Читать книгу Der Elefanten-Tempel - Катя Брандис - Страница 5
Groß und grau
ОглавлениеHintereinander schritten die grauen Riesen aus dem Wald, noch nass und dunkel von ihrem Bad, während Ricarda und Sofia am Rand der Lichtung stehen blieben und staunten. Die Elefanten bewegten sich fast lautlos, bis auf das Knack-Woosh, als einer von ihnen mit dem Rüssel einen Ast packte, ihn abriss und sich ins Maul stopfte. Die Mahouts saßen entspannt und locker in ihrem Nacken, gleich hinter dem großen, gewölbten Kopf.
Jetzt spürte Ricarda das eigenartige Vibrieren in der Luft nicht mehr, obwohl sie viel näher dran waren und die Tritte den Boden erbeben ließen. Seltsam!
Gemächlich verteilten sich die Elefanten über das Gelände. Mit einem leisen Befehl brachten die Mahouts ihre Tiere dazu, ein Vorderbein zu heben, und kletterten daran hinab auf den Boden. Die meisten der Mahouts beachteten Ricarda und Sofia nicht, sie waren mit ihren Tieren beschäftigt, doch als einer der Männer Ricarda und Sofia sah, winkte er sie herüber.
Ricarda klopfte das Herz bis zum Hals, als sie sich in Bewegung setzten. „Ich glaube, das ist Ruang, der Chef hier“, sagte sie leise zu Sofia, und die nickte. Es beruhigte Ricarda, dass auch Sofia ein wenig nervös wirkte.
Ruang war ein kleiner, aber muskulöser Mann mit schwarzen Haaren im Bürstenschnitt und einem Schnurrbart. Wie die anderen Mahouts war er barfuß und einfach gekleidet, in weite Hosen und ein Hemd, das von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Darin steckte eine Art Stock mit einem Metallhaken an einem Ende. Oje, wozu benutzten die das Ding? War das so eine Art Gerte für Elefanten? Das sah ganz schön brutal aus!
Der Chef des Elephant Refuge strahlte Autorität aus, und auf einmal machte sich Ricarda Sorgen. Was, wenn er entschied, dass sie für die Arbeit mit Elefanten nicht zu gebrauchen, weil zu schüchtern war?
„Das ist Mae Suchada“, stellte Ruang seinen Elefanten vor. Freundschaftlich hängte Mae Suchada ihm den Rüssel über die Schulter und schnaufte. „Die Namen aller erwachsenen Weibchen, die schon Nachwuchs hatten, beginnen in Thailand mit Mae, das ist Tradition.“
Mae Suchada fächelte mit den Ohren und streckte den Rüssel vor – was sollte das heißen, war sie neugierig? Ricarda versuchte in ihren teebraunen Augen zu lesen, die von dichten, fingerlangen Wimpern umgeben waren. Freundlich und gelassen sahen diese Augen aus.
Jetzt stand Ricarda nur noch eine Armlänge von der Elefantin entfernt. Es war ein überwältigendes Gefühl, diesem gewaltigen Tier so nahe zu sein. Instinktiv streckte sie der Elefantin die offene Handfläche hin und die Rüsselspitze untersuchte sie.
„Sie nimmt deine Witterung auf“, sagte Ruang.
„Hallo, du“, sagte Ricarda leise auf Deutsch. Wahrscheinlich verstand ihr Gegenüber nur Thai, aber egal, den Ton ihrer Stimme würde sie begreifen. Vorsichtig streichelte Ricarda über den Rüssel, der dort, wo er in die Stirn überging, hart war wie die Rinde eines Baumes und weiter unten biegsam wie festes Gummi. Ein paar drahtige Haare sprossen darauf.
Sofia blickte skeptisch drein. „Spürt sie überhaupt, wenn man sie berührt, durch ihre dicke Haut?“
„O ja.“ Ruang nickte. „Sie merkt sogar, wenn eine Fliege auf ihr landet. Und an manchen Stellen ist sie richtig kitzelig, zum Beispiel an den Fußsohlen.“
„Was bedeutet denn ihr Name ... Suchada?“, wagte Ricarda zu fragen.
„Die Hochgeborene“, erklärte Ruang. „Weil sie ein ranghohes Weibchen ist. Aber als sie zu uns kam, hatte sie Entzündungen am ganzen Körper, ihr Besitzer hatte sie vernachlässigt. Wir haben sie freigekauft. Schon längst ist sie geheilt und wir können sie reiten.“ Er hob den Finger. „Regel hier im Refuge, niemand reitet Elefanten allein, immer jemand dabei. Okay?“
„Okay“, sagte Ricarda gehorsam.
„Okay?“, beharrte Ruang und sah Sofia an. Doch die antwortete nicht, sondern schrie auf.
Hinter ihr stand ein junger Elefant, der kaum so groß war wie sie, und stupste sie mit dem Rüssel an. Auf seinem Kopf sprossen dichte braune Haare, noch nie hatte Ricarda einen so wuscheligen Elefanten gesehen. Der Kleine quiekte vor Vergnügen, dass ihm die Überraschung gelungen war, und rannte mit hocherhobenem Rüssel davon.
„Vor Noi müsst ihr euch in Acht nehmen.“ Mit einem Blick, der halb streng und halb amüsiert war, blickte Ruang dem Kalb hinterher.
„Sie hat mir eine Rolle Mentos aus der Hosentasche geklaut! Die waren noch aus Deutschland!“ Sofia musste lachen. „Ich fürchte, sie hat das Einwickelpapier mitgefressen.“
„Sie bekommt gleich noch was anderes in den Magen, glaube ich“, meinte Ricarda und deutete auf den großen freien Platz. Inzwischen hatten die anderen Mahouts dort Futter von einem Anhänger abgeladen und verteilten es in großen Haufen auf dem Gelände. Etwas, was Ricarda als Bambus erkannte, Reste von Maispflanzen, Teile von Bananenstauden.
Die anderen Elefanten mampften schon friedlich und nun gesellte sich auch Mae Suchada zu ihnen. Sofort eroberte sie sich den besten Platz, der Rest der Herde rückte respektvoll beiseite.
Ruang drückte Sofia und Ricarda Schaufeln in die Hände, so waren sie Minuten später eifrig dabei, mit den anderen Mahouts Futter abzuladen. Ricarda mochte den saftigen Geruch der frisch geschnittenen Pflanzen und es tat gut, sich zu bewegen, mit den Händen zu arbeiten.
„Wie viel frisst jeder Elefant pro Tag?“, fragte sie Kaeo.
„Je nach Größe – die Kühe etwa achtzig Kilo, die Bullen bis zu zweihundert Kilo.“
„Zweihundert Kilo?“ Ricarda blieb der Mund offen stehen. Ihr dämmerte, dass sie noch öfter unterwegs sein würde, um Futter für die Tiere zu besorgen.
Kurz darauf zerriss ein lautes Knattern den Frieden, ein schlammbespritztes kleines Motorrad holperte die Einfahrt hoch und zwei Jugendliche stiegen herunter: ein etwa sechzehnjähriges Mädchen und ein etwa neunjähriger Junge, der einen Kopf kleiner war als sie und langbeinig wie ein Fohlen. Mit seinem runden Kindergesicht staunte er die Fremden an, und Ricarda hätte ihn am liebsten spontan an sich gedrückt. So mussten kleine Brüder sein, nicht wie Severin!
Das Mädchen trug zu einem Pferdeschwanz zurückgebundene Haare und eine brave Schuluniform – weiße Bluse mit dunkelblauem Blazer darüber, weiß-blau-karierter Rock, weiße Söckchen. Gut, dass wir so was nicht anziehen müssen, dachte Ricarda und fragte sich, wer das Mädchen war. Arbeitete es auch hier?
Das Mädchen warf nur einen kurzen Blick auf die Neuen und turnte dann die Treppe zum Haupthaus hoch. Kurz darauf kam sie im T-Shirt und einer weiten knöchellangen Hose wieder zum Vorschein. Jetzt konnte Ricarda einen genaueren Blick auf sie werfen. Sie hatte lange, glänzende schwarze Haare und ein etwas eckiges Gesicht mit ausgeprägten Backenknochen und einer breiten Nase.
„Hey, you!“, rief sie ihnen zu, während sie eine Kiste mit Obst vom Gepäckträger des Mopeds lud. Sie lächelte breit und zeigte dabei eine kleine Lücke zwischen ihren Vorderzähnen. „Zwei Farang bei uns, wie schön. Great. Ihr seid die beiden aus Deutschland, oder?“
Sofia lächelte genauso breit zurück und Ricarda versuchte es ebenfalls. Wenn das so weiterging, würden sie sich noch die Mundwinkel ausrenken.
„Ich bin Chanida, und das ist nong Tao, mein kleiner Bruder. He, wollt ihr euch ein bisschen beliebt machen bei euren Elefanten?“
„Haben wir denn welche?“ Sofia zog die Augenbrauen hoch und lächelte.
„Oh, Por hat euch das noch nicht erklärt ... na ja, mai pen rai, macht nichts, kommt einfach mit.“ Sie warf Sofia eine braun verfärbte Ananas zu. „Hier, nimm das, Mae Jai Di ist ganz wild danach.“
Wie sich herausstellte, war Mae Jai Di die Elefantin, die Sofia in den nächsten beiden Wochen betreuen sollte. „Die ist richtig nett“, berichtete Chanida. „Sehr sanft. Kälber liebt sie; wenn eins geboren wird, ist sie sofort zur Stelle und bietet ihre Dienste als Tante an.“
Neugierig stand Chanidas kleiner Bruder neben ihr und sagte kein Wort, verstand er überhaupt Englisch?
„Bis vor Kurzem musste sie bei einem Trekkingunternehmen schuften, obwohl sie trächtig ist“, fuhr Chanida fort. „Keine Rücksicht, den ganzen Tag den Berg rauf und runter, mit so einem blöden howdah, einem Gestell auf dem Rücken! Dadurch hat sie Rückenprobleme bekommen.“
„Äh, trächtig – das heißt doch schwanger, oder?“ Ratlos betrachteten Ricarda und Sofia die Elefantin. Sie war keineswegs kugelrund, nicht einmal besonders dick sah sie aus.
„Sieht man bei Elefanten erst ganz zum Schluss. Aber man kann es testen. Mit dem Pipi. Wie heißt das nochmal in Englisch? Ach, egal. Hier!“ Chanida drückte Ricarda eine matschige Mango in die Hand. "Und das ist für deine neue Freundin. Daeng. Sie musste in Bangkok betteln, ehe wir sie rausgeholt haben. Übrigens ist sie erst zwölf, fast noch ein Kind.“
Die Mango war sehr, sehr klebrig und es liefen ein paar Ameisen darauf herum. Ricarda schaute sich nach einem Eimer Wasser um, in dem sie sich nachher die Hände waschen konnte. Sie überlegte, ob sie Chanida gestehen sollte, dass sie einen dieser Bettelelefanten gefüttert hatte. Doch eine Sekunde später platzte schon Sofia damit heraus.
Chanida blickte grimmig drein. „Das Betteln in Bangkok ist inzwischen verboten, und das ist gut so. Aber manche Mahouts riskieren es trotzdem. Wenn die Polizei sie erwischt, passiert nicht viel, dann werden sie einfach aus der Stadt geworfen.“
„Elefantenwerfen? Ist das eine eurer Sportarten?“ Sofia blickte todernst drein. „Da braucht man ganz schön Muskeln für, oder?“
Chanida lachte begeistert, packte Sofia an einer Hand und zog sie mit sich, in Richtung einer friedlich fressenden Elefantin. Etwas langsamer folgte Ricarda. Sie fragte sich, welches der vielen Tiere Daeng sein mochte. Nein, sie waren nicht einfach groß und grau, Ricarda konnte sie schon ein wenig unterscheiden. Die Elefantin, an deren Seite die kleine Noi immer wieder zurückkehrte, hatte längere Beine als die anderen und eine herunterhängende Unterlippe. Ein anderes Tier hatte einen besonders stark gewölbten Kopf und sein Rüssel war auffällig rosa gesprenkelt. Auch die Ohrform sah bei jedem unterschiedlich aus, bei manchen Tieren – wahrscheinlich den älteren – war der obere Rand ein bisschen eingerollt. Nur zwei der Elefanten hatten Stoßzähne, wahrscheinlich waren das die Bullen.
