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Paläste und Piña Colada

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Das war also Bangkok! Auf der Straße knatterten Scharen von bunten Mopeds, Taxis, Bussen und Tuk-Tuks – motorisierten Rikschas – an Ricarda vorbei und hinterließen Qualmwolken. Das ständige Gehupe vermischte sich mit Musik aller Art, die aus Autoradios, Läden und tragbaren Anlagen drang. Ricarda rümpfte die Nase. Wenn es ausnahmsweise mal nicht nach Abgas stank, dann aus den Garküchen am Straßenrand nach heißem Öl und Fischsauce oder aus dem Rinnstein modrig. Immerhin war das Wasser, das vor einer Stunde die Straßen in Flüsse verwandelt hatte, schon wieder abgelaufen. Wahrscheinlich direkt in den Chao Praya oder die vielen kleinen Kanäle, die die Stadt durchzogen.

„Das war keine besonders tolle Planung von uns, in der Regenzeit herzukommen“, stöhnte Sofia und wischte mit einem Taschentuch an ihrem Schuh herum.

Ricarda atmete tief durch. Wie ging das nochmal mit dem positiven Denken? „Im Reiseführer stand, dass es nur einmal am Tag regnet und es dafür immerhin sechs Stunden Sonne am Tag gibt.“ Skeptisch kniff sie die Augen zusammen und musterte den Himmel. Grau sah der aus, die Luft war schwer und feucht und warm.

„Okay, es regnet vielleicht nur einmal am Tag, dann aber richtig!“ Sofia seufzte. „Wenn wir draußen gewesen wären, wären wir wahrscheinlich einfach ersoffen.“

Ricarda warf noch einmal einen kurzen Blick in ihren Reiseführer, zuckte dann die Schultern und verstaute ihn in ihrem Rucksack. „Wusstest du, dass Krung Thep, der thailändische Name von Bangkok, ´Stadt der Engel´ bedeutet? Dabei würden die Engel während der Regenzeit glatt vom Himmel gespült werden.“

„Ich glaub auch.“ Sofia lachte. „Egal. Wir lassen uns den Tag in Bangkok nicht vermiesen, bevor wir nach Chiang Mai weiterfahren. Meinst du, wir finden hier irgendwo ein Internetcafé? Ich habe meinen Eltern versprochen, dass ich mich gleich melde, wenn wir angekommen sind.“

„Meinen Eltern soll ich eine SMS schreiben.“ Ricarda tippte auf ihrem Handy herum und stellte fest, dass sie keinen Empfang bekam und außerdem der Akku leer war. „Aber ich glaube, sie bekommen auch eine Mail, ist eh besser, da kann man mehr reinschreiben.“

Internetcafés gab es überall hier in Bangkok. Nachdem Sofia und Ricarda ihre Mails abgeschickt hatten, drängten sie sich unternehmungslustig durch das Touristengewimmel in der Khao San Road.

„Komm, wir schauen uns mal an den Straßenständen um“, schlug Sofia vor. „Brauchst du nicht zufällig eine unechte Rolex?“

Auch gefälschte Ausweise gab es an den vielen Ständen zu kaufen. Ricarda sah sogar Personalausweise aus Deutschland. Nein, so was brauchte sie nicht, und zum Glück gab es auch Dinge, die sie mehr interessierten, zum Beispiel CDs und DVDs, Schmuck, bunte Tücher und Flip-Flops. Alles enorm billig, ein T-Shirt kostete umgerechnet nur zwei Euro.

Allmählich besserte sich Ricardas Stimmung. Wie schön, dass jeder ihr zulächelte. Die Menschen schienen hier viel freundlicher zu sein, nicht so verkniffen wie in Deutschland. Und es gefiel Ricarda auch, dass die Thais Buddhisten waren. Es war ein Glaube, der etwas tief in ihr zum Klingen brachte, weil er Gewalt ablehnte und für Toleranz und Weisheit stand.

„Schade, ausgerechnet eine Buddha-Figur sehe ich nirgendwo – so eine hätte ich gerne gehabt“, meinte Ricarda.

„Frag doch einfach!“

Ricarda ging lieber weiter, so wichtig war es schließlich auch nicht. Aber Sofia hatte die Sache schon in die Hand genommen; mit einem strahlenden Lächeln wandte sie sich an einen der Verkäufer. „Do you have a Buddha statue?“

„I´m very sorry“, sagte der junge Mann mit einem entschuldigenden Lächeln. „No Buddha.“

„Why?“ Sofia ließ nicht locker.

„No Buddha for Farang. Foreigners. They take Buddha home, maybe not respect him, maybe treat him bad.“

Ach so war das. Nein, sie hätte die Statue bestimmt nicht schlecht behandelt, aber es war verständlich, dass die Thais dieses Risiko mit einem so heiligen Gegenstand nicht eingehen wollten. Schließlich wurden die meisten Reiseandenken bald vergessen und staubten irgendwo ein, landeten vielleicht sogar im Keller oder auf dem Flohmarkt.

Ricarda beschloss, zum Abschied mal den traditionellen Wai auszuprobieren, von dem sie im Reiseführer gelesen hatte. Sie legte die Handflächen aneinander und verbeugte sich leicht. „Danke für die Auskunft!“

Jetzt wirkte das Lächeln des Verkäufers überrascht, er erwiderte den Wai und sah ihnen hinterher, als sie weiterschlenderten. Bedeutete das, dass sie es richtig gemacht hatte oder dass die Verbeugung übertrieben tief gewesen war?

„Was meinst du, wollen wir uns noch den Königspalast anschauen?“, meinte Sofia. „Ich glaube, dann sollten wir uns eins dieser Tuk-Tuks schnappen, zu Fuß ist es zu weit.“

„Gute Idee“, antwortete Ricarda, ihre rechte Sandale war nämlich gerade dabei, ihren kleinen Zeh wundzuschubbern. Er hatte schon die Farbe einer reifen Kirsche.

Sofia einigte sich mit dem Tuk-Tuk-Fahrer auf einen Preis von zweihundert Baht, dann kletterten sie in den offenen Fahrgastraum und klammerten sich an einer Metallstange fest, damit sie während der rasanten Fahrt nicht hin- und hergeworfen wurden oder einfach hinten aus der dreirädrigen Höllenmaschine herausfielen. Sofias große silberne Ohrringe pendelten wild.

„Wieso habe ich gerade das Gefühl, dass wir beim Preis übers Ohr gehauen wurden?“, überlegte Sofia; sie musste fast schreien, damit Ricarda sie über den Verkehrslärm verstand.

„Wahrscheinlich, weil es so ist“, brüllte Ricarda zurück. „Aber es sind ja nur drei Euro, egal.“ Der Fahrtwind wehte ihr die langen dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht, was ganz praktisch war, weil sie dadurch mehr sah. Sie hatte sich vor ein paar Wochen einen neuen Haarschnitt zugelegt, in einer weichen Schwinge fiel ihr der Pony über die Stirn. Seither musste sie sich das Haar ständig aus den Augen streichen. Das nervte ein bisschen, wirkte aber hoffentlich elegant.

Sie sahen den Königspalast schon von weitem, mächtig und golden erhoben sich die Tempeldächer und -türme über der Stadt. Kein Hochhaus in ihrer Nähe machte ihnen die Herrschaft streitig, die gläsernen Fassaden der Wolkenkratzer ragten in einem anderen Bezirk der Stadt auf. Der Palast und die Tempelanlagen ließen Ricarda verstummen, sie waren unfassbar prächtig. Manche Gebäude wirkten edel und schlicht, andere bunt und verspielt, steingewordene Lebensfreude. Wie viele Menschen wohl daran gearbeitet hatten, diese Millionen von pastellfarbenen Porzellankacheln anzufertigen und festzukleben?

„Schau mal, manche Tempel werden bewacht“, sagte Sofia und deutete auf mannshohe, bunt kostümierte Dämonenstatuen mit Fratzengesichtern.

„Die sollen bestimmt böse Geister fernhalten“, meinte Ricarda und gähnte. Was nicht an den Dämonen lag, sondern am schrecklich langen Flug. Zum Glück nahmen es ihr die Dämonen nicht übel, dass sie angegähnt wurden, oder ließen es sich zumindest nicht anmerken.

„Ich glaube eher, die sollen schamlose Touristinnen mit Shorts verjagen.“ Sofia grinste. Obwohl es ganz schön heiß war, trugen sie lange Hosen – sonst wären sie nicht eingelassen worden.

Sie teilten sich eine Limo und ruhten sich an einem Teich aus, in dem Lotusblüten die Oberfläche bedeckten. Die rosa-weißen Knospen waren geformt wie Regentropfen und größer als ein Hühnerei. Neugierig beobachtete Ricarda, wie zwei Mönche in orangefarbenen Roben und Sandalen über das Gelände gingen. Ernst und würdig sahen sie aus mit ihren kahl geschorenen Köpfen ...

Der Nachtzug nach Chiang Mai ging erst am Abend, ihr Gepäck hatten sie schon zum Bahnhof gebracht und dort deponiert. Am liebsten hätte sich Ricarda bis zur Abfahrt auf irgendeine Parkbank gelegt und die Augen geschlossen. Doch erstens trug die Bank, die sie sich ausgeguckt hatte, bei näherem Hinsehen ein kleines Schild mit dem Hinweis „For Monks only – Nur für Mönche“, und zweitens kam eine solche Freizeitplanung für Sofia nicht in Frage.

„Vergiss es, wir gehen jetzt noch einen Cocktail trinken“, sagte sie.

„Einen Cocktail?“ Ricarda dachte kurz darüber nach, was ihr Vater dazu sagen würde, wenn sie jetzt gleich ein eisgekühltes alkoholisches Getränk schlürfte. Nicht viel, was druckreif wäre. Aber praktischerweise befand sich ihr Vater gerade mehrere tausend Kilometer entfernt. Ricarda lächelte selig. „Okay.“

„Und wehe, du überlegst es dir anders und bestellst mal wieder Johannisbeerschorle.“

„Gibt´s doch hier eh nicht.“

Kurz darauf stießen sie in einem Restaurant an: Ricarda mit einer riesigen, mit Ananas-Stücken und lila Blüte verzierten Piña Colada, Sofia mit einem Mai Tai aus Rum, Mandelsirup, Zitronen- und Limettensaft. Ricarda probierte – hm, lecker. So einen würde sie sich auch noch bestellen.

Sie lehnte sich in ihrem Rattanstuhl zurück, genoss den kühlen Luftzug der Deckenventilatoren und fühlte sich so unbeschwert, so glücklich wie lange nicht. Wie ungewohnt, ohne ihre Familie in einem Restaurant zu sitzen. Deutschland? Miefiges Spießerland! Wie hatte sie es nur so lange dort ausgehalten? Vielleicht sollte sie auswandern. Sie würde Buddhistin werden und in einen Tempel eintreten. Ging das überhaupt? Bisher hatte sie keine einzige Frau im orangefarbenen Gewand gesehen, nur Männer.

Ricarda blinzelte. Sie hatte zu viel getrunken. Ja, die zwei Cocktails waren eindeutig übertrieben gewesen. Schließlich konnte es nicht sein, dass da vorne ein Elefantenrüssel durch die jetzt offen stehende gläserne Eingangstür mitten ins Restaurant hineinragte. Aber trotzdem, es sah einem Elefantenrüssel wirklich täuschend ähnlich: lang, grau, beweglich wie eine Schlange.

Ricarda kniff die Augen zusammen und schaute nochmal ganz genau hin.

Es sah immer noch genauso aus. Gab es in Thailand eigentlich Riesenschlangen?

Sofia saß mit dem Rücken zur Tür. In Zeitlupe beugte sich Ricarda über den Tisch und flüsterte ihr zu: „Dreh dich mal vorsichtig um und sag mir, was du siehst.“

Sofia drehte sich um – und schrie auf. „O Mann, ich glaub´s nicht! Der Mann da hat einen Elefanten dabei. Aber sieht so aus, als ob das Vieh nicht durch die Tür passt.“

Sie ließen ihre Drinks im Stich und drängten sich durch zum Ausgang. Ein paar andere Touristen scharten sich schon um den ungewöhnlichen Besucher. Andächtig blieb Sofia ein paar Schritte von dem Elefanten entfernt stehen. Es war schon fast dunkel draußen und nur das kühle Licht der Straßenlaternen beschien den massigen Körper des Tiers. Es trug seinen eigenen Proviant mit sich herum, auf seinem Rücken waren zwei Leinensäcke festgebunden, aus denen Bananenstauden und Pflanzenstengel – wahrscheinlich Zuckerrohrstücke – hervorragten. Bedächtig fächelte der Elefant mit den großen Ohren, streckte den Rüssel aus und nahm einer älteren Frau eine Banane ab. „Schau mal, jetzt stopft er sich das Ding in den Mund – mit Schale“, staunte die Frau. „Mal schauen, ob ihm auch eine Ananas schmeckt. Was meinst du, Klaus, frisst er die Blätter auch mit? Die sind doch ganz schön hart ...“

