Читать книгу Wyatts Vorsatz - Kayla Gabriel - Страница 8
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Оглавление„Warum machst du so ein Gesicht? Hat dich dieser Verrückte wieder angerufen?”
Lucy Summer schaute von ihrem Handy auf, lächelte und rollte ihre Augen wegen ihrer besten Freundin Lexie. Lexie hüpfte an ihrem Schrank auf und ab und zog sich ihre Hose und die bequemen Tennisschuhe an, ohne dass ihre nackten Füße dabei den Boden berührten. Lexie kam gerade zur Schicht, während Lucy ging, etwas das immer öfter passierte je näher sie sich dem Ende ihrer Zeiten als Assistenzärztinnen näherten.
„Nein, aber er hat mir sechs Mal geschrieben. Selbst wenn ich antworten wollte, ich habe die ganze Zeit gearbeitet”, seufzte Lucy. Sie zog ihre Hose aus und eine dunkle Jeans an und hüpfte dann genauso, wie Lexie es getan hatte. Anstatt ihre schmerzenden Füße wieder in ihre grässlichen aber bequemen Tennisschuhe zu stecken, zog Lucy die Flipflops aus ihrem Schrank und ließ sie auf den Boden fallen. Seufzend glitt sie hinein.
„Ich weiß nicht warum du diese Schuhe trägst, nachdem du 24 Stunden gestanden hast”, sagte Lexie und warf Lucys Flipflops einen missbilligenden Blick zu. „Meine Füße mögen ihre Freiheit nach der Arbeit. Du weißt, wie ich ticke. Wir sind doch schon, na sag, zehn Jahre jetzt befreundet?”, sagte Lucy.
Lexie lachte, sie schüttelte ihr perfektes blondes Haar. Lexie und Lucy taten gerne so, als wären sie Zwillinge, aber Lexie war eine große, weidenartige Eiskönigin neben Lucys brünetten Locken und der blassen, mit Sommersprossen bedeckten Haut. Lucy machte ihre Mutter dafür verantwortlich, denn alle Summer-Frauen waren praktisch Klone. Große Brüste, großer Hintern, breite Hüften, wiiiiiinzige 1,50 m Persönlichkeiten. Lexie dagegen sah aus, als wenn sie gerade vom Set von einer dieser kitschigen Krankenhausserien kam, während Lucy häufig für eine Medizinstudentin gehalten wurde. Es war besonders unfair, weil sie beide hart arbeiteten, um ihr letztes Jahr als Assistenzärztinnen zusammen zu beenden.
„Warum dieses Gesicht? Soll ich diesen Typen zusammenschlagen?”, fragte Lexie und zog eine blonde Augenbraue hoch.
Jetzt war es an Lucy zu lachen.
„Nein. Ich dachte nur gerade, dass wir nur noch eine Handvoll Monate zusammen hier bei Mount Mercy haben”, sagte Lucy und zog eine Grimasse.
„Das hängt von dir ab, glaub ich. Einige von uns waren verantwortungsbewusst und haben sich entschieden, wo wir unsere Spezialisierung machen wollen”, neckte Lexie.
„Gott, erinnere mich nicht dran.”
„Du hast zehn Angebote. Such dir eins aus. Bei eins meine ich, such dir eins in Boston aus, sodass du in meiner Nähe bleibst.”
Lucy stöhnte.
„Es sind sieben Angebote und Boston ist zu kalt. Du bist verrückt, dass du dort hinziehst. Warum ziehen wir nicht nach Hawaii oder so?”, witzelte Lucy.
„Wenn wir nur lesbisch wären … Unsere Leben wären so perfekt, weil wir uns bereits gefunden haben”, bedauerte Lexie. „Männer ruinieren nur alles.”
Lucys Handy vibrierte und piepte in ihrer Hand und sie erschrak.
„Wo wir gerade von Männern sprechen …” Lucy schnaubte. „Ich war auf vier Dates mit dem Typen und er glaubt, wir sind verlobt oder so.”
„Ich dachte, ihr habt nicht einmal …” Lexie machte ein lüsternes Gesicht und eine obszöne Geste und beide fingen an zu lachen.
„Ich kann nicht glauben, dass du Ärztin bist. Du bist sooooo unreif”, sagte Lucy. „Und wir haben keine Art von Beziehung. Ich habe ihn das letzte Mal nur getroffen, um ihm persönlich zu sagen, dass ich ihn nicht mehr sehen will. Er schien meine Hinweise in den Nachrichten nicht richtig zu verstehen.”
„Du bist netter als ich, Lucy. Ich bin mit Jeremy sieben Monate ausgegangen und habe dann über Facebook mit ihm Schluss gemacht.”
„Das war noch besser, weil jetzt bekommen wir beide jedes Mal die kalte Schulter gezeigt, wenn wir zur Radiologie gehen. Tolle Arbeit, jemanden auszusuchen, der bei deiner täglichen Arbeit wichtig ist und ihn dann abzuservieren. Danke dafür.”
Lexie atmete aus und zuckte mit den Schultern.
„Er war nicht gut im Bett”, war ihre einzige Antwort.
„Du bist so oberflächlich. Ich weiß nicht, wie du Ärztin werden konntest”, neckte Lucy sie.
„Ich bin immerhin nicht prüde”, gab Lexie zurück.
„Ähm! Entschuldigung, dass ich auf die richtige Person warte. Diese bedeutungslose Medizinstudenten-Flirterei ist nichts mehr für mich. Und ich stehe auch unter Beobachtung. Du weißt, dass mein Clan ein wenig …” Lucy zog eine Grimasse.
„Konservativ ist. Ja, ich hab es verstanden. Ich ärger dich doch nur. Mal im Ernst, du bist siebenundzwanzig, fast mit deiner Assistenzzeit fertig und du bist heiß. Du solltest endlich anfangen zu daten”, sagte Lexie und warf Lucy einen spitzen Blick zu.
„Das habe ich getan und sieh doch, was dabei rausgekommen ist”, sagte Lucy und wedelte mit ihrem Handy in Lexies Richtung. „Kurt Hughes, Alter achtundzwanzig, Einzelkind und dazu noch Anwalt. Ich lasse meine Mutter nie wieder ein Date für mich arrangieren.”
Lexie kicherte und schloss ihre Spindtür mit einem Krachen. Beide waren jetzt angezogen und nahmen sich einen Moment Zeit, um ihre weißen Mäntel überzuziehen. Sie waren beide total verliebt in ihre neugefundene Doktortitel, als ob das eine große Sache wäre, und sie nutzten jede Gelegenheit, um zu zeigen, was sie sich nach so vielen schweren und ermüdenden Stunden der Arbeit und des Lernens verdient hatten.
„Du siehst gut aus, Dr. Summer”, sagte Lexie und winkte Lucy.
„Du auch, Dr. Reid. Ich seh dich morgen Abend? Der Kalender sagt, wir haben beide frei, also dachte ich, wir sollten mal wieder ausgehen, was trinken und etwa für unsere Füße tun.”
„Du kennst mich zu gut”, erwiderte Lexie mit einem Grinsen und umarmte Lucy schnell. „Ich habe mein Handy im Gegensatz zu dir während meiner Schicht dabei und ich schreibe dir in ein paar Stunden, wenn mir langweilig wird.”
„Du wirst mit deinen Tabellen nie fertig werden”, warnte Lucy, aber Lexie war bereits auf dem Weg nach draußen und winkte mit der Hand ab, während sie ging.
„Na gut. Na ja, ich habe vielