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2.

Diagnose

Sommer 2009: Uns ging es gut. Wir waren nach gut einem Jahr wieder in Deutschland angekommen. Unser Leben mit Kind, neuem Wohnort und neuem Job meines Mannes und dem Wiedereinstieg ins Gemeindeleben lief in geregelten Bahnen. Wir wünschten uns ein weiteres Kind und wollten den Abstand zu unserem Sohn nicht zu groß werden lassen. Da wir beide mit mehreren Geschwistern aufgewachsen waren, sollten unsere Kinder idealerweise möglichst altersnah miteinander aufwachsen können.

Mitten in den Hochzeitsvorbereitungen für meinen Bruder wurde ich wieder schwanger. In der fünften Schwangerschaftswoche bekam ich die Bestätigung meiner Frauenärztin. Wir freuten uns und waren dankbar, dass wir nie lange auf eine Schwangerschaft warten mussten. Ich erzählte es erst einmal nur meiner besten Freundin, die mir im selben Telefonat auch von ihrer Schwangerschaft erzählte. Wir freuten uns riesig. Die errechneten Geburtstermine unserer Kinder lagen nur einen Tag auseinander.

Unsere Zeit der Vorfreude war aber nur von kurzer Dauer. Bereits in der neunten Woche wurden wir schwer beunruhigt. Meine Frauenärztin hatte darauf bestanden, dass ich vor unserem zweiwöchigen Urlaub noch einmal zum Ultraschall kommen sollte. Der Termin war bei der Vertretungsärztin. Sie schaute sich den Embryo an und war sehr still. Dann wurde sie etwas unruhig und unsicher, meinte, sie hätte Probleme mit der Bilddarstellung. Sie versuchte, den Embryo von allen Seiten darzustellen. Doch das Bild gefiel ihr nicht. Der Embryo sei auffällig gekrümmt, müsste in dieser Woche anders aussehen. Sie habe das so noch nicht gesehen und sei sehr unsicher. Nachdem ihr Kollege für eine Zweitmeinung nicht unmittelbar zur Untersuchung dazukommen konnte, forderte sie mich auf, unbedingt am nächsten Tag noch einmal zu kommen. Meine Ärztin würde mich untersuchen – das würde sie organisieren. Im so frühen Stadium der Schwangerschaft sei der Embryo noch sehr klein, sodass es schwer sei, etwas genau zu erkennen. Wahrscheinlich würde sich alles klären und gut werden.

Voller Sorge ging ich zum Auto. Die Ärztin war mir nicht sehr kompetent vorgekommen. So war da eine kleine Hoffnung, dass ich morgen von meiner Ärztin Entwarnung bekommen würde: »Oh, da haben wir uns wohl in der Schwangerschaftswoche geirrt. Der Embryo ist etwas kleiner, aber ansonsten ist alles bestens.«

Andererseits dachte ich mir, dass keine Ärztin so schnell eine Zweitmeinung einfordern würde, wenn sie nicht wirklich beunruhigt wäre. Im Auto telefonierte ich mit meinem Mann, erzählte ihm alles. Er beruhigte mich soweit, dass ich mich in der Lage sah, nach Hause zu fahren. Zu Hause stärkte er mich sehr, unterstützte meine Hoffnung, dass die Vertretungsärztin wenig kompetent aufgetreten war und sich morgen vielleicht alles klären würde.

Die Untersuchung am nächsten Tag brachte jedoch wenig Licht in die Dunkelheit. Meine Ärztin bestätigte, dass der Embryo eine auffällig gekrümmte Erscheinung habe, im Bereich des Kopfes und des Bauches merkwürdige Strukturen zeige. Sie betonte dann aber auch, dass es ein früher Zeitpunkt der Schwangerschaft sei. Der Embryo sei gut und fest eingenistet, vielleicht würde sich in wenigen Wochen alles verwachsen haben. Es gab keinerlei Anzeichen für eine mögliche Fehlgeburt, was bei einer Fehlbildung naheliegend gewesen wäre. Jetzt sollte ich ganz entspannt in den Urlaub fahren, die Zeit genießen und danach wiederkommen. Dann würde wahrscheinlich alles anders und gut aussehen.

Wer wäre in solch einer Situation entspannt gewesen? Ich ganz bestimmt nicht mehr. Auffälligkeiten an Kopf und Bauch, den Bereichen des Körpers, wo die wichtigsten menschlichen Organe sitzen. Was sollte das bedeuten? Was war mit unserem Kind los? Wir hatten uns sehr auf unseren Urlaub gefreut, waren erschöpft von einer längeren Renovierungsaktion an unserem Haus. Wie sollten wir uns mit dieser inneren Unruhe erholen können?