Ricarda musste lächeln. In der Wildnis ernährten sich Elefanten unter anderem von Baumrinde, die war noch um einiges härter. Und sie hatte mal in der Zeitung gelesen, dass die Elefanten im Münchner Zoo in der Adventszeit übrig gebliebene Weihnachtsbäume verputzen durften. Nicht mal den Stamm ließen sie übrig.

„Komm, wir füttern ihn auch!“ Sofia streckte dem Mahout einen 50-Baht-Schein entgegen und bekam ein halbes Dutzend Bananen ausgehändigt. Der Elefant beobachtete es aufmerksam, das Neonlicht spiegelte sich in seinen dunklen Augen.

„Los, gib mir auch eine.“ Ricarda schnappte sich eine der Bananen.

Eine feuchte Rüsselspitze mit zwei rosafarbenen Nasenlöchern und einem Greiffinger an der Spitze tastete danach, nahm die Frucht behutsam aus ihrer Hand. Ricarda klopfte den Rüssel, der sich wie raues, hartes Leder anfühlte. Der Elefant ragte hoch über ihr auf, war eine dunkle Silhouette vor dem Nachthimmel ... doch sie hatte keine Angst vor ihm. Er wirkte gelassen, nicht bedrohlich.

Sein Mahout redete in schnellem Thai auf ihn ein, dann lächelte er Ricarda und Sofia an. „Feed some more?“

Aus der Nähe betrachtet wirkte der Elefant sehr mager, Ricarda konnte seine Rippen erkennen. Nach und nach gefror ihre Aufregung zu Mitleid. Bestimmt war es kein sonderlich schönes Leben, durch die Stadt zu ziehen: Abgasgestank statt reiner Luft, Lärm statt Dschungelstille. Auf einmal war in Ricardas Mund ein schaler Geschmack. „Wir hätten dem Kerl kein Geld geben dürfen“, zischte sie Sofia zu. „Das führt nur dazu, dass noch mehr Elefanten in der Stadt betteln müssen.“

Sofia verzog das Gesicht. „Stimmt. Außerdem sehen wir ab morgen noch genug Dickhäuter. Komm, wir gehen wieder rein. Sonst denken die, wir wollten die Zeche prellen.“

Eine junge thailändische Frau unterhielt sich mit dem Mahout und drückte ihm Geld in die Hand. Ricarda wunderte sich: Die Frau hatte gar kein Futter für den Elefanten erhalten. Stattdessen bückte sie sich ... und kroch unter dem Bauch des Tiers durch!

„Wozu soll das denn gut sein?“, wunderte sich Ricarda, und ein anderer Tourist meinte: „Viele Thais glauben, dass das Glück bringt und Frauen eine leichte Geburt haben, wenn sie später Kinder bekommen.“

Ein paar Minuten später beobachteten sie, wie der Mahout mit seinem Tier weiterzog. Jetzt konnte Ricarda sehen, dass der Elefant Reflektorbänder an den Hinterbeinen trug, und das brachte sie aus irgendeinem Grund zum Kichern. Solche Dinger hatte sie zuletzt an den Beinen ihres Vaters gesehen, als er sich bereit machte, zur Schule zu radeln ...

Trotz seiner Größe schritt der Elefant völlig lautlos über den Asphalt. Er hatte einen sanften, wiegenden Gang, wie in Zeitlupe setzte er einen Fuß vor den anderen und kam doch schnell voran. Keiner der ausgehfein zurechtgemachten Bewohner Bangkoks schien etwas dabei zu finden, dass er sich mit ihnen die Straße teilte – kaum jemand wandte den Kopf.

Nach wenigen Minuten war das seltsame Duo im Menschengewimmel verschwunden.

