Читать книгу Der Elefanten-Tempel - Катя Брандис - Страница 3
Ferner Traum
Оглавление„Okay, sie sind weg.“ Severin steckte den Kopf durch die Tür, winkte fröhlich mit dem Ersatzkabel seines Computers und verschwand wieder. Ricarda grinste zurück und holte ihren Laptop aus der Schublade ihres Schreibtischs. An den Ecken war die Farbe ein bisschen abgewetzt, aber sonst sah der Laptop immer noch wunderbar aus, golden lackiert mit einem Muster aus verschlungenen Ranken. Sie hatte es sorgfältig vorgezeichnet, damit es am Schluss auch wirklich gut wurde.
Im Zimmer nebenan war Severin vermutlich schon in irgendein Computerspiel abgetaucht. Genau das, was ihr Vater absolut nicht ausstehen konnte. Wie praktisch, dass er und Mama so gerne ins Theater gingen. Und wie naiv, dass sie dachten, sie könnten das Problem lösen, indem sie einfach die Netzkabel beschlagnahmten. Ricarda hatte keine Ahnung, wo sie die Dinger immer hintaten; beim Gedanken, dass ihre Eltern jetzt mit einer Damenhandtasche voller Kabel im Theater saßen, musste sie wieder grinsen.
Okay, Computerspiele waren manchmal dämlich oder brutal, aber Ricarda war schleierhaft, warum ihr Vater auch etwas gegen Chats hatte. Oder gegen das Surfen. Sie hatte es ihm schon mindestens tausend Mal erklärt: Nein, Papa, keine Sorge, ich kopiere keine Informationen aus dem Netz in meine Referate! Ganz ehrlich nicht! Jedenfalls – das musste er ja nicht wissen – nicht mehr seit dem peinlichen Reinfall in Bio, als sich die Wikipedia-Information über das Gewicht einer Fliege als totaler Blödsinn herausgestellt hatte.
Ricarda stürzte sich kopfüber ins Netz, sie freute sich schon auf ihre Mails. Aha, eine von Lilly. Leider stand nicht viel drin, wahrscheinlich hatte sie es gerade eilig gehabt.
Betreff: Dicke Haut
Von: die_lilly@web.de
An: rica187@web.de
Hey Rica, das hab ich beim Rumsurfen gefunden, du magst doch Elefanten, oder? Kannst ja mal reinschauen, da sind coole Fotos drauf! Lilly
Ja, Elefanten mochte sie. Sehr sogar. Ricarda folgte dem Link ... und hielt die Luft an. Mitten in Afrika: eine riesige, zerfurchte Gestalt, wuchtig und schwer wie ein Wesen aus der Urzeit. Aber so kluge Augen. Dunkel und aufmerksam blickten sie Ricarda vom Bildschirm entgegen. Intelligent war dieser Blick. Nein, anders. Nachdenklich. Weise.
Ricarda klickte sich durch, war auf einmal bei den Elefanten Asiens. Dort, wo sie dem Menschen schon seit Tausenden von Jahren dienten, als Reittiere und Lastträger, als Helfer bei Waldarbeiten, als lebende Waffen im Krieg. Und wenn in Thailand ein weißer Elefant geboren wird, gehört er dem König, selbst heute noch. Denn weiße Elefanten stehen den Göttern nahe ...
Ricarda schaute auf die Uhr, zögerte. Schon spät. Besser jetzt noch ein bisschen chatten oder bei Facebook reinschauen. Doch als ihre Augen über die Seite streiften, blieben sie an einem unscheinbaren Banner hängen. Chiang Mai Elephant Refuge, Thailand. Was hieß Refuge noch mal? Ach ja, Zuflucht. Und man sprach es Refjudsch aus. Komischer Gedanke, dass selbst die stärksten Wesen der Erde flüchten mussten. Ricarda konnte sich schon denken, vor wem. Vor den kleinen Zweibeinern, die zwar winzige Zähne und keine Klauen hatten, dafür aber jede Menge komische Ideen im Knollenkopf.
Chiang Mai Elephant Refuge.