Sofia und Chanida waren schon ein Stück voraus und lachten gerade über einen Witz. Die kleine Noi trabte hinter ihnen her und fing an, sich mit einem jüngeren Kalb zu balgen. Ein Tauziehen um einen Zweig begann, und dann, als das langweilig wurde, eine Rangelei mit verschlungenen Rüsseln.
Mae Jai Di nahm die Ananas wohlwollend entgegen. Dann befahl Chanida der Elefantin, in die Knie zu gehen, und Sofia, die Schuhe auszuziehen. Sofia strengte sich an, um mit bloßen Füßen die Schulter ihres neuen Schützlings hochzuklettern und sich in ihren Nacken zu hieven. Geduldig ließ Mae Jai Di es sich gefallen, dass Sofia sie am Rand des grauen Ohrs packte, um sich hochzuziehen. Schließlich thronte Sofia oben und winkte stolz. Ricarda ließ die Mango fallen, wischte sich die Hände an der Hose ab und zückte die Digitalkamera – Sofia hoch auf dem Elefanten, das musste für die Nachwelt festgehalten werden! Vielleicht gab es hier sogar Internet, dann konnten sie das Foto an Lilly, Fabian und die anderen mailen.
Als sie das nächste Mal hinschaute, angelte ein Rüssel nach der Mango, Sekunden später verschwand die Frucht in Mae Jai Dis Maul.
„Nong, kleiner Bruder, holst du bitte eine neue?“, bat Chanida Tao, und der flitzte sofort los zur Obstkiste – gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass der Inhalt von einem Rüsseltier geplündert wurde.
„Nächstes Mal kannst du bestimmt schon aufsteigen, während Mae Jai Di steht“, erklärte Chanida Sofia. „Der Befehl lautet song suung. Sie hebt dann ein bisschen das Vorderbein und du kletterst daran hoch nach oben. Wenn du wieder nach unten willst, sagst du hab suung.“
Ricarda wurde immer zappeliger. Wann war sie endlich dran? Zum Glück kam kurz darauf Kaeo vorbei und schien zu erraten, was sie dachte, denn er nahm sie mit zu „ihrer“ Elefantin Daeng. Sie war etwas kleiner als die anderen erwachsenen Tiere der Herde und wirkte zurückhaltender, aber freundlich. Wie ähnlich wir uns sind, dachte Ricarda mit einem schiefen Grinsen und fütterte ihre neuen Freundin mit einer Mango. Daengs Rüsselspitze schloss sich geschickt um die Frucht und beförderte sie zum Maul. Ricarda ertappte sich dabei, dass sie immer darauf schaute, was Daengs tastende, schnuppernde, greifende Rüsselspitze gerade machte; ihre neue Freundin zu füttern und ihr gleichzeitig in die Augen zu sehen ging nicht. Das war gewöhnungsbedürftig.
„Wieso heißt sie Daeng, was bedeutet das?“
„Rötliche Haut“, erklärte Kaeo und zeigte auf die vielen rosa Sommersprossen, die sich über Daengs Rüssel, Ohren und Körper zogen. „Leider ist es noch nicht genug, sonst könnte man sie weiß nennen. Ganz weiße Elefanten – Chang Pheuak – haben davon noch viel mehr. Und sie haben auch ganz helle Augen.“
„Weiße Elefanten sind gar nicht weiß, sondern rosa?“ Ricarda war enttäuscht, als Kaeo nickte. Ein rosa Elefant, das sah bestimmt nicht sehr würdevoll aus, sondern eher so wie Sofias Schmuseschwein. Aber diesen Vergleich behielt sie wohl besser für sich.