„Ach du Scheiße, hast du mal auf die Uhr geschaut?“, quiekte Sofia plötzlich auf. „Unser Zug!“

„Verdammt!“, keuchte Ricarda und kramte hektisch in ihrem Portemonnaie nach ein paar Geldscheinen. Dutzendfach das Gesicht des Königs, nur in verschiedenen Farben. In Rosa gefiel er ihr am besten. „Meinst du, wir schaffen es noch?“

„Na klar.“ Sofia sprang auf und eilte in Richtung Straße. „Wir müssen nur irgendwas mit drei oder mehr Rädern erwischen, das uns mitnimmt.“

Ricarda rannte hinterher. Ihre Beine fühlten sich schwer an, wie zwei Sandsäcke. Außerdem war ihr schlecht. Vielleicht hätte sie das mit dem zweiten Cocktail doch besser sein lassen sollen. Oder waren es drei gewesen? Jetzt bloß nicht kotzen, beschwor sie sich, als das Tuk-Tuk sich einen Weg durch den Verkehr bahnte. Immerhin, in einem offenen Wagen konnte man besser seinen Mageninhalt loswerden als in einem deutschen Taxi. Man musste es nur in der richtigen Richtung tun, damit der Fahrtwind einem nicht die Hälfte davon wieder ins Gesicht wehte. Aber musste man dafür nicht auch beachten, woher der richtige Wind kam?

Sie war noch nicht fertig mit dem Nachdenken über diese wichtige Frage, als das Tuk-Tuk anhielt. „Train station!“, verkündete der Fahrer.

Ächzend wuchteten Ricarda und Sofia ihre Taschen und Koffer in den Zug und ließen sich in die Liegesitze fallen, die sie reserviert hatten.

„Gott sei Dank, richtig bequem!“ Sofia ließ ihre Arme schlaff herunterhängen. „Aber eigentlich auch egal, ich schlafe sowieso gleich ein. Weck mich, wenn wir in Chiang Mai sind.“

„Nee, du weckst mich“, stöhnte Ricarda, wälzte sich in ihrem Sitz auf die Seite und zog ihre Jacke über sich.

Mit einem leichten Ruck setzte sich der Zug in Bewegung.

Ein junger Thai mit ebenmäßigem Gesicht, einer ultracoolen schwarzen Sonnenbrille und eng anliegendem T-Shirt holte sie in Chiang Mai ab, um sie zu ihrem endgültigen Ziel in der kleinen Stadt Lampang zu bringen.

Sawatdii khrap“, begrüßte er sie mit einem schüchternen Lächeln. „Mein Name ist Kaeo.“

Fasziniert starrte Ricarda auf seinen Hals. Kaeo trug gleich sieben Ketten mit verschiedenen Anhängern; jedes Mal, wenn er sich bewegte, klapperte es. Vielleicht hatte er Schwierigkeiten, sich zu entscheiden, oder er mochte das Gefühl, einen halben Eisenwarenladen um den Hals zu haben.

Sein roter Toyota roch staubig und ein wenig nach Hund. Ricarda quetschte sich auf die Rückbank und kickte ein paar Plastik-Colaflaschen weg, die um ihre Füße rollten. Sofia machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem.

„Arbeitest du auch im Refuge? Was machst du da? Bist du ein Mahout?“ Sofia begann sofort damit, Kaeo zu löchern.

„Ja, ich bin Sohn von Ruang, kümmere mich um die Elefanten mit ihm. Viel, viel Arbeit!“ Sein Englisch klang lustig; die Wörter stimmten zwar, aber ihre Melodie war die einer asiatischen Sprache. Außerdem redete er wie die anderen Thais, denen sie bisher begegnet war, in einer höheren Tonlage als die Menschen in Deutschland.

Kaeo kramte im Handschuhfach herum, zog eine CD mit Thai-Pop hervor und legte sie in den Player. Es klang eigentlich fast wie westliche Pop-Musik, nur dass Ricarda kein Wort von den Texten verstand.

„Betreust du einen eigenen Elefanten?“, fragte Ricarda schüchtern. Kaeo schaute über die Schulter, um ihr zuzulächeln, und Ricarda fuchtelte panisch mit den Händen, damit er sich gefälligst wieder auf die Straße konzentrierte.