Eine winzige Bewegung mit dem Zeigefinger, und Ricarda las, was sich hinter dem Banner verbarg. Im Chiang Mai Elephant Refuge wurden misshandelte, überarbeitete und kranke Elefanten gesundgepflegt. Gegründet hatte die Zuflucht ein Mann namens Ruang Surapatti, der von Kindheit an mit den Tieren gearbeitet und erlebt hatte, dass manche skrupellosen Mahouts – Elefantenführer – die Tiere wie Sklaven schuften ließen. Sie putschten ihre Tiere sogar mit Drogen auf, um mehr Arbeitsleistung aus ihnen herauszuholen. Schon vor Jahren war Ruang angewidert aus seinem Beruf ausgestiegen und hatte Spenden gesammelt, bis er die Zuflucht gründen konnte. Inzwischen lebten dort fünfzehn Elefanten, vom alten Bullen bis zum neugeborenen Kalb. Geborgen, in Sicherheit.
Schien eine gute Sache zu sein. Vielleicht konnte sie dafür bei ihren Eltern ein paar Euro Spendengeld loseisen. Ricarda klickte auf Support us. Und fand nicht das, was sie erwartet hatte. Klar, Geld brauchte das Projekt auch. Aber genauso dringend brauchte es Helfer, die vor Ort mit anpackten. Ricarda spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie klickte sich weiter, durch die Fotogalerie, die zeigte, wie thailändische Mahouts und Helfer aus aller Welt mit den Elefanten badeten, sie fütterten, sie durch den Dschungel führten.
Der Akku des Laptops waren fast leer. Ricarda stand auf und ging in die Küche, um sich etwas zu Trinken zu holen. Sie fühlte sich wie nach einem Sprint, wach und lebendig und atemlos. Wie das wohl wäre? In Thailand?
Genial, gab sie sich selbst die Antwort. Das wäre einfach genial.
Severin wühlte gerade im Kühlschrank, anscheinend hatte er mal wieder eine seiner mitternächtlichen Fressattacken. Ricarda sah zu, was er als Beute so alles hervorzog – ein großes Stück Gouda und ein paar Mini-Salamis. Kauend lehnte er sich an die Küchenzeile, seine Augen schätzten sie ab. „Na? Was machst du gerade mit deinem Goldschatz?“
Ricarda mochte es nicht, wenn er sie so ansah. So gönnerhaft, fast herablassend. Und dabei war sie zwei Jahre älter als er! „Ich werde in Thailand bei einem Elefantenprojekt mithelfen“, entfuhr es ihr. Erschrocken lauschte sie den Worten nach, hatte sie das eben wirklich gesagt?
Severin hörte auf zu kauen. Ein kleines Stück Salami hing an seinem Mundwinkel. „Äh, wie bitte?“
„Hab gerade was im Internet entdeckt“, sagte Ricarda und ärgerte sich, weil es so entschuldigend klang. „Man kann als Helfer dabei sein, mit Elefanten arbeiten. Ist gar nicht so teuer.“
Jetzt sah Severin nicht mehr herablassend aus, sondern einfach nur noch ungläubig. „Prima, das ist schön, aber jetzt mal im Ernst, du?“
Ricarda antwortete nicht, drehte sich einfach um und ging in ihr Zimmer zurück.
Du.
Kurz darauf hörte sie im Erdgeschoss die Tür klappen, die tiefe, immer etwas heisere Stimme ihres Vaters mischte sich mit der ihrer Mutter. Severin hatte es auch mitbekommen, er rumorte hektisch in seinem Zimmer, fuhr wahrscheinlich schnell den Computer herunter – erst später, wenn alle schliefen, würde er ihn wieder anmachen.
Ricarda horchte in sich hinein. Ja, da war sie, die Sehnsucht, es fühlte sich an wie ein Ziehen im Bauch. Sie hatte die Bilder in ihrem Kopf, stellte sich vor, wie es wäre, dort in Thailand. Mit diesen gewaltigen, sanften Tieren zusammenzusein, ganz nah, ganz vertraut. Doch es war auch ein bisschen so, wie von einer Karriere als Popstar oder Model zu träumen. Fern. Unwirklich. Als Traum ganz toll, aber in Wirklichkeit?
Der Gedanke, sich allein in Asien durchschlagen zu müssen, war der pure Horror. Lilly, eine ihrer besten Freundinnen, hatte so was gemacht, sie war in den Sommerferien nach Namibia geflogen, um dort vier Wochen lang Geparden zu betreuen. Doch Lilly war ganz anders – total chaotisch, aber mutig, sie fand nichts dabei, sich einfach in so eine Sache reinzustürzen.
