Hat der Alltag mich so verändert, dass ich nicht mehr genießen kann oder bin ich im Grunde genommen niemals bereit gewesen zu genießen? Ich sortiere meine Gedanken nach Farben und muss feststellen, dass nur die ganz dunklen des Winters von mir Besitz ergriffen haben. Werde ich es schaffen, das Helle, das Freundliche, das Lebendige wieder zuzulassen?
Meine Freundin ist, wie immer, pünktlich. Als ich sie sehe, keimt tatsächlich ein Fünkchen Freude auf.
Ich begegnete Merle an einem Tag, der mir schon morgens vorkam wie ein nicht bezwingbarer Berg. Völlig orientierungslos trudelte ich durch mein persönliches All und hatte viele Fragen an das Leben. Irgendwie schien es, dass die Welt von und für die Lauten gemacht war. Es bereitete mir große Schwierigkeiten, mich darin zurecht zu finden.
Nach einem anstrengenden Arbeitstag mit fordernden Kunden und Kollegen, die hektisch zwischen Telefon und Aktenordnen umherirrten, scheinbar eine Art Konkurrenzkampf zwischen einander ausfechtend, entschied ich mich, in einem kleinen Café die ganze Anspannung hinunterzuspülen. Die Unruhe in mir und der Lärm der Großstadt draußen formierten sich zu einer immer bedrohlicher heranwachsenden Lawine, die mich mit sich fortreißen würde, wenn ich nicht schnell genug gegensteuerte.
Hektisch wühlte ich in meiner Handtasche nach dem Portemonnaie um zu bezahlen, als plötzlich eine junge Frau mit ihrem Hund das Café betrat, der sich scheinbar mächtig über den Mann am Nebentisch freute.
“Na Maggi? Wieder gut gelaunt heute?”
Ich bemerkte, dass der jungen Frau das Verhalten ihres Vierbeiners unangenehm war.
“Entschuldigen Sie bitte, mein Hund ist manchmal etwas ungestüm. Stört es Sie, wenn wir uns neben Sie setzen? “ fragte sie mich sichtlich verlegen.
“Nein, ich wollte sowieso gerade gehen, “erwiderte ich freundlich.
Ich war amüsiert über diesen kleinen Dackel, über den Namen, der so wunderbar zu dieser kleinen, dunkelbraunen Fellnase passte und über diese pure unerschrockene Art von Lebensfreude. Außerdem war ich angenehm überrascht von diesem ausgeprägten Maß an Rücksichtnahme.
Jetzt wäre ich am liebsten doch noch etwas länger geblieben um die Szenerie zu beobachten. Das Leben schien mich gerade zu einem Glücksmoment einzuladen. Warum sollte ich sie nicht annehmen?
Ich war neugierig, in welcher Beziehung die junge Frau zu dem Mann stand, dessen Alter ich auf ungefähr fünfzig Jahre schätzte, und wie der Hund sich weiter verhalten würde.
Nach einer ausgiebigen Begrüßung legte er sich unter den Tisch und wartete geduldig. Er schien zufrieden zu sein und nur im Hier und Jetzt zu leben. Die Ruhe, die von der jungen Frau ausging, schien sich auf ihn zu übertragen. Sie hatte eine angenehm sanfte Stimme und ich merkte, dass auch ich langsam ruhiger wurde. Mein Portemonnaie hielt ich zwar immer noch in der Hand, aber nicht mehr so verkrampft. Ich blickte aus dem Fenster, bemerkte die Menschen auf der Straße, die abgeplatzte Farbe der Fensterbank, die dezente Dekoration auf dem Tisch und die leise Hintergrundmusik. Ich konnte für einen Augenblick loslassen und fand langsam zu meiner inneren Mitte zurück. Wie sehr ich das gerade brauchte und wie leicht es zu haben war!
Als ich bezahlt hatte, stand ich auf, hob den Stuhl, auf dem ich saß, an, und schob ihn vorsichtig unter den Tisch. Niemand sollte sich gestört fühlen. Langsam und mit einem inneren Lächeln verließ ich das Café und erreichte wenig später mein Auto. Gerade als ich die Autotür öffnen wollte, hörte ich ein durchdringendes Quietschen von Reifen, einen schmerzhaften Schrei und das markerschütternde Jaulen eines Hundes. MAGGI!!!
Ein Radfahrer hatte ihn angefahren. Ich eilte zurück um mir Gewissheit zu verschaffen, dass niemand ernsthaft verletzt war und um die zitternde junge Frau zu beruhigen, deren Bekannter nun ebenfalls, sichtlich geschockt, aus dem Café gelaufen kam. Aus Maggis Vorderpfote tropfte ein wenig Blut. “Kommen Sie!” rief ich, “ich fahre mit Ihnen zum Tierarzt! Mein Auto steht gleich dort drüben!”
“Vielen Dank!” rief sie bestürzt und hob ihren Hund vorsichtig hoch.
Kurz wendete sie sich ihrem Begleiter zu. “Ich rufe dich an!”
“Ja, sagte der Mann, “kümmere dich erstmal um Maggi!”
