Читать книгу Küsse lügen nicht - Kay Rivers - Страница 6
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Оглавление»Du hättest alles hier haben können, alles«, sagte Dales Mutter in dem üblichen vorwurfsvollen Ton, in dem sie immer mit ihrer Tochter sprach. »Aber du wolltest ja nicht. Du wolltest etwas anderes.«
Die alte Leier. Warum habe ich gedacht, dass es anders sein würde? »Ja.« Dale versuchte, keine Miene zu verziehen. »Nicht jeder will das Gleiche. Das ist nun einmal so.«
Verächtlich zog ihre Mutter die Mundwinkel herunter. »Du wolltest unbedingt in den Krieg ziehen. Als ob das irgendetwas bringen würde.« Sie schaute so strafend, als hätte sie ihre Tochter gerade beim Stehlen erwischt oder dabei, wie sie sich als Teenager aus dem Haus schleichen wollte, um sich mit irgendwelchen jugendlichen Nichtsnutzen zu treffen und sich ins Koma zu saufen. »Obwohl du hier so viel zu tun gehabt hättest . . . Obwohl wir dich gebraucht hätten. Dringend gebraucht.«
Eine tiefe Traurigkeit erfasste Dale. »Dad hat mir erlaubt zu gehen. Er hat es verstanden«, sagte sie und musste gegen die Sehnsucht nach ihrem Vater ankämpfen. Wäre er jetzt nur hiergewesen . . .
»Und als er starb? Wie viel konnte er da noch verstehen?«, keifte Janice Richards. »Warum bist du nicht zurückgekommen?« Wie immer klang ihre Stimme rechthaberisch und hysterisch. Es ging ihr gar nicht um echte Argumente, es ging ihr nur darum, ihrer Tochter Schuldgefühle einzupflanzen.
»Kathryn ist . . . Wir waren im Irak, und dann –« Dale schluckte so unauffällig wie möglich. Sie wollte nicht mehr daran denken, sie wollte sich beherrschen, sie musste sich beherrschen.
»Dann ist sie auch gestorben«, sagte ihre Mutter hart. »Es gab keinen Grund mehr für dich, nicht zurückzukommen, aber du hast es trotzdem nicht getan. Du hast dich der Verantwortung einfach entzogen, du hast dich gedrückt.«
Ja, dachte Dale. Ich habe mich gedrückt. Ich bin schwer verwundet, fast erschossen worden, habe für mein Land gekämpft und die Liebe meines Lebens verloren. Ich hatte ein tolles Leben, denn ich habe mich ja vor allem gedrückt und nur im Sessel gesessen.
»Wenn du meinst, Mutter«, sagte sie. »Wenn du das so siehst.«
»Ja, ich sehe es so«, gab Janice Richards beinah trotzig zurück. »Die erste Verantwortung, die man hat, ist die gegenüber der eigenen Familie. Aber das war dir ja egal.«
»Bedeutet dir unser Land nichts?«, fragte Dale, und auch wenn sie das nicht wollte, klang ihre Stimme nun etwas aufgebracht. »Hätte ich mich vor dieser Verantwortung drücken sollen?«
»Was ist ein Land wert ohne Familie?«, fragte ihre Mutter zurück. »Die Familie ist immer noch das Wichtigste. Ohne sie gibt es kein Land, keine Zukunft, gar nichts.«
Dale atmete tief durch und seufzte. Wie sollte sie dem widersprechen? Hatte ihre Mutter recht? Aber dann . . . dann war Kat umsonst gestorben. Nein! Dale schrie innerlich auf. Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! »Wenn es kein Land mehr gibt, in dem die Familie in Ruhe und Frieden leben kann, was dann?«, fragte sie.
»Du hast immer deine eigenen Prioritäten gesetzt.« Es lag nicht unbedingt in Janice Richards’ Persönlichkeit, auf die Argumente anderer einzugehen. Dafür hörte sie ihre eigenen zu gern. »Die Familie hat dich nie interessiert. Du hättest sie jederzeit aufgegeben für deine Abenteuerlust. Und hast du ja auch. Kaum dass du erwachsen warst.«
Abenteuerlust? Ja. Ja, so etwas war es sicher auch, dachte Dale. Oder vielleicht auch so eine Art Flucht. Ich hatte schon fast vergessen, wie es hier war, bevor ich gegangen bin. »Ich konnte erst mit achtzehn zur Armee gehen«, sagte sie. »Sonst wäre ich schon früher gegangen.«
»Das weiß ich.« Wie schon so viele Male zuvor bei diesem Thema klang die Stimme von Janice Richards jetzt bitter. »Das ist genau das, was ich meinte. Du hast nie daran gedacht, was aus den anderen wird, was aus uns wird. Du hast immer nur an dich gedacht, immer nur deine eigenen Ziele verfolgt.«
»Du hattest immer noch Lainey«, sagte Dale, auch wenn sie sich nicht viel davon versprach. Auch dieses Argument hatten sie schon viel zu oft durchgekaut.