Mit Gedanken an Thailand im Kopf schlief Ricarda ein.
Und stellte fest, dass sie noch da waren, als sie aufwachte.
Doch das normale Leben ging weiter. Ricarda übte Querflöte und verzweifelte fast an einer schwierigen Stelle von Bachs C-Dur-Sonate. Severin lieh sich ihren Taschenrechner und schloss sich in seinem Zimmer ein, weil er die letzte Mathearbeit verhauen hatte. Jemand ließ in der Schule die Luft aus den Reifen aller Fahrräder und wurde erwischt, als er es am nächsten Tag wieder versuchte. Sofia feierte ihren 17. Geburtstag im Jugendzentrum, mit fast vierzig Freunden, einer Disco-Kugel und dröhnenden Bässen. Ricarda fühlte sich ein bisschen eingeschüchtert von der übermütigen Menge – Wahnsinn, wie viele Leute Sofia kannte! – und überreichte Sofia in einem halbwegs ruhigen Moment ihr Geschenk, ein T-Shirt, das sie selbst am Computer entworfen hatte. Tagelang hatte sie an dem Design gebastelt und dafür ein Foto von Sofia bei einer ihrer Mofa-Fahrstunden verfremdet.
„Das ist total cool geworden“, sagte Sofia und drückte Ricarda so fest, dass ihr fast die Luft wegblieb. „Ziehe ich gleich morgen in der Schule an!“
Das vergaß sie zwar, aber dafür hatte sie das T-Shirt an, als sie sich am Tag danach bei Ricarda zum Pizzabacken und DVD-Gucken trafen. Zusammen kneteten sie Teigfladen und erfanden wilde Rezepte für den Belag.
„Kein Zweifel, ich bin die schrecklichste Köchin der Welt“, stöhnte Sofia und schob ihr Stück mit dem Kokos-Rosinen-Tomaten-Belag weg.
„Bist du gar nicht.“ Sofort schnitt Ricarda ihre eigene Pizza in der Mitte durch und reichte Sofia die eine Hälfte rüber. „Hier, du kannst was von mir abhaben. Äh, wenn dir Basilikum-Mozzarella mit Pinienkernen schmeckt.“
„Klingt toll, von der wollte ich sowieso probieren.“
„Alles, was sich als nicht essbar erweist, dient einem guten Zweck, ich nehme es für Hermine mit“, verkündete Lilly fröhlich. Ihr Vater hatte in seiner Tierarztpraxis gerade ein junges, immer hungriges Schwein in Pflege. „Sind alle satt? Wie wär´s jetzt mit dem ‚Herrn der Ringe‘?“
Spät in der Nacht, als Sofia und Lilly wieder weg waren – das Haus roch immer noch nach warmem Teig und Tomatensauce –, checkte Ricarda ihre Mails. Und klickte wieder auf die Website des Elefanten-Projekts. Nachdem sie ihren Traum ein paar Tage mit sich herumgetragen und gut gehütet hatte, erschien er ihr nun wirklicher, ein bisschen weniger verrückt.
Vielleicht könnte Lilly mitkommen nach Thailand, fiel es Ricarda ein. Oder Sofia. Bestimmt kann ich Sofia überreden, dass sie mitkommt! Zu zweit ginge es und es wäre auch viel lustiger. Warum hatte sie nicht schon viel früher daran gedacht? Sie entschied sich, es gleich morgen anzusprechen. Auf einmal war die Aufregung zurück, das kribbelige Gefühl in ihrem Magen. Konnte es sein, dass ihr Traum keiner war? Sondern ein richtiges Projekt, eins, das man verwirklichen konnte?
In der Schule lief alles wie sonst. Doppelstunde Französisch, das war ein Heimspiel; Ricarda konnte in Ruhe überlegen, wie sie Sofia und Lilly den Trip schmackhaft machen konnte. Aufgerufen wurde sie schon längst nicht mehr, Frau Schneider-Thäles wusste, dass Ricardas Französisch besser war als ihr eigenes. Dafür hatten die vielen Nachmittage früher bei Oma Hélène gesorgt. Papa sprach zu Hause selten Französisch, aber dafür wurde jeder Urlaub gnadenlos bei der Verwandtschaft in Frankreich verbracht.