„Ist es eigentlich immer noch so, dass weiße Elefanten dem König gehören?“
Kaeo nickte respektvoll. „Ja, soweit ich weiß, hat Seine Majestät im Moment zehn von ihnen in den königlichen Ställen.“ Plötzlich grinste er. „Aber weißt du, was lustig ist? Wilde Elefanten selbst mögen weiße nicht, die stoßen sie aus ihren Herden. Manchmal hat man Chang-Pheuak-Babys allein im Wald gefunden, über und über mit Matsch beschmiert. Wahrscheinlich ihre grauen Mamas hatten versucht sie zu tarnen, um sie zu schützen. Hat aber nichts genützt.“
Ricarda war erschüttert. Sie fand das nicht lustig, sondern schrecklich. Es war ein Glück für Daeng, dass sie nicht ganz weiß war.
Jetzt aber los, sie wollte endlich hoch auf Daengs Rücken. Ricarda zog sich die Schuhe aus, sie wusste ja schon so in etwa, wie das mit dem Aufsteigen funktionierte. Doch Kaeo lächelte hinter seiner coolen Sonnenbrille verschmitzt und gab der jungen Elefantin ein Kommando. Ihr Rüssel wand sich um Ricardas Hüfte, fest und unglaublich muskulös, jeder Widerstand war zwecklos. Auf einmal baumelten Ricardas Füße in der Luft.
„He!“, japste Ricarda, aber da war sie schon auf halbem Weg zu einem Sitzplatz auf Daengs Kopf. Sie krabbelte ganz nach oben, und der Rüssel gab sie frei, schlängelte sich zurück. Klar, dachte Ricarda, wer einen Baumstamm heben kann, der schafft ein Mädchen schon lange!
Sie machte es sich bequem auf Daengs riesigem warmen Körper. Ihre Beine hingen jetzt zu beiden Seiten von Daengs Kopf herab, manchmal flappte ein Ohr, das sich wie trockenes, staubiges Leder anfühlte, gegen ihr Schienbein. Hier oben saß man gar nicht so schlecht und sicher besser als auf Daengs Rücken, auf dem sich wie bei den anderen Elefanten ein knochiges Rückgrat weit nach oben wölbte.
Ricarda spürte, dass Daeng abwartete, um zu sehen, was ihre Reiterin vorhatte. Ihr Rüssel ringelte sich nach oben, tastete nach dem Menschen, der auf ihr saß. Leider hatte Ricarda nichts mehr, mit dem sie ihre neue Freundin beschenken konnte, nicht mal eine matschige Mango.
„Was soll ich jetzt machen?“, fragte sie unsicher. Ganz schön hoch oben war sie jetzt, der Erdboden schien sehr weit entfernt. Hoffentlich fiel sie nicht runter, hatte Lampang eigentlich ein Krankenhaus?
„Du sagst ihr mit Füßen und mit Stimme, was sie tun soll“, erklärte Kaeo und schaute zu ihr hoch. „Pai bedeutet vorwärts. Gleichzeitig du drücken sie mit den Zehen hinter dem Ohr.“
Ricarda probierte es aus. Daeng machte einen Schritt nach vorne, überlegte es sich dann wieder anders und blieb stehen.
„Fester mit den Zehen, nicht nur stupsen! Du musst das Kommando anders sagen.“
„Wie denn? Lauter?“ Ricarda hatte das Gefühl, sich gerade ziemlich dämlich anzustellen. Und schließlich hatten ihre Eltern es ihr schon tausendmal gesagt. Sprich doch bitte lauter, Ricarda! Es gab kaum etwas, das Ricarda mehr hasste als diesen Spruch.
Zum Glück überraschte Kaeo sie. „Nein, nicht lauter“, winkte er ab. „Du hast schöne leise Stimme und Elefanten sehr gute Ohren. Aber so sagen, dass Daeng weiß, du meinst es ernst!“
So bestimmt wie möglich wiederholte Ricarda den Befehl und drückte Daeng die Zehen hinter die Ohren. Und diesmal klappte es, gehorsam setzte sich die junge Elefantin in Bewegung. Ricarda spürte, wie sich Daengs große Schultern bewegten, aber es schaukelte nicht sehr, weich federten ihre runden Füße am Boden ab.
„Und, wie es sich fühlt an?“, lachte Kaeo.
Es war der rechte Moment, um die zwei Worte Thai anzubringen, die sie schon konnte. „Sabai sabai – alles prima!“
Zwei Minuten später fiel Ricarda auf, dass Kaeo vergessen hatte, ihr den Befehl für „Halt!“ beizubringen. Daeng marschierte einfach weiter, auf den Pfad zu, der zum Fluss führte. Anscheinend hatte sie Lust, das Bad von heute morgen fortzusetzen.
Von irgendwoher hörte sie Kaeo etwas rufen, aber ob es der Befehl war oder ein Fluch oder sonst was, konnte sie nur raten. Daeng ging noch ein bisschen schneller, sie hatte den Kopf gehoben und wirkte jetzt ausgesprochen gut gelaunt.
„Sag ihr how, drück zusammen die Knie und nimm Zehen weg!“, rief Kaeo ihr jetzt zu.
Ricarda tat es, und tatsächlich, Daeng wurde langsamer, hielt schließlich an. Puh, Glück gehabt.
„Braaav“, seufzte Ricarda auf Deutsch und tätschelte ihre Elefantin. Daeng schnaufte, und dann ertönte etwas, was wie ein kleiner Wasserfall ganz in der Nähe klang. Kaeo sprach mit ihr, aber Ricarda konnte ihn nicht hören, weil das plätschernde Geräusch alles übertönte. Fragend drehte sie sich auf ihrem Hochsitz halb um und sah, dass auf der Erde gerade eine riesige gelbliche Pfütze entstand. Soso, das war also der Sturzbach gewesen.
„Gut gemacht, ihr beiden“, sagte Kaeo und dann durfte Ricarda absteigen. Als sie wieder mit beiden Beinen auf der Erde stand, stellte sie fest, dass ihre Knie zitterten. Außerdem war ihre Wade aufgeschürft von der Haut der Elefantin und ihre Zehen taten weh. Egal! Es war herrlich gewesen. Dankbar klopfte sie Daengs Bein und die junge Elefantin ringelte zutraulich den Rüssel um ihr Handgelenk.
Auch Sofia war inzwischen wieder abgestiegen und kam herübergeschlendert. „War das nicht cool?“
„Extrem cool“, nickte Ricarda. „Meinst du, wir können morgen schon mitkommen zum Badestündchen am Fluss?
„Chanida hat angedeutet, dass wir mitdürfen, sobald wir die Grundkommandos halbwegs richtig aussprechen.“
Sie machten sich auf den Weg zu ihrer Hütte, um endlich ihre Dusche nachzuholen. Dabei probierten sie einen anderen Weg über das Gelände aus, um zu erforschen, was sich dort alles verbarg. Eine ganze Menge, wie sich herausstellte – mitten unter großen schattigen Bäumen stand ein Pferch mit einer Elefantin, die mager und ungepflegt aussah. Ruang hielt sich am Gatter auf und beobachtete sie. Nervös schwenkte sie den Rüssel in Ruangs Richtung, hielt den Kopf gesenkt und die Ohren eng an den Kopf gepresst. Sie hatte eine offene Wunde am Bein, um die sich schon Fliegen gesammelt hatten.
Ruang beobachtete sie mitleidig. „Ihre Haltung bedeutet, sie unterwirft sich uns. Anscheinend ist sie geschlagen worden. Kennt es nicht mehr anders.“
„Welcher Elefant ist das denn?“, fragte Sofia neugierig.
„Laona heißt sie. Erst seit ein paar Tagen bei uns.“ Ruang wandte nur kurz den Blick von der Elefantin, um sich aus einer Thermoskanne etwas einzuschenken. Roch nach irgendeinem Saft. „Ihr geht nicht in ihre Nähe, okay? Zu gefährlich. Sie denkt wahrscheinlich jetzt, Menschen sind Feinde. Wer nicht stark genug ist, sie zu etwas zu zwingen, den könnte sie angreifen.“
„Armes Vieh“, murmelte Ricarda. „Wer kommt bloß auf die Idee, einen Elefanten zu schlagen? Wenn der sauer auf dich ist, kann er dich einfach gegen einen Baum werfen.“
Sofia stöhnte. „Oh, danke, das habe ich gebraucht. Jetzt traue ich mich nicht mehr an Mae Jai Di ran.“
„Ach, Quatsch. Ich glaube, die ist total lieb, die würde so was nie machen.“
„Aber der hier schon. Liebend gerne.“
Angekettet an einen Baum, im Schatten und erst auf den zweiten Blick sichtbar, stand ein Elefant mit einem gewaltigen gewölbten Schädel und einem einzelnen Stoßzahn – der andere fehlte. Unruhig bewegte er sich, wandte sich plötzlich gegen den Baum und drückte mit der Stirn dagegen, bohrte den spitzen Stoßzahn ins Holz und riss ein Stück Rinde ab. Der Baum erbebte, ein paar Blätter flatterten zu Boden und ein Waldvogel machte sich mit einem schrillen Schrei aus dem Staub. Ricarda und Sofia gingen ein paar Schritte zurück.
„Ich glaube, das ist der Musth-Bulle, von dem Kaeo erzählt hat“, flüsterte Ricarda. „Khanom. Er hat ganz wütende Augen.“ Nicht nur das, sein Blick sprühte förmlich vor Bosheit. Na, hoffentlich war das vorübergehend. Und hoffentlich schaffte er es nicht, sich von diesem Baum loszureißen. Was dann? Wegrennen? Oder irgendwo hochklettern?
„Was ist mit ihm los, weint er?“
Ja, jetzt sah es Ricarda auch, über die Schläfen des Elefanten liefen dunkle feuchte Spuren. Aber Tränen waren das keine, die Flüssigkeit roch scharf und unangenehm. „Ich glaube, das ist die Flüssigkeit, die Kaeo erwähnt hat. Die zur Musth dazugehört, als Duftsignal.“
„Duft?“ Sofia verzog das Gesicht. „Na ja.“
Nach dem Duschen waren sie beide so müde, dass sie es nur noch mit Mühe und Not schafften, sich zu einem schnellen Curry zur Suppenküche der Mahouts zu schleifen. Das war ein an den Seiten offener, einfacher Unterstand mit einem Boden aus Holzplanken, in dem mit einem Gaskocher gebrutzelt wurde. Zehn Mahouts saßen schon an einer langen Bank und schaufelten plaudernd ihr Essen in sich hinein. Sofia und Ricarda schnappten sich einen Teller, ließen sich eine Portion Reis, Fleisch und Gemüse darauf klatschen und setzten sich dazu. Die Männer nickten ihnen freundlich zu, aber die meisten schienen kein Englisch zu können, nach dem ersten „Hello“ stockte die Unterhaltung. Schon bald wankten Ricarda und Sofia zu ihrer Hütte zurück und fielen in die Betten.
Sofia gähnte und küsste ihr Plüschschwein auf die Schnauze. „Gute Nacht!“
„Wen hast du gemeint, mich oder das Vieh?“ Ricarda streifte ihr Schlaf-T-Shirt über.
„Dich natürlich. So krank bin ich auch wieder nicht.“
„Na, dann ist ja gut. Träum was Schönes!“
„Du auch.“
Im Halbschlaf schien es Ricarda, dass draußen irgendein Aufruhr herrschte. Äste knackten, dann hörte sie fragende thailändische Stimmen, im Hintergrund das tiefe Schnaufen und Scharren von Elefanten. Es dauerte ein paar Minuten, bis Ricarda sich dazu überwinden konnte, aufzustehen; Sofia war gar nicht erst wach geworden.
Ricarda lehnte sich ans Fenster und schaute nach draußen. Es war nicht völlig dunkel, der zunehmende Mond tat sein Bestes, um die Sterne zu überstrahlen. Außerdem brannte im Haupthaus noch Licht. Ein paar Leute gingen mit schnellen Schritten über das Gelände. Ricarda fröstelte in der kühlen Nachtluft, doch ihre Neugier war geweckt. War irgendwas vorgefallen? Doch weiter tat sich nichts, und nach ein paar Minuten wünschte sich Ricarda nur noch eins, ins Bett zurückzukriechen.
Draußen surrten ein paar Moskitos und wollten herein, weil sie einen Riesenappetit auf Blut hatten. Vergesst es, mich kriegt ihr nicht, dachte Ricarda. Sie ließ sich wieder auf ihre Matratze sinken und zog das kühle, glatte Laken über sich.
Morgen. Morgen würde sie herausfinden, was geschehen war.