Aus seinem Gesichtsausdruck konnte man großes Entsetzen ablesen. Der Radfahrer entschuldigte sich mehrere Male. Auch ihm schien der Unfall einen großen Schrecken eingejagt zu haben.
“Vielen Dank! Ich heiße Merle!” stellte sich die junge Frau später im Auto vor. Ihre Stimme zitterte noch immer, während Maggi ruhig auf ihrem Schoß lag. Um seine Pfote hatte sie ein Taschentuch gewickelt.
“Ich könnte jetzt gar nicht fahren!”
“Machen Sie sich keine Sorgen,” versuchte ich sie zu beruhigen. “Das ist doch selbstverständlich.”
Sie wies mir den Weg zu ihrem Tierarzt, dessen Praxis zum Glück schnell zu erreichen war. Dann drückte ich ihr noch meine Telefonnummer in die Hand mit der Bitte, mich wissen zu lassen, wie es Maggi ging.
Wieder einmal reagierte ich in dieser Situation umsichtig und schnell. Erst später fingen auch meine Knie an zu zittern.
Merle rief mich am nächsten Tag an und berichtete erleichtert, dass eine Kralle an Maggis Vorderpfote leicht verletzt war. Der Tierarzt sicherte jedoch eine schnelle, unkomplizierte Heilung zu. Sie lud mich zum Dank auf einen Kaffee ein, was ich gerne annahm.
Später sollte ich erfahren, dass Merle Maggi aus einem Tierheim geholt hatte. Er half ihr, nach der Trennung von ihrem Freund, die sehr schmerzhaft für sie war, wieder Boden unter ihren Füßen zu spüren. Sie berichtete, dass Veränderungen in ihrem Leben immer mit starken Emotionen verbunden waren, und sie immer sehr lange bräuchte, Dinge zu verarbeiten. Das machte sie mir umso sympathischer, ich konnte das alles deutlich nachvollziehen.
Der Mann in dem Café sei ihr Onkel Marek gewesen, mit dem sie noch etwas für die Geburtstagsfeier ihrer Tante Ilona besprechen wollte.
Sie hätte eine sehr enge Beziehung zu ihren Verwandten, überhaupt würde die Familie ihr viel bedeuten.
Ich erkannte sie immer mehr als eine Art Seelenverwandte und fühlte mich in ihrer Anwesenheit ausgesprochen wohl.
Wir verabredeten uns hin und wieder zu Spaziergängen mit Maggi, die mir sehr guttaten. Ich bewegte mich gerne in der Natur. Wertschätzend und wahrnehmend. Im Wald konnte ich zu mir kommen und fühlte mich verbunden mit dem großen Ganzen.
Langsam entwickelte sich zwischen uns eine tiefe, verlässliche Freundschaft.
Wie viel mir diese Freundschaft bedeutet, wird mir an diesem Abend einmal mehr bewusst. Die Begrüßung ist herzlich, ich kann es zulassen, dass sie mich in den Arm nimmt. An manchen Tagen kann ich nicht mal die Berührung des Pullovers an meiner Haut ertragen.
Das Restaurant, das sie sich ausgesucht hat, strahlt eine warme, ruhige Atmosphäre aus. Es ist nicht zu laut und die frisch zubereiteten Speisen verströmen einen zarten, angenehmen Duft.
Wir unterhalten uns auf Augenhöhe. Immer finden wir Themen, die es zu besprechen gibt, niemals driftet das Gespräch in oberflächlichen Smalltalk ab, der uns beide nur langweilen und ermüden würde. Wir halten Blickkontakt, der niemals aufdringlich ist. Wir sind mit der Aufmerksamkeit ganz bei uns. Und selbst, wenn wir schweigen ist es niemals unangenehm. Keine von uns hat das Bedürfnis, die Stille zu stören, wenn sie gerade da sein will. Wir können das Schweigen aushalten.
Merle gelingt es auch an diesem Abend, mich für eine Weile von meinem Trübsinn abzulenken. So wie damals, als wir uns kennengelernt haben, überträgt sich ihre Ruhe auf mich und die Sanftheit ihrer Stimme streichelt meine Seele.
“Ich soll dich übrigens auch herzlich von Onkel Marek und Tante Ilona grüßen, sie passen heute auf Maggi auf.”
“Holst du ihn später noch ab, oder schläft er dort?”
“Nein, Maggi schläft am liebsten in seinem eigenen Körbchen. Ich bin auch ruhiger, wenn er zu Hause ist. Außerdem ist so gegen halb sechs Uhr morgens das erste Mal Gassi gehen angesagt. Das will ich den Beiden nicht zumuten.”
“Bitte richte den Beiden liebe Grüße von mir aus!”
Marek und Ilona sind mir während der Freundschaft zu Merle regelrecht ans Herz gewachsen. Überhaupt ist ihre ganze Familie so herzlich, so offen und bodenständig, dass ich schon manchmal gedacht habe, ich gehöre irgendwie dazu. Mit dem Temperament von Ilona hatte ich zwar anfangs so meine Schwierigkeiten, sie ist schon sehr energiegeladen, und ich habe sie eigentlich noch nie schlecht gelaunt erlebt. Aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.