Wir entschieden, trotzdem in den Urlaub zu fahren, weil wir sowieso nichts machen konnten, als abzuwarten. Zu diesem Zeitpunkt wusste nur meine beste Freundin von der Schwangerschaft. Ich erzählte ihr von unserer Sorge und sie versprach, für uns zu beten. Wir erzählten es dann auch unseren Eltern, die auch für uns beten wollten.

Im Urlaub kamen nach ein paar Tagen der ältere Bruder meines Mannes und unsere Schwägerin nach, auch ihnen erzählten wir von unserer Schwangerschaft und der Sorge um unser ungeborenes Kind. Alle machten uns Mut und bestärkten uns darin, dass die Ärzte in so einem frühen Stadium der Schwangerschaft wohl etwas falsch gesehen hätten. Wir versuchten uns daran zu klammern, aber in uns waren ganz viel Angst und Sorge, die wir immer wieder vor Gott brachten. Wir beteten häufig für Heilung.

Die Schwangerschaft trat etwas in den Hintergrund, als unser Sohn schon zu Beginn des Urlaubs krank wurde. Es ging ihm sehr schlecht. Er war rund um die Uhr auf meinem Arm, ließ sich auch schlafend nicht ablegen. Wir mussten zweimal einen Arzt aufsuchen und kümmerten uns intensiv um ihn. Es war anstrengend, wir schliefen schlecht, aber unsere Gedanken kreisten dadurch nicht ständig um unser Ungeborenes. Wenn mein Sohn einmal ruhig schlief, fiel ich auch sofort in einen erholsamen Schlaf und lag nicht grübelnd wach. Ich brauchte meine Kraft jetzt ganz für unseren Kleinen. Er erholte sich nur langsam und war erst die letzten Tage des Urlaubs wieder etwas munterer.

Als wir nach Hause fuhren, trafen wir eine Entscheidung. Julia, eine Freundin von uns und zugleich eine Kusine meines Mannes, ist Hebamme. Sie wollten wir fragen, ob sie uns in dieser Schwangerschaft begleiten würde – egal, wie es weitergehen würde. Wir machten ein Treffen aus, schilderten unsere Situation und baten sie, uns zu begleiten. Sie sagte sofort zu und fand auch beruhigende Worte, die uns Hoffnung gaben. Mit ihr besprachen wir einige Dinge, die uns zu dem Entschluss brachten, über einen Frauenarztwechsel nachzudenken. Julia empfahl uns eine Ärztin, mit der sie schon viel und gut zusammengearbeitet hatte. Uns erschien es sehr sinnvoll, in dieser besonderen Situation zwei Ansprechpartner zu haben, die auf einer Linie lagen und gut zusammen kooperieren. Was uns jetzt noch gefehlt hätte, wären gegensätzliche Meinungen, die uns verwirren und alles zusätzlich erschweren würden. Ich besprach auch sofort mit Hebamme Julia, dass ich nicht noch einmal die Situation erleben wollte, dass der Embryo für eine genaue Aussage eigentlich zu klein sei. Wir waren uns außerdem immer sicher gewesen, dass wir niemals eine Abtreibung durchführen lassen wollten. Damit gab es keinen Grund zur Eile. Ich war jetzt in der zwölften Schwangerschaftswoche, und wir entschieden uns, noch einige Wochen bis zur nächsten Untersuchung zu warten. Dann würde hoffentlich eine eindeutigere Diagnose möglich sein.

Ich bekam bei der neuen Frauenärztin einen Termin für die siebzehnte Schwangerschaftswoche. Die Zeit bis dahin war nicht einfach, von Hoffen und Bangen bestimmt, aber immerhin hatten wir Hoffnung. Wir beteten viel, besonders baten wir, dass Gott alles gut machen möge, dass alles nur ein großer Fehlalarm sei – oder dass Gott ein Wunder tun und unser Kind gesund machen solle.

Nun wussten schon viele von unserer Schwangerschaft, aber nur wenige von unseren Sorgen. Ich hatte inzwischen – etwas eher als in der ersten Schwangerschaft – eine deutliche kleine Wölbung am Bauch, sodass meine Schwangerschaft sichtbar war. Ich ging weiterhin mit meinem Sohn zur Krabbelgruppe, zum Einkaufen und in die Gemeinde, wurde aber nie in Erklärungszwang gebracht. Soweit ich mich erinnere, wurde ich kaum detailliert nach meinem Befinden gefragt, was mir sehr recht war.