„Alles klar mit dir?“ In der Pause legte Sofia ihr den Arm um die Schultern und drückte sie. „Ich dachte, in Französisch schläfst du jeden Moment ein.“
„Einschlafen? Nee, ich hab nachgedacht.“ Ricarda ergriff die Gelegenheit. „Sagt mal, wart ihr schon in Thailand?“
„Meine Eltern waren vorletztes Jahr in Vietnam, das ist quasi nebenan.“ Lilly zog die Mundwinkel nach unten. „Leider wurde ich währenddessen im Zeltlager geparkt!“
Sofia schloss genießerisch die Augen. „Tolle Strände, Palmen ... hm, ja. Nach Thailand würd ich schon gern mal fahren.“
„Da, wo ich hinwill, gibt´s leider keinen Strand, aber dafür ... äh, Teakwälder und Tempel ...“
Na toll. Das hatte sie versaut. Warum hatte sie nicht gleich noch erwähnt, dass es auch keine Palmen gab im Norden Thailands, dort wo das Elephant Refuge war?
„Klingt auch gut. Warum willst du gerade da hin? Und hat das vielleicht was mit dem Foto-Link zu tun, den ich dir neulich geschickt habe?“ Lilly ließ die Augen durch die Pausenhalle schweifen, schaute sich wahrscheinlich nach einer leeren Sitzecke um. „Ach übrigens, die Pizza-Reste haben Hermine sehr geschmeckt. Jetzt hat sie leider keine Lust mehr auf die üblichen Kartoffelschalen. Sag mal, kann ich deine Physik-Hausaufgaben abschreiben, Sofia?"
Sofia strich sich die dunklen Locken zurück und kramte in ihrer blauen Stofftasche, die mit Dutzenden von Buttons dekoriert war. „Ja, klar. Mensch, das war doch gar nicht schwer, das hättest du selber hingekriegt.“
„Haha, das sagst du! Ich hätte bis Mitternacht an diesem Mist herumgeknobelt.“
Sie hörten gar nicht richtig zu. Ricarda merkte, dass ihre Stimme noch leiser wurde als sonst. „Es gibt da ein Elefantenprojekt ... bei dem ich gerne mitmachen würde. In den Sommerferien ... meine Mutter arbeitet ja für Lufthansa, die könnte bestimmt günstige Flüge besorgen ... es wird also nicht so teuer ...“
Doch, sie hatten sehr wohl zugehört. Und jetzt tauschten sie einen schnellen Blick. Aha, ihnen ging wohl etwas Ähnliches durch den Kopf wie Severin gestern. Immerhin waren sie so nett und sprachen es nicht aus.
„Hey, das klingt cool.“ Lillys blaue Augen blitzten, ihr breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln. „In Thailand? Ich glaube, da gibt es noch ziemlich viele Elefanten. Wilde und zahme. Hab mal gelesen, dass manche Familien die wie Haustiere halten.“
Sofia musste lachen. „So ein Riesenvieh frisst mehr als ´ne Katze. Die thailändischen Kinder müssen ihre Eltern bestimmt lange nerven, bis irgendwann ein Elefant mit einer roten Schleife um den Bauch vor dem Haus steht.“
Ricarda gab sich einen Ruck. „Hättet ihr Lust, mitzukommen?“
„Nee, du, ich würde ja gerne.“ Lilly schüttelte den Kopf. „Aber wahrscheinlich kommt Erik mich im Sommer besuchen, da will ich natürlich nicht irgendwo in Asien rumhängen ...“
Ricarda versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie enttäuscht sie war. Klar, Lilly konnte nicht weg – sie hatte Erik in Namibia kennengelernt und schrieb ihm seither täglich verliebte E-Mails. Wenn er um die halbe Erde reiste, um sie zu sehen, dann hatte es anscheinend auch ihn schwer erwischt.
Sofia sagte nichts, ihr Blick war nach innen gewandt. Ricarda wartete schweigend und hütete sich, sie zu stören. Solange sie nachdachte, gab es Hoffnung!