»Lainey war zu jung, als dein Vater starb«, behauptete ihre Mutter wie immer. »Viel zu jung. Sie hat getan, was sie konnte, aber es war zu viel für sie. Deine und ihre Verantwortung zu tragen, Vater zu ersetzen, alles zu übernehmen.«
»Sie ist nur ein Jahr jünger als ich«, erinnerte Dale sie an die Tatsachen.
Wenn sie so zurückdachte, hatte sie ihre Schwester Lainey immer als sehr stark empfunden, obwohl sie die jüngere war. Zwar sah Lainey äußerlich nicht so aus, aber innerlich war sie auf gewisse Art immer stärker gewesen als Dale. Sie hatte Dale oft für Laineys Streiche büßen lassen.
Da sie immer ›die Kleine‹ gewesen war, die scheinbar kein Wässerchen trüben konnte, glaubte jeder sofort, dass Dale die Übeltäterin war, wenn man die beiden zusammen sah. Und Dale hatte nie widersprochen, hatte die Strafe auf sich genommen, obwohl sie es nicht gewesen war.
»Aber sie war immer schwächer als du, kleiner, zarter. Du warst die Große, Starke. Du hättest da sein sollen.« Janice Richards ließ ihrer Verbitterung freien Lauf. Rücksicht auf andere war noch nie einer ihrer Charakterzüge gewesen, auch wenn sie stets Rücksicht für sich selbst einforderte.
»Ja, ich hätte da sein sollen«, sagte Dale. »Ich hätte überall sein sollen.« Kats Gesicht erschien vor ihrem inneren Auge, nicht ihre Familie. »Ich habe versagt.«
»Gut, dass du das endlich mal zugibst.« Eine jüngere Stimme, die sich aber durchaus mit dem Tonfall ihrer Mutter messen konnte, meldete sich plötzlich von der Tür des großen Raumes her, der direkt vom Eingangsbereich des Ranchhauses abging. »Sonst warst du ja immer so perfekt.« Während sie das letzte Wort geringschätzig betonte, schlenderte Lainey Richards lässig herein.
»Das habe ich nie behauptet«, widersprach Dale, auch wenn sie wusste, dass das eigentlich gar keinen Sinn hatte. »Kein Mensch ist perfekt.«
»Du schon«, sagte Lainey, ging zur Bar hinüber und goss sich einen Whiskey ein. »Jedenfalls denken das einige Leute hier in der Stadt bis heute. Kannst du dich noch an die Parade erinnern? Pf!«
»Darum hatten wir nicht gebeten«, entgegnete Dale. »Die Leute haben das selbst entschieden.«
»Weil ihr in Uniform hier ankamt.« Lainey musterte Dale abschätzig von oben bis unten. »Das war doch Absicht. Damit euch alle bewundern sollten.«
»Das ist Vorschrift«, korrigierte Dale sie mit zusammengepressten Lippen. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, um sich wieder zu beruhigen. Mit ihren Worten griff Lainey nicht nur Dale an, sondern auch Kat, und das würde sie nicht zulassen. »Wir hätten Zivil getragen, wenn das erlaubt gewesen wäre. Das wäre uns wesentlich lieber gewesen.«
»Ja, ja.« Desinteressiert winkte Lainey ab. »Du kannst mir viel erzählen. Ich kenne mich ja mit all diesem militärischen Mist nicht aus, für den du so schwärmst.«
Dale merkte sehr deutlich, dass Lainey sie provozieren wollte, aber sie ließ sich nicht darauf ein. Kat hätte sich ebenfalls nicht darauf eingelassen. Und Kelly auch nicht.