Am Tag der Untersuchung bei der Frauenärztin war ich vormittags mit meinem Sohn in der Krabbelgruppe. Ich war innerlich sehr unruhig. Nachdem ich meinen Sohn zu meinen Eltern gebracht hatte, holte ich meinen Mann ab, der mich begleitete. Er hatte seine Arbeit früher beendet, weil wir unbedingt zusammen sein wollten, wenn nach unserem Baby geschaut wurde. Die Wahrheit würde jetzt ans Licht kommen. Das Kind war nun groß genug, sodass es gut mit dem Ultraschallgerät zu sehen war. Die Frauenärztin kannte unsere Vorgeschichte und ging sehr sensibel mit der Situation um. Sie begrüßte uns freundlich und zögerte die Untersuchung nicht hinaus, damit wir schnell Klarheit bekommen konnten. Sie musste nicht lange schauen, um die Einschätzung ihrer Kollegen zu bestätigen. Bei unserem Kind waren nach wie vor deutliche unnormale Strukturen am Kopf, Bauch und Rücken sichtbar. Sehr behutsam, aber auch eindeutig sprach sie mit uns und betonte, dass unser Kind nicht normal entwickelt sei und dass wir dringend zu einem Spezialisten in der benachbarten Stadt fahren sollten. Sie vereinbarte dort umgehend einen Termin und wir fuhren direkt dorthin.

Alles Hoffen war jetzt zunichte gemacht, mir wurde schlagartig eiskalt. Die Gedanken überschlugen sich. Was konnte das jetzt bedeuten? Die lebenswichtigen Organe unseres Kindes mussten betroffen sein. Es war keine Fehlbildung der Hand oder des Fußes, womit man hätte leben können. In welchem Ausmaß war die Fehlentwicklung? Auf der halbstündigen Autofahrt und beim Warten im Krankenhaus überlegten wir kurz, wie es sein würde, ein schwerstbehindertes Kind zu bekommen. Danach sah es für uns aus. Ich fragte mich, warum ich bei einer so gravierenden Fehlbildung keine Fehlgeburt gehabt hatte. Die Frauenärztin hatte nochmals betont, wie gut der Fötus trotz der Probleme in der Gebärmutter eingenistet und sehr gut versorgt sei. Was würde das alles für unsere Familie bedeuten? Ein Wirrwarr von Gedanken ohne erkennbaren Ausweg. Ein Horrorszenario für alle Eltern – und wir mittendrin. Der Augenblick war so schockierend, dass innerlich alles erstarrte.

Der Spezialist wollte unser Kind mithilfe eines sehr guten Ultraschallgeräts genau untersuchen. Das Gerät war wirklich hervorragend, das Bild hat sich mir bis heute eingebrannt. Da sahen wir unseren kleinen Schatz ganz deutlich, die Finger, die Füßchen. Auch den Kopf konnte man ganz klar erkennen: Mund, Nase und Augen. Doch da, wo normalerweise durch eine dicke weiße Linie die Schädeldecke sichtbar sein musste, war nichts. Einfach nichts. Die weiße Linie, die das Gesicht und den Nacken- und Halsbereich markierte, endete einfach und schloss sich nicht zu einem schönen runden Kreis. Jedem Laien wäre auch ohne Erklärung sofort aufgefallen, dass hier etwas ganz Wichtiges fehlte.

Wie anders sehe ich mir seit diesem Tag kleine Babyköpfe an. Den Glatzkopf meiner später geborenen Tochter habe ich immer wieder gestreichelt und bewundert. Viele wollten mich trösten, weil sie so lange keine Haare hatte. Mir war das völlig schnuppe. Was sind schon Haare, wenn der Schädel geschlossen und gesund ist. Ich dachte sogar, dass sie extra für mich erst mit zwölf Monaten Haare bekam, weil ich ihren schön geformten Kopf so besser bestaunen konnte.