„Ja, einen Bullen, sein Name ist Khanom“, erkärte der junge Mann. „Ist im Moment schwierig, weil er in der Musth ist. Kann gerade nicht mit ihm arbeiten. Er wütend den ganzen Tag. Deswegen hole ich ab euch in der Stadt.“

Musth?“, fragte Sofia. „Wo ist das denn?“

„Nein, nein, kein Ort ... erwachsene Elefantenbullen ... crazy manchmal“, erklärte Kaeo. „Zeit, in der sie mit anderen Bullen kämpfen und sich paaren wollen. Ist leicht zu erkennen, in der Zeit ihnen läuft Flüssigkeit entlang am Kopf, der Geruch davon ist Signal für die anderen Elefanten.“

Ricarda hoffte, dass sie dem Bullen nicht über den Weg laufen würde. Sie lehnte den Kopf an das staubige Seitenfenster des Autos und schaute nach draußen. Je weiter sie sich von Chiang Mai entfernten, desto ländlicher wurde die Gegend. Ricarda sah überflutete Felder, aus denen smaragdgrün die Reispflanzen hervorlugten. Bauern, die auf den Feldern arbeiteten, manchmal mit Dingern, die wie ein großer Rasenmäher aussahen und wahrscheinlich Motorpflüge waren, manchmal aber auch mit einem gewöhnlichen Pflug, vor den ein dunkelgraues, gedrungenes Tier mit riesigen Hörnern gespannt war. Wow, ein Wasserbüffel. Dann kam wieder ein Ort, mit Stromleitungen kreuz und quer, ein verrücktes Gewirr über der Straße. Hühner, die aus dem Weg rannten und flatterten, einmal hätte Kaeo um ein Haar eins überfahren. Dann wieder dichter Wald rechts und links der Straße.

Schließlich bog der Toyota von der Straße auf einen Waldweg ab. Ricarda sah ein geschnitztes, bemaltes Schild mit der Silhouette eines Elefanten und „Chiang Mai Elephant Refuge“ in Englisch und der Thai-Schrift, die wie eine Verzierung wirkte. Kaeo stieg aus, entriegelte das große hölzerne Eingangstor, und drin waren sie. Ricardas Herz schlug schnell. Es hatte geklappt. Sie war hier. Endlich!

Ricarda fädelte sich aus dem Auto und trat dabei eine der Cola-Flaschen platt. Sie streckte sich, atmete tief durch. Sauber und gut roch die Luft. Nach Blüten, feuchter Erde und ... Elefantendung? Ja, da vorne lag ein gewaltiger grünbrauner Haufen. Aber nicht lange, ein Helfer war schon dabei, ihn wegzuschaufeln.

Kaeo hievte sich ihr Gepäck auf den Rücken und ging voran. Inmitten der Büsche und Bäume tauchte ein Holzhaus auf, das von meterhohen Stelzen getragen wurde – mühelos hätte ein Elefant darunter gepasst. Anscheinend spazierte hier auch öfter mal einer herum, denn die Erde unter dem Haus war festgestampft von riesigen Füßen. Für die Menschen standen ein paar alte Gartenstühle aus angerostetem Metall herum, und hinter dem Haus sah Ricarda einen kleinen, mit einem Elektrozaun gesicherten Gemüsegarten. Daneben hing ein brandneuer signalroter Feuerlöscher.

„Unser Haus – hier wir wohnen, die Familie“, erklärte Kaeo. „Die Mahouts wohnen in anderen Hütten, sie haben auch einen eigenen Koch. Bei ihnen bekommt ihr gerne etwas zu essen, aber auch im Haupthaus. Die Übungsgelände sind weiter drüben, die zeige ich euch später.“

„Wo sind die Elefanten jetzt gerade?“, fragte Sofia, denn nirgendwo waren Dickhäuter in Sicht.

Kaeo deutete zu einem Fußpfad, der mitten ins grüne Gebüsch hineinzuführen schien. „Baden am Fluss. Kommen später heim.“

Kaum zwanzig Schritt vom Haus entfernt ragte ein riesiger Feigenbaum auf und breitete seine üppig grünen Zweige über das Dach. Sein verschlungener Stamm wirkte wie die fließenden Gewänder einer Menschenfrau, die für irgendeinen Frevel in einen Baum verwandelt worden war. In welchem Märchen hatte sie so etwas schon einmal gelesen?