Auf einmal musste sie lächeln. »Ich kenne mich damit aus, weil ich zwölf Jahre gedient habe«, antwortete sie ganz gelassen. »Das ist weit entfernt von Schwärmerei.«
»Gedient!« Beinah hysterisch lachte Lainey auf und warf den Kopf in den Nacken. »Was für ein Wort! Darauf bist du stolz? Klingt, als wärst du ein Dienstbote.« Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und beobachtete Dale über den Rand hinweg wie ein Raubvogel, der gleich auf seine Beute herunterstoßen wollte.
»Ich habe meinem Land gedient, nicht irgendeinem Menschen, der zu faul ist, sein eigenes Bett zu machen«, erklärte Dale so freundlich und bereitwillig, als würden sie ein Werbevideo für die Army drehen. »Das ist ein kleiner Unterschied.«
»Ist es das?« Anscheinend ärgerte Lainey sich darüber, dass Dale sich nicht streiten wollte. Ihre Mundwinkel verzogen sich unzufrieden. »Na ja, ist ja nicht mein Bier. Ich würde nie jemandem dienen, keinem Land und keinem Menschen.«
»Das ist mir schon klar«, sagte Dale. »Und bei Menschen würde ich dir da sogar zustimmen.«
Das verwirrte Lainey anscheinend noch mehr. Zustimmung von ihrer großen Schwester hatte sie wohl am allerwenigsten erwartet. »Was willst du hier?«, schoss es deshalb mit gesteigerter Unzufriedenheit aus ihr heraus, als hätte sie jetzt doch plötzlich die Vorteile einer militärischen Angriffsweise entdeckt. »Warum bist du hergekommen?« Ihre Augen funkelten mit all der Bösartigkeit, die ihr immer schon zu eigen gewesen war. »Hier braucht dich niemand. Du bringst nur alles durcheinander.«
Dales Augenbrauen hoben sich verwundert. »Was bringe ich durcheinander? Ich bin doch gerade erst angekommen.«
»Schlimm genug«, schnappte Lainey, »dass du uns vorher nicht benachrichtigt hast. Erst kommst du jahrelang nicht, dass man sich schämen muss, weil die Leute fragen, und dann stehst du plötzlich vor der Tür?«
Fast musste Dale innerlich schmunzeln. Weil die Leute fragen . . . Das war alles, worum es Lainey ging. Und ihrer Mutter auch. Schämen taten sie sich natürlich nicht wirklich. Es war ihnen nur peinlich, dass sie nicht aus Dales Leben berichten und damit angeben konnten. Dass sie nicht wussten, was Dale tat. Obwohl es sie selbst gar nicht interessiert hätte. Aber die Leute . . .
Was wäre wohl gewesen, wenn sie vorher angerufen hätte? Das hätte genauso geendet wie jeder Anruf zuvor. Deshalb wäre es völlig sinnlos gewesen.
»Ich habe mitbekommen, dass ihr wieder nach Öl bohrt«, sagte sie deshalb. »Das hat mich interessiert. Denn damals hieß es ja, es ginge nicht weiter. Das restliche Öl könnte man nicht herausholen.«
»Wayne ist eben schlau.« Laineys Gesichtsausdruck hätte man mit dem einer Viper vergleichen können, ein breites Grinsen unter kalten Augen. »Bist du neidisch, weil du das nicht zustandegebracht hättest, was er jetzt erreicht hat?«
»Neidisch?« Auf den Gedanken wäre Dale nie gekommen.
Ihr Cousin Wayne leitete die Richards Oil Corporation, weil nach dem Tod ihres Vaters niemand anderer dagewesen war, weil Dale im Krieg gewesen war. Ihrem Vater wäre es sicher lieber gewesen, wenn sie das Unternehmen übernommen hätte, aber das hatte nicht zur Debatte gestanden.
Und Wayne war schon immer ein schlauer Kopf gewesen, da hatte Lainey recht. Nicht unbedingt überragend intelligent, aber clever. Doch das war im Geschäftsleben ja auch oft viel nützlicher.
»Eifersüchtig, ja. Ihr habt euch früher ja auch schon immer gekloppt«, versuchte Lainey, ein bisschen Salz in die Wunde zu streuen. »Weil du eifersüchtig auf ihn warst.«
Dale sparte es sich, auch das Wort eifersüchtig fragend zu wiederholen, weil das genauso absurd war wie neidisch. Sie hatte ihren Cousin nur dann etwas härter angefasst, wenn sie ihn von etwas Unseligem hatte abhalten wollen oder wenn er sich danebenbenommen hatte. Was leider zu seinen Teenagerzeiten gar nicht so selten vorgekommen war. Er hatte einfach schon immer zu viel getrunken.
»Ich weiß nicht, wie du darauf kommst«, erwiderte sie daher völlig ruhig.
Sie musste sich nur daran erinnern, wie es im Kampf gewesen war, wenn man einen ruhigen Kopf behalten musste. Da hatte sie es gekonnt. Meistens. Nicht mehr nach Kats Tod.
Schnell versuchte sie, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Jeder Einsatz im Krieg, egal welcher, war schlimmer gewesen als das hier, dieses banale Scharmützel.
»Ich weiß nicht, wie du darauf kommst«, äffte ihre Schwester sie nach und verzog das Gesicht wie ein kleines Kind. »Immer die große kühle Dale. Verzieht keine Miene. Kein Gefühl in den ganzen gut trainierten einsfünfundachtzig.«
Immer mehr begriff Dale etwas, das sie früher nie begriffen hatte: Lainey war eifersüchtig und neidisch auf sie, Dale. Deshalb warf sie es ihr vor. Weil sie – im Gegensatz zu Dale – wusste, wie sich das anfühlte.
Kein Gefühl. Lainey hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie sich fühlte. Wie sie sich nach Kats Tod gefühlt hatte. Wie sie sich jetzt noch fühlte, wenn sie an Kat dachte.
Erst seit Kelly in ihr Leben getreten war, hatte sich das langsam geändert. Vor allem zum Schluss, kurz bevor sie sich in Miami von ihr verabschiedet hatte.
Auf einmal spürte sie wieder Kellys Hände auf sich, ihre Lippen, die sie zuerst küssten und dann »Ich liebe dich« murmelten. Immer wieder. Ohne dass Dale ihr das zurückgeben konnte, auch wenn sie das gern getan hätte.
Das schlechte Gewissen kroch in ihr hoch, und das nicht zum ersten Mal. Kelly wartete so sehr darauf, dass Dale endlich diese drei kleinen Wörtchen sagte, und sie hatte sie auch verdient, schon lange verdient. Dale konnte sie nur nicht sagen, weil –
Bevor sie diesen Gedanken zu Ende denken konnte, meldete sich ihr Handy. Es war ihr privates, das erkannte sie am Klingelton, der sich von dem ihres Geschäftshandys deutlich unterschied. Eigentlich hätte wohl niemand von ihr erwartet, dass sie auch ihr Geschäftshandy mitnahm, aber pflichtbewusst, wie sie war, hatte sie es natürlich dabei. Sie hatte so lange keinen Urlaub mehr gemacht, dass sie gar nicht auf den Gedanken gekommen wäre, es nicht mitzunehmen, weil es zu ungewohnt war.
»Ja?« Sie nahm ab, und obwohl sie auf dem Display sah, dass es Kelly war, sprach sie sie nicht mit ihrem Namen an. Aus irgendeinem Grund wollte sie nicht, dass Lainey und ihre Mutter ihn hörten.
»Wie geht es dir, Liebling?« Kelly hatte sich im Bett angewöhnt, Dale so zu nennen, und als Dale sich nicht dagegen wehrte, hatte sie es auch auf außerhalb des Bettes übertragen. Wahrscheinlich in der Hoffnung, dass Dale den Kosenamen zurückgeben würde. Was sie nie getan hatte.
Immer wieder hatte sie daraufhin die Enttäuschung in Kellys Augen gesehen, die vorher so gestrahlt hatten. Jetzt konnte sie Kellys Augen natürlich nicht sehen, aber unter den gegebenen Umständen war es noch viel unwahrscheinlicher als sonst, dass sie irgendetwas anderes als »Gut« sagen konnte, was sie auch tat.
»Ist irgendwas?«, fragte Kelly daraufhin, die die Zurückhaltung in Dales Stimme natürlich bemerkte.
»Nein«, sagte Dale, wieder genauso kurzangebunden wie zuvor.
Dass das Kellys Misstrauen nur bestärken konnte, war ihr bewusst, aber selbst ein »Ich kann jetzt nicht. Ich rufe dich später an.« hätte wer weiß was für Reaktionen in den beiden Frauen hervorrufen können, die zwar Dales engste Verwandte, aber wohl auch ihre ärgsten Feindinnen waren. Die auf jedes Anzeichen einer Schwäche lauerten, auf jedes indiskrete Detail, das sie irgendwie hätten ausschlachten können. Und dazu wollte sie ihnen keine Gelegenheit geben.
Sie hätte den Anruf gar nicht erst annehmen sollen, Kelly tatsächlich später zurückrufen sollen, aber auch das hätte unvorhergesehene Konsequenzen nach sich ziehen können. Und außerdem . . . ja, außerdem hatte Dale sich gefreut, als sie Kellys Namen sah. Ihr Herz hatte höher geschlagen, und ganz automatisch hatte sie den Anruf angenommen, um Kellys Stimme zu hören.
Die lange Pause, die auf Dales »Nein« folgte, zeigte an, dass Kelly überrascht war, enttäuscht, verletzt vielleicht sogar. Das tat Dale leid, aber sie wusste im Moment nicht, wie sie das ändern konnte.
Kelly räusperte sich. »Du hast doch was«, sagte sie. »Das höre ich doch.«
»Ich bin in Presidio«, erwiderte Dale, um so zu tun, als hätte sie jemand angerufen, der sie nicht gut genug kannte, um zu wissen, dass sie nicht in Miami war. »Wir können darüber reden, wenn ich wieder in der Firma bin. Nächste Woche.«
»Ach? Länger willst du nicht bleiben?«, rief Lainey aus dem Hintergrund.
Ruckartig legte Dale auf. »Ich weiß nicht, ob du dir das vorstellen kannst«, antwortete sie sarkastisch, »aber ich habe einen Job. Ich arbeite für mein Geld. Und da gibt es nur begrenzt Urlaub.«
»Selbst schuld, wenn du nie was erzählst.« Lainey schmollte sichtbar und betäubte ihre schlechte Laune mit einem großen Schluck Whiskey. »Nie anrufst. Nie nach Hause kommst. Weißt du, wie das für uns ist? Wenn die Leute fragen: Na, was macht denn deine tolle Schwester?«
»Oder Wie geht es denn Ihrer älteren Tochter, Mrs. Richards?«, stimmte Janice gleich in das Klagelied mit ein. »Die muss doch längst verheiratet sein. Sind Sie schon Großmutter?« Sie gab ein verächtliches Geräusch von sich. »Und ich kann nichts anderes sagen als: Es geht ihr gut. Nein, Großmutter bin ich noch nicht. Wäre ja auch noch schöner«, hängte sie empört an. »Aber wenigstens das scheinst du mir zu ersparen. Wenn auch sonst nicht viel.«
»Ich dachte immer, dich zur Großmutter zu machen, das wäre Laineys Aufgabe«, gab Dale nicht ganz unamüsiert zurück. »Deshalb habe ich mich da höflich zurückgehalten.«
»Pf!«, machte Lainey. »Du und höflich! Du und Zurückhaltung!«
Dale legte den Kopf schief und sah sie prüfend an. »Was ich allerdings nicht verstehe, ist, warum du dich zurückgehalten hast. Schließlich bist du seit einigen Jahren verheiratet. Und immer noch nichts zu sehen?« Sie musterte Laineys Bauch beziehungsweise das von ihr mit viel Anstrengung flach gehaltene Körperteil, das man normalerweise so nannte.
Für ein paar Sekunden starrte Lainey sie mit Augen an, die Dale an den Krieg erinnerten, an Blut, Mord und Totschlag. Dann drehte sie sich wütend um, schmetterte ihr Whiskeyglas auf den dicken Teppich und marschierte hocherhobenen Hauptes hinaus.
»Musste das sein?«, fragte Janice Richards scharf und fixierte Dale so strafend mit ihrem Blick, als ob sie sie gleich in den Boden stampfen wollte. »Du weißt doch, wie empfindlich Lainey bei diesem Thema reagiert.«
Dale war wirklich überrascht. »Woher soll ich das wissen?«, fragte sie. »Wir haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Nicht richtig jedenfalls. Höchstens mal kurz am Telefon.« Gemächlich machte sie einen Schritt nach vorn, beugte sich hinunter und hob das Whiskeyglas auf. »Erstaunlich, wie stabil diese Gläser sind«, stellte sie fest, als sie es erst rundherum betrachtete und dann völlig unversehrt wieder auf den Tresen der Bar stellte. »Oder vielleicht ist auch einfach nur der Teppich so dick, dass er alles abfängt.«
»Hast du überhaupt zugehört, was ich gesagt habe?« Ihre Mutter hätte wahrscheinlich die Stirn gerunzelt, wenn sie das hätte tun können. Aber regelmäßige Behandlungen beim Schönheitstherapeuten verhinderten das.