Der Arzt brauchte nicht lange, um das Wort Anenzephalus auszusprechen. Er erklärte uns, dass sich bei unserem Kind kein Schädelknochen gebildet habe und auch nicht mehr bilden würde. Das Gesicht sei recht normal entwickelt, aber oberhalb der Augen, am Hinterkopf bis zum Hals hinunter sei alles offen. Das Gehirn sei in diesem frühen Stadium noch ganz normal entwickelt und durch eine Haut, die es vom Fruchtwasser abgrenzt, geschützt. Mit dem weiteren Verlauf der Schwangerschaft würde sich diese Haut immer mehr durch das Fruchtwasser zersetzen, somit würde auch ein langsamer Zersetzungsprozess des Gehirns beginnen. Dies hier so aufzuschreiben, ist nicht einfach für mich. So konkret habe ich es den wenigsten Menschen erzählt. Es ist schwer zu beschreiben, was in einem vorgeht, wenn man dies über das eigene Kind gesagt bekommt. Wir sahen es ja zudem mit eigenen Augen. Da war so viel Schockierendes und doch so viel Liebe.

Unser Kind bewegte sich, so wie ich es auch schon von unserem Sohn in der ersten Schwangerschaft kannte. Ein Ultraschall kann einem die Tatsache, dass da ein Kind in einem heranwächst, bewusster machen. Uns zeigte es jetzt mit aller Deutlichkeit die schonungslose Situation, in der wir nun steckten. Ich hatte bei allem nur einen Gedanken in meinem Kopf: Unser Kind hatte keine Chance auf Leben. Da bestätigte der Arzt auch schon meine Befürchtungen. Er sagte, dass Kinder mit diesem Krankheitsbild außerhalb des Mutterleibes nie überleben. Im Mutterleib wären sie gut versorgt und würden so meist den Geburtstermin erreichen. Dann würde das Kind entweder bei der Geburt sterben oder eventuell sogar noch lebend geboren werden, um dann innerhalb der nächsten Stunden oder Tage zu sterben. Das Gehirn ist einfach schutzlos. Leider könne nichts für unser Kind getan werden. Die maximale Lebenserwartung läge bei zwei Wochen. Genaueres könne er über den tatsächlichen Verlauf von Schwangerschaft und Geburt jedoch nicht sagen, denn ein solches Kind würde heutzutage nicht mehr ausgetragen werden. Dadurch hätten die Ärzte auch kaum praktische Erfahrungen mit diesem Krankheitsbild. Da waren wir innerhalb von wenigen Minuten auch schon beim nächsten Thema: Schwangerschaftsabbruch.

Wie kann ein Mensch das, was wir jetzt in ungefähr sieben Minuten gehört und gesehen hatten, irgendwie verarbeiten und damit umgehen? Es war einfach nur völlig schockierend. Doch es gab keinen Weg mehr zurück. Unser Kind war in mir und schon auf eine beachtliche Größe herangewachsen – aber wir bekamen das direkte Angebot, alles zu beenden. In mir stieg das Grauen hoch, alles war einfach nur grausam, egal wie es auch verlaufen würde. Es gab keinen einzigen Hoffnungsschimmer, egal wie wir uns entscheiden würden. Das Ende dieser Schwangerschaft würde grausam sein. Es kam mir vor, als würde ich mit dem Auto in einen dunklen Tunnel ohne Wendemöglichkeiten mit Vollgas auf eine Mauer zurasen, an der ich zerschmettern musste. Was uns bevorstand, war ein Horrorszenario ohne Ausweg. Außer Gott tat ein Wunder – dieser Option gab ich durchaus Raum, denn ich glaube an Gottes heilende Kraft.

Der Arzt hatte bei der Untersuchung auch noch festgestellt, dass unser Kind neben dem offenen Kopf auch noch einen offenen Rücken hatte, wodurch die auffällige Körperkrümmung zustande kam, die schon in der neunten Schwangerschaftswoche zu beobachten gewesen war. Natürlich stand sofort die Frage im Raum, ob ich in ausreichendem Maße ein Folsäure-Präparat genommen hatte, was allen schwangeren Frauen angeraten wird und in aller Regel vor den Fehlbildungen unseres Kindes schützt. Ich konnte diese Frage, die mir noch sehr häufig gestellt wurde, zum Glück bejahen, hatte ich doch schon mehrere Monate vor der Schwangerschaft täglich dieses Präparat genommen. Der Arzt erklärte die Ursache der Fehlbildungen mit einem zufälligen Gen-Defekt, der sich nur auf dieses Kind beziehe und nicht vererblich sei.

Im abschließenden Gespräch gab uns der Arzt noch einige Erläuterungen zu einem Schwangerschaftsabbruch. Wir lehnten diesen jedoch kategorisch ab. Die Entscheidung über Leben und Tod lag allein in Gottes Hand. Ich ahnte nicht, wie mich dieses Thema noch beschäftigen würde und wie meine Einstellung zu diesem Thema durch unsere Erfahrungen in den nächsten Wochen nochmals sehr viel differenzierter und individueller bedacht würde.

Der Arzt gab uns seine Nummer mit und ermutigte uns, ihn jederzeit anzurufen, wenn wir Gesprächsbedarf hatten, er bot uns auch sofort psychologische Unterstützung durch zum Krankenhaus gehörige Psychologen an, was wir als fürsorglich empfanden.

An den Rückweg kann ich mich nicht mehr erinnern, es ist wie ein Filmriss, obwohl mir sonst alle Details dieses Tages präsent sind. Da war nur dieses Gefühl des totalen Zerschmettertseins. Dann sehe ich mich vor meinen Eltern stehen, als wir unseren Sohn abholten. Ich sagte nur einen Satz und weinte dann das erste Mal: »Unser Baby hat keine Chance.« Es sollten noch viele Tränen folgen, die tränenreichste Zeit meines bisherigen Lebens.

Wir schilderten meinen Eltern alles kurz und fuhren dann weiter zu Manuels Eltern, die auch wussten, dass wir an diesem Tag eine wichtige Untersuchung gehabt hatten. Da wir ein enges Verhältnis zu beiden Herkunftsfamilien haben, war uns ganz klar, dass wir ihnen sofort davon erzählen würden. Wir standen unter Schock, waren überfordert und konnten überhaupt nicht abschätzen, was da alles auf uns zukommen würde. Es war ja auch alles noch so neu. Als wir Manuels Eltern alles erzählt hatten, waren sie sehr bestürzt und fassungslos. Meine Schwiegermutter fragte, ob sie die Brüder und Schwägerin anrufen dürfte, damit wir alle zusammen sein könnten und alle zugleich erfahren würden, was los war. Bald waren wir umringt von den vier Brüdern meines Mannes und unserer Schwägerin. Schweigend, bedrückt und völlig fassungslos saßen wir da.

Manuel und ich sagten an diesem Nachmittag, dass wir offen mit der Situation umgehen und kein Geheimnis aus der Sache machen wollten. Dass wir unser Kind austragen würden, mussten wir nicht betonen, weil diese Einstellung in unseren Familien sehr klar vertreten wird und alle davon ausgingen, dass wir so handeln würden. Wir erzählten noch am Abend dieses Tages unseren engsten Freunden von unserer Situation und erwähnten auch hier, dass wir mit der Situation offen umgehen wollten. Noch ahnten wir nicht, dass dieser Entschluss ziemlich voreilig gefasst war und uns in der nächsten Zeit noch einigen Kummer bereiten sollte.

Heute würde ich viel behutsamer mit dieser ersten Phase des Schocks und der ersten Auseinandersetzung mit der Situation umgehen. Durch unsere Öffnung nach außen kamen schon am nächsten Tag die ersten Reaktionen von Menschen, mit denen wir persönlich noch nicht einmal gesprochen hatten. An den ersten zwei Tagen bekamen wir einige liebevolle SMS. Verwandte und Freunde teilten uns mit, dass sie an uns denken, für uns beten und es gut fänden, dass wir unser Kind austragen würden.

Diese ermutigend gemeinten Worte beinhalteten schon eine Wertung unserer Entscheidung. Wer hier etwas gut fand, war mir eigentlich egal. Ich weiß, dass das nett gemeint war. Es sollte unsere Entscheidung untermauern und uns Achtung entgegenbringen. Doch ich merkte bereits bei den ersten Bemerkungen in diese Richtung, dass sich etwas in mir sträubte. Jeder, der dieses Kind nicht im Bauch hatte, konnte leicht sagen, was gut ist. Ich begann, das nicht mehr so leicht zu finden.

Durch diese ersten Reaktionen kamen zum ersten Mal die Fragen in mir auf: War es wirklich gut, dieses Kind auszutragen? Was würde ich meinem Kind und mir damit antun?

Unsere Verwandten und Freunde wussten nicht alles, was ich gehört hatte. Die Details um die Krankheit unseres Kindes ließen einige Fragen in mir aufsteigen, die sich mit der Zeit noch weiter in den Vordergrund drängen sollten. Ich bekam große Angst, mein Kind starken Qualen auszusetzen und mir selbst einen Leidensweg zuzumuten, von dem ich nicht wusste, wie ich daraus hervorgehen würde. Ich konnte mir nur vorstellen, daran zu zerbrechen.

Und dann war da wieder die Frage, die in meiner ersten Schwangerschaft aufgekommen war: »Würde ich mit meinem Kind auch meinen Glauben verlieren?«

Gehalten, wenn nichts mehr hält

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