„Wie lange hilft man denn da mit?“, fragte Sofia schließlich zögernd. „Ich glaube, meine Eltern haben schon ein Ferienhaus an der Nordsee gebucht.“
Immerhin, sie hatte nicht gleich Nein gesagt! „Man kann so lange hinfahren, wie man möchte, aber ich glaube, zwei Wochen wären mir am liebsten. Oder so.“
Abwesend händigte Sofia Lilly ihr Physikheft aus. „Muss mal meine Eltern fragen. Lust hätte ich schon. Bis wann brauchst du Bescheid?“
„Ruf mich einfach an – irgendwann demnächst“, murmelte Ricarda. O je, ihre Eltern. Die wussten auch von nichts. Außer Severin hatte gepetzt. Nein, eher nicht, für den waren Eltern gerade Der Feind. Und dem Feind gab man freiwillig keine Informationen preis.
Vielleicht hatte er ohnehin gedacht, seine große Schwester würde nur herumspinnen.
Und vielleicht hatte er damit recht.
Am Abend rief Fabian an. Er hatte irgendwie den Trick raus, sich immer zur ungünstigsten Zeit zu melden. Ricarda war gerade dabei, den Abendbrottisch abzuräumen – das war in dieser Woche ihr Job –, und ihre Mutter warf ihr einen düsteren Blick zu, als sie die gestapelten Teller im Stich ließ.
„Wie läuft´s?“, fragte Fabian. „Stör ich?“
„Nein, nein, geht schon“, log Ricarda, sie wusste selbst nicht genau, warum.
Fabian fing an, etwas von dem Indie-Konzert zu erzählen, auf dem er gestern gewesen war. „Übermorgen treten die Magic Bicycles auf, magst du mitkommen?“
Ricarda musste lächeln. Magische Fahrräder, o Mann! Fabian schien grundsätzlich zu Bands zu gehen, die einen bescheuerten Namen hatten. „Äh, keine Ahnung, was machen die denn für Musik?“
„Ich brenn dir eine CD, dann kannst du ja mal reinhören. Und, was gibt´s bei dir Neues?“
Ricarda warf einen schnellen Blick auf ihre Mutter, die in Hörweite herumwerkelte. Nein, so sollte sie es nicht erfahren, das würde unter Garantie nicht gut ankommen. „Ach, nicht so viel. Sag mal, wie findest du eigentlich Elefanten?“
„Elefanten? Wie soll ich die finden? Na ja, sie sind halt groß und grau.“
Ricarda versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Was Elefanten wohl über Menschen sagen würden? Sie sind klein und rosa?“
Fabian lachte. „Wahrscheinlich. Aber wenn sie sprechen könnten, würden sie wahrscheinlich erst mal andere Sachen sagen. Zum Beispiel He, wie wär´s mit einem größeren Gehege? oder: Wann gibt´s endlich Futter?“
Sie verabredeten sich zum Eisessen und Ricarda eilte zu den Tellern zurück. Es würde bestimmt wieder lustig werden, mit Fabian war es immer lustig. Sie fragte sich, ob sie in ihn verliebt war. Aber so was war manchmal schwer zu sagen. Verdammt schwer.
Gerade als sie den Tellerstapel wieder hochnehmen wollte, klingelte das Telefon noch einmal. Ricarda schnappte sich den Hörer.
Es war Sofia. „Ich komm mit!“, brüllte sie so laut, dass Ricarda Angst um ihr Trommelfell bekam. „Freunde meiner Eltern sind schon in Thailand gewesen und waren begeistert, das hat sehr geholfen. Ist ja auch wirklich ein praktisches Land. Schön warm, keine Haie, keine Malaria, Volksaufstände nur hin und wieder. Kannst du mir den Link zu dieser Organisation mal geben?“
„Äh, ja, mach ich“, versprach Ricarda, und dann kroch auf einmal Panik in ihr hoch. Sie kam aus dem Nirgendwo und packte sie mit eisigen Klauen. Kalter Schweiß auf ihrem Körper. „Aber äh, ich weiß noch gar nicht, ob ich wirklich fahre ...“
„Wie? Was? Wieso nicht?“
„Du, ich muss auflegen, ich ruf dich später nochmal an.“
Ricarda rannte die Treppe hoch, warf sich auf das grüne Cordsofa unter ihrem Hochbett. Sie fühlte sich den Puls, ihr Herz klang ganz stolperig, aber nach und nach beruhigte es sich. Atmen. Ganz tief atmen. Wo war diese Panik auf einmal hergekommen? Gerade jetzt, wo alles klappte?
Jemand klopfte an die Tür ihres Zimmers.