»Darauf habe ich bereits geantwortet, Mutter«, erinnerte Dale sie. »Ich weiß nichts über Lainey, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Und das war weit vor ihrer Hochzeit.«
»Zu der du noch nicht einmal gekommen bist.« Gereizt hob Janice Richards ihr Stupsnäschen. Ein Näschen, mit dem sie nicht geboren worden war. »Zur Hochzeit deiner einzigen Schwester! Die Leute haben –«
»Lass mich doch endlich mit den Leuten in Ruhe«, unterbrach Dale sie unwirsch. »Was habe ich mit denen zu tun? Deren Erwartungen haben mich noch nie interessiert.«
»Leider.« Janice Richards presste die Lippen zusammen. »Und wir müssen es ausbaden, Lainey und ich.«
»Ausbaden?« Jetzt musste Dale ein lautes Lachen unterdrücken. »Was müsst ihr denn ausbaden? Ihr lebt im Luxus, müsst keinen Finger rühren für euren Lebensunterhalt. Weißt du, wie viele Leute es gibt, die jeden Cent umdrehen müssen? Wenn sie überhaupt einen haben?«
»Seit wann weißt du denn etwas darüber?« Ihre Mutter war sichtlich verwundert. »Du hast schließlich auch keine Geldprobleme. Oder doch?« Argwöhnisch musterte sie ihre Tochter, als wäre sie ein unerwünschter Vertreter vor der Tür, der ihr ein sehr merkwürdiges Angebot gemacht hatte.
»Natürlich nicht.« Unwillig schüttelte Dale den Kopf. »Es geht nicht um mich. War nur so eine allgemeine Bemerkung. Und außerdem . . .« Ihre Augenbrauen wanderten sehr weit nach oben. »Wie sagte Lainey vorhin? Weshalb war sie so sauer? Tolle Schwester? Und damals die Parade . . . Das deutet nicht darauf hin, dass ihr meinetwegen irgendetwas auszubaden habt. Wohl eher im Gegenteil.«
»Aber du kommst nie.« Janice fuhr ihren letzten Trumpf auf. »Und das fällt auf. Die Kinder anderer Leute kommen regelmäßig. Zu Thanksgiving, zu Weihnachten, zu Geburtstagen und . . . Hochzeiten.« Der vorwurfsvolle Unterton nahm noch zu, als sie das letzte Ereignis erwähnte.
»Du weißt genau, warum ich nicht kommen konnte. Das war kurz nach –« Dale brach ab.
»Du hast doch immer eine Ausrede«, ließ Janice beiläufig fallen, während sie zur Couch hinüberschlenderte, um sich zu setzen.
Was? Dale konnte es nicht glauben. Mit zwei großen Schritten war sie bei ihrer Mutter und riss sie an der Schulter zurück. »Du nennst Kathryns Tod eine Ausrede?« Ihre Stimme zitterte vor mühsam unterdrückter Wut.
Anscheinend merkte Janice, dass sie zu weit gegangen war. »Ist ja schon gut.« Sie schüttelte Dales Hand ab. »Aber zur Beerdigung deines Vaters warst du auch nicht da.«
»Ich war im Krieg!« Langsam konnte Dale es nicht mehr fassen. Sie traute ihrer Mutter ja viel zu, aber meinte sie das wirklich alles ernst? »Ich habe an der Front gekämpft, während Vater begraben wurde. Wir waren mitten in einer Offensive!«
»Ich sagte ja, diese Kriegsspielerei war immer schon dein Ding. Ich verstehe das nicht.« Janice ließ sich in die weichen Polster der Couch fallen. »Wie kannst du meine Tochter sein?« Richtig erstaunt blickte sie zu Dale hoch.
Langsam hatte Dale das Gefühl, ihre Mutter konnte nicht mehr zwischen Illusion und Wirklichkeit unterscheiden. Aber hatte sie das je gekonnt? Innerlich seufzend beschloss sie, den ersten Teil ihrer Aussage zu ignorieren.