Gleich neben dem riesigen Baum stand ein winziges rot und gelb angemaltes Häuschen auf einem Pfahl. Es war prachtvoll geschnitzt und sah aus wie ein Tempel von der Größe eines Puppenhäuschens. Blumengirlanden schmückten es und auch ein paar Porzellanschalen fanden darauf Platz.

„Was ist das, ein Luxus-Vogelhäuschen?“, fragte Sofia neugierig und ging näher heran.

Kaeo sah einen Moment lang verwirrt aus, bis das Lächeln auf sein Gesicht zurückkehrte. „San phra phuum. Ein Geisterhäuschen. Wenn ein Haus gebaut wird, brauchen die Geister der Erde und der Luft einen neuen Ort, wo sie wohnen können. Wir bringen ihnen Gaben.“ Er deutete auf die Schälchen. „Dann die Geister sind zufrieden und wachen über uns.“ Kaeo setzte das Gepäck ab, zog eine Flasche Cola aus seinem Rucksack hervor und goss eine der Opferschalen voll. Respektvoll verbeugte er sich mit gefalteten Händen vor dem Häuschen. Dann erst schulterte er die Sachen wieder.

„Thailändische Geister mögen amerikanische Limonade?“ Ricarda staunte.

„Bestimmt. Mein Onkel Fon sogar hat dem Erdgeist Chao Thi mal eine Flasche Whisky geopfert. Hatte ihm das versprochen, wenn Chao Thi ihm hilft, eine Wette zu gewinnen. Er hat gewonnen die Wette und hat gehalten sein Versprechen.“

Als sie weitergingen, flüsterte Sofia ihr ins Ohr: „O Mann, da bin ich ja voll ins Fettnäpfchen getreten. Ich sage nur: Vogelhäuschen! Meinst du, er ist jetzt sauer auf mich?“

Ricarda dachte nach. Kein Zweifel, das mit den Geistern war für Kaeo eine todernste Angelegenheit. Vielleicht hatten die Amulette um seinen Hals etwas damit zu tun. „Bestimmt nicht – er hat ja wieder gelächelt.“

„Ja, aber das tun die Thais doch anscheinend die ganze Zeit.“

Einen Steinwurf vom Haupthaus entfernt war eine Lichtung, eine Art zentraler Versammlungsort, etwa so groß wie ein Sportplatz. Ricardas Sandalen wirbelten hellen Lehmstaub auf, als sie ihn überquerten. An den Seiten des Platzes gab es einige offene Elefanten-Unterstände, die nur aus einem zerzausten Schilf- oder Strohdach und ein paar dicken Baumstämmen als Stützen bestanden. Etwas weiter entfernt, halb hinter Bäumen versteckt, sichtete Ricarda Pferche, die ähnlich aussahen wie Pferdekoppeln – nur, dass die Pfähle und Querbalken sehr viel dicker waren. Ob das einen Elefanten aufhielt, der unbedingt rauswollte?

Nach ein paar Minuten Fußweg durch den Wald kamen sie zu einfachen, auf niedrigen Stelzen stehenden Bambushütten, von denen jede eine umlaufende Veranda aus roh gezimmerten Ästen hatte. Das waren vermutlich die Hütten der Mahouts.

„Sind eigentlich noch andere Freiwillige hier?“, wollte Sofia neugierig wissen.

Kaeo schüttelte den Kopf. „Nicht zurzeit. Meist sind nur zwei oder vier hier gleichzeitig. Die anderen sind am Samstag abgereist.“

„Welche Hütte ist unsere?“, fragte Ricarda gespannt und Kaeo zeigte auf eine Hütte, die um einen Baum herumgebaut worden war. Ricarda war begeistert. Sie strich über die länglichen glänzend grünen Blätter, schaute an dem Stamm hoch und stellte fest, dass an den Zweigen Mangos hingen. Manche noch grün und unreif, andere schon gelb-orange angehaucht. Sie teilten ihre Hütte mit einem Mangobaum, wie cool! Und da vorne entdeckte Ricarda an hoch aufragenden Pflanzen, die mit ihren langen smaragdgrünen Blättern Palmen ähnlich sahen, Büschel von Bananen. Hier konnte man sich ja gut durchfressen ...

Sofia klopfte auf einen roten Feuerlöscher, der gleich neben dem Eingang der Hütte hing. „Sag mal, brennt es hier so oft?“

„Noch nie“, sagte Kaeo stolz.

„Und wieso dann all diese Feuerlöscher?“

„Ist Idee von Por Ruang.“ Kaeos Ton wurde vertraulich. „Er hat Angst vor Feuer. Als er war Kind, die Hütte der Familie ist abgebrannt. Seither seine Regel: überall Feuerlöscher, dann nichts passieren kann.“

Drinnen gab es zwei Betten mit geschickt zusammengeknoteten Moskitonetzen darüber und einen gekachelten Waschraum. Ricarda stellte fest, dass die Dusche nur aus einem Schlauch bestand, der aus der Wand ragte.

Ratlos schaute sich Sofia um. „Äh, aber wie soll das funktionieren – wenn man duscht, setzt man doch den Rest des Badezimmers unter Wasser?“

„Ach, dann bekommt man auch drinnen dieses gewisse Regenzeit-Feeling.“ Ricarda zuckte die Schultern und beobachtete, wie ein paar große rotbraune Ameisen von unten nach oben den Stamm hochtrippelten. Zum Glück hielten sich nicht an, sondern marschierten Richtung Dach weiter und waren bald darauf außer Sicht. Ricarda schaute nach unten und stellte verblüfft fest, dass sie durch kleine Ritzen in den Brettern den Boden sehen konnte. Hoffentlich war das Dach nicht ähnlich gebaut, sonst würde es beim nächsten Regenguss ziemlich feucht hier drin werden.

Dann begann sie ihren Koffer auszupacken und ihre Sachen in den einfach gezimmerten Schrank einzuräumen. Doch was war denn das für ein hellbraunes Ding unter der zweiten Lage von T-Shirts? Da lag dieser verdammte Lederkoffer mit dem Fernglas! Nein! Dabei erinnerte sie sich genau daran, dass sie das Ding in den Schrank zurückgestellt hatte.

Weiß leuchtete ein Zettel zwischen ihren Sachen hervor. Das hier hättest du beinahe vergessen! Gruß und Kuss, Mami.

Ricarda stöhnte leise. Vielleicht war das Fernglas verflucht und sie konnte es einfach nicht loswerden, so sehr sie sich auch anstrengte.

„Was ist?“, fragte Sofia.

„Meine Mutter hat mir ein Fernglas eingepackt. Kein Wunder, dass der Koffer so schwer geworden ist“, antwortete Ricarda und stopfte den Lederkoffer in den Schrank.

Sofia kramte in ihrer Reisetasche herum und zog ihren Glücksbringer hervor, ein fettes rosafarbenes Plüschschwein. Es bekam einen Ehrenplatz auf dem Nachttisch.

„Dieses hässliche Vieh hast du den ganzen Weg aus Europa hergeschleppt?“ Ricarda hob es hoch und schaute ihm in die Steckdosennase. „Das ist doch peinlich. Willst du wirklich, dass einer der Thais das sieht? Wahrscheinlich sind Schweine auch für Buddhisten unreine Tiere und du bist auf ewig unten durch. Besonders nach der Sache mit dem Vogelhäuschen.“

Gut gelaunt verschränkte Sofia die Arme hinter dem Kopf. „Ach quatsch, es gibt unendlich viele Thai-Gerichte mit Schweinefleisch, die werden sie ja wohl nicht essen, wenn Schweine unrein sind. Komm, wir packen später aus und gehen noch ein bisschen erkunden!“

„Okay, gute Idee.“ Sie warf noch eine Hose in den Schrank, dann klappte Ricarda den Koffer zu und folgte Sofia nach draußen. Dort lehnten sich die beiden einen Moment nebeneinander gegen die Veranda und genossen den Blick auf die grünen Hügel, die sich jenseits der Lichtung erhoben.

Das war der Moment, in dem Ricarda es spürte. Eine Art leises Vibrieren der Luft, wie ferner Donner. Doch der Himmel war klar und blau, ein Gewitter konnte es nicht sein.

„Merkst du das auch?“, fragte sie Sofia, doch die schüttelte den Kopf und schaute fragend.

„Nee. Was denn?“

Ein Schauder durchlief Ricarda. „Ich glaube, die Elefanten kommen!“, flüsterte sie.

Fast gleichzeitig sprangen sie und Sofia von der Veranda und liefen los.

Der Elefanten-Tempel

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