„Alles in Ordnung, mon bijou?“, fragte ihr Vater. „Darf ich mal kurz reinkommen?“
„Okay“, sagte Ricarda und setzte sich langsam auf. Ihr Kreislauf schien wieder in Ordnung zu sein, ihr war nur ein bisschen schwindelig.
Ihr Vater setzte sich auf eine Armlehne des Sofas. „Das eben war Sofia, oder? Was genau meinte sie mit ´Ich komme mit´? Will sie mit nach Arles? Das ist natürlich kein Problem, aber ich muss es rechtzeitig wissen, damit sich Jacques und Marie-Claire darauf einstellen können.“
Jetzt war es also so weit. Vielleicht war es besser so. Wer wusste, wie lange sie sonst gebraucht hätte, um es ihren Eltern zu gestehen.
„Ich würde in diesen Sommerferien lieber etwas anderes machen ...“
„Sprich bitte nicht so leise, du weißt, dass das unhöflich ist.“
Ricarda zwang sich lauter zu sprechen. „Es gibt da so ein Elefantenprojekt in Thailand, bei dem man als Helfer mitmachen kann ... ich würde gerne für zwei Wochen hinfahren ...“
Auf der Stirn ihres Vaters bildete sich eine steile Falte. „Du willst nicht mit nach Arles? Warum denn das? Kannst du mir mal sagen, wie ich das Onkel Jacques beibringen soll?“
„Papa, ich kenne Arles, Paris und den Rest von Frankreich schon in- und auswendig ... es gibt in der Welt noch viel mehr zu sehen!“ Ricarda war erstaunt über sich selbst. Es war in der Familie nicht üblich, Papas Gebote in Frage zu stellen.
„Habe ich überhaupt richtig gehört, du willst irgendwas mit Elefanten machen?“
„Ja. Ich finde sie toll. Und es ist so schade, dass man sie hier in Deutschland nicht richtig kennenlernen kann.“
Sein Blick sagte klar und deutlich, dass er diese Idee für ausgemachten Blödsinn hielt. „Reichen dir nicht ein paar Pferde, so wie anderen Mädchen auch? Du könntest Reitstunden nehmen, wir geben dir ein bisschen Geld dazu.“
„Das ist doch was ganz anderes.“ Ricarda stand auf; sie hielt es nicht mehr aus, neben ihrem Vater zu sitzen. Doch es fühlte sich auch seltsam an, jetzt mitten im Raum zu stehen. Sie wusste nicht, wohin mit ihren Händen, und es fiel ihr schwer, dem Blick ihres Vaters zu begegnen. Aber dann hob sie doch die Augen, sah ihm direkt ins Gesicht. „Ich will es gerne machen. Das mit den Elefanten. Warum geht das nicht? Es sind doch nur zwei Wochen und ich bezahle alles selber. Genug gespart habe ich.“
„Du kommst mit nach Arles. Punkt.“ Ihr Vater erhob sich, ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer.
So schnell geht das, dachte Ricarda wütend. Man tritt auf den Traum drauf und dreht den Schuh ein paarmal, dann bleibt nur bunter Matsch übrig.
Doch sie war nicht nur sauer und traurig, da war noch ein anderes Gefühl. Erleichterung? Es wäre schwierig geworden. Anstrengend. Teuer. Riskant. Vielleicht war es besser so. Aber sie würde es Sofia sagen müssen. Immerhin, jetzt hatte sie eine gute Entschuldigung für den Rückzieher. Vielleicht würde Sofia die Fahrt jetzt einfach allein durchziehen, sie hatte so begeistert geklungen am Telefon.
Der Gedanke schmeckte gallenbitter.
Ricarda legte ihre aktuelle Lieblings-CD – die von Ich + Ich – ein, drehte die Lautstärke auf und legte sich wieder auf die Couch.
Ich warte schon so lange
Auf den einen Moment
Ich bin auf der Suche
nach hundert Prozent
Wann ist es endlich richtig
Wann macht es einen Sinn?
Ich werde es erst wissen
Wenn ich angekommen bin ...
Etwa eine Stunde später öffnete sich die Tür ihres Zimmers. Diesmal war es ihre Mutter. Sie schrie ein paar Worte, merkte, dass sie nicht verstanden wurde, und ging zur Anlage, um die Musik leiser zu drehen.