»So wie Lainey?«, fragte sie deshalb, nur auf den zweiten Teil eingehend. »Ja, das wohl eher nicht. Vielleicht bin ich mehr Dads Tochter. Aber dass ich deine bin, ist ja wohl unstrittig. Das musst du ja am besten wissen.«
Janice’ Lippen verzogen sich, als hätte sie gerade auf etwas Saures gebissen. »Nur zu gut. Deine Geburt war anstrengend genug. Lainey ist ja dann nur noch so rausgerutscht, aber du . . .« Richtig böse starrte sie Dale jetzt von unten herauf an. »Du warst riesig. Viel zu groß für ein Mädchen.«
»Und ich war dein erstes Kind.« Fast etwas bedauernd nickte Dale. »Aber für meine Größe kann ich nichts. Dad war eben groß.«
»Lainey ist auch seine Tochter, und sie ist nicht so . . .« Anscheinend fiel Janice nicht das richtige Wort ein.
»Vielleicht hätte ich ja ein Junge werden sollen, und im letzten Moment hat sich die Natur umentschieden.« Dale zuckte die Schultern. »Wer kann das schon wissen?«
»Viel Unterschied zwischen dir und einem Jungen ist wirklich nicht«, schnaufte Janice missvergnügt. »Nur könnte ich dann wenigstens sagen, ich hätte einen Sohn.«
»Darauf wärst du stolz?«, fragte Dale mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wenn du einen Sohn hättest? Selbst wenn er dasselbe tun würde wie ich?«
»Männer tun das«, gab Janice schnippisch zur Antwort. »Frauen nicht. Wenn ein Mann Soldat werden will, ist das schlimm genug, aber du als Frau . . .?« Sie sah Dale so verständnislos an, als ob sie ein Alien von einem anderen Planeten vor sich hätte.
»Tja.« Dale atmete tief durch. »Wir passen wohl nicht zusammen, du, Lainey und ich. Aber lange müsst ihr mich nicht mehr ertragen, ich wollte nur –«
Sie unterbrach sich selbst unentschlossen. Dr. Swanson hatte sie zu all dem hier überredet. Er hatte gemeint, sie brauchte einen Abschluss. Für ihren inneren Frieden. Deshalb hatte er unbedingt gewollt, dass Dale nach Hause fuhr und das mit ihrer Familie klärte, was noch unklar war. Dass sie sich über alles aussprechen sollten.
Ihre Mundwinkel zuckten. Psychiater waren immer so zuversichtlich, dass das möglich war. Manchmal war es aber eben einfach nicht möglich, wie sich jetzt wieder zeigte.
Aber sie hatte auch in anderer Hinsicht etwas Abstand gebraucht. Kelly . . .
Ihre Gefühle – die Gefühle, von denen ihre Schwester behauptet hatte, dass sie sie nicht hätte – hatten sie unerwartet überfallen, hatten ein Chaos in ihr angerichtet, das sie nicht gewöhnt war und das sie auch nicht mochte.
Kelly war zu einem Zeitpunkt in ihr Leben getreten, als Dale in gewisser Weise schon gedacht hatte, sie hätte einen Abschluss gefunden. Sie hatte um Kat getrauert, und etwas anderes wollte sie auch gar nicht tun. Sie fühlte sich wohl in dieser Trauer, in diesen Erinnerungen, die die schönsten ihres Lebens waren. Bis auf den Schluss.
Doch Kelly war ein neuer Anfang gewesen. Ein Anfang, mit dem sie gar nicht mehr gerechnet hatte. Deshalb hatte sie sich auch mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.
Aber sie konnte sich wehren, wie sie wollte. Gefühle ließen sich nicht befehlen wie ein Bataillon auf dem Schlachtfeld. Die Liebe war ihr eigenes Schlachtfeld. Ein ganz anderes als die, die sie im Krieg kennengelernt hatte.
Und Kelly war in dieser Art der Kriegsführung viel erfahrener. Für sie war das alles so selbstverständlich, Zärtlichkeit, Gefühle, Liebe. Sie hatte kein Problem damit. Wahrscheinlich hatte sie Dale schon allein deshalb fast wie im Sturm genommen, ohne es richtig zu merken, ohne diese Offensive überhaupt geplant zu haben.
Im Grunde genommen hätte Dale ja schon gern bei all dem mitgemacht. Nach dem ersten Widerstand, den sie Kellys Bemühungen entgegengesetzt hatte, hatte sie das mehr und mehr gespürt.
Nur wusste sie nicht, ob sie sich auf diesem Schlachtfeld gut genug auskannte, um mitspielen zu können.