„Rica? Was genau hast du vor, kannst du mir das auch mal erklären?“
Ricarda seufzte und erklärte es noch einmal. Es hörte sich noch ferner, noch unwirklicher an als zuvor. Und was viel schlimmer war – albern hörte es sich an. Elefanten retten, haha.
Doch ihre Mutter lachte nicht. „Klingt toll“, sagte sie. „Und es ist eine Schande, dass wir meine günstigen Flugtickets nicht nutzen. Wir könnten uns so viele interessante Länder anschauen und fahren doch immer an die gleichen Orte. So ganz recht ist mir das auch nicht. Deshalb habe ich eben mal ernsthaft mit Pierre geredet.“
Langsam setzte Ricarda sich auf, starrte ihre schmale, blonde Mutter an. Seit wann setzte sich ihre Mutter gegen Papas Regeln zur Wehr? Es geschahen doch noch Wunder!
„Es hat eine Weile gedauert. Aber jetzt ist er einverstanden, dass du diesen Sommer mal etwas anderes machst. Es sind ja auch nur zwei Wochen. Wenn du magst, kannst du anschließend nachkommen nach Arles.“
„Ich glaube nicht“, sagte Ricarda und einen herrlichen Moment lang lächelten sie und ihre Mutter sich an.
Wilde Freude quoll in Ricarda hoch. Sie spürte, dass etwas in ihr sich entschieden hatte, Ja sagte zu Thailand und den Elefanten. Sie würde es schon irgendwie schaffen. Mit Sofia zusammen konnte sie alles schaffen! Sie kannten sich seit der Grundschule; Sofia hatte als Einzige zu ihr gehalten, als die anderen Kinder gemein zu ihr gewesen waren. Jahre danach hatte Ricarda zum ersten Mal den Begriff „Mobbing“ gehört und begriffen, was damals geschehen war. Später hatten sie zusammen Drachen steigen lassen, sich beim Einradfahren die Knie aufgeschrammt, nächtelang miteinander gechattet, im Auftrag des Direktors ein riesiges Wandgemälde an die Schulwand gepinselt, das heute noch bewundert wurde. Einmal hatten sie sogar eine Nacht wild gecampt, mitten im Odenwald. Und jetzt – Thailand. Das war eine Nummer größer. Nein, gleich ein paar Nummern.
Toll wird es werden, entschied Ricarda. Und die Stimme in ihrem Inneren, die sonst immer zweifelte, kuschte und gab ausnahmsweise Ruhe.
Die Türen ihres Kleiderschranks standen weit offen. T-Shirts. Tops. Fleece-Pullis. Shorts. Jeans. Rein damit in den Koffer. Wieso hatte sie eigentlich so verdammt viele schwarze Sachen? Die würden die Sonne aufsaugen, Schwitzgarantie. Außerdem passte es nicht zu dieser Reise, etwas in ihr sträubte sich dagegen. Hatte sie nicht auch irgendwo ein hellblaues T-Shirt und eins in orange? Ricarda wühlte sich tief in ihren Schrank hinein ... und ihre Finger stießen auf etwas Hartes, einen Lederkasten.
Obwohl sie es geschafft hatte, ihn und seinen Inhalt zeitweise völlig zu vergessen, wusste sie sofort, was sie gefunden hatte. Ihre Finger zuckten zurück, als hätte sie sich verbrannt, und ihr Magen zog sich zusammen wie eine Faust. Wieso hatte sie das Ding noch nicht weggeschmissen? Besser, sie schmuggelte es in den Müll und wurde es endlich los. Nie wieder sollte es sie daran erinnern, was geschehen war, was sie getan hatte ... Weg damit, weg!
Doch gerade als sie es hervorgezogen hatte, kam ihre Mutter herein. Angeklopft hatte sie eine Sekunde vorher, viel zu kurz, um darauf zu reagieren. Ricarda stand in der Bewegung erstarrt, sprachlos vor Schreck. Der lederne Halteriemen war noch um ihre Hand geschlungen.
„Ach, dein Fernglas, das habe ich ja lange nicht mehr gesehen“, sagte ihre Mutter und lächelte. „Das nimmst du bestimmt mit, oder? Es gibt eine Menge Tiere zu beobachten in Thailand.“
„Ja“, krächzte Ricarda und legte den Lederkasten in ihren Koffer. Doch als ihre Mutter weg war, nahm sie ihn wieder heraus und stellte ihn zurück in den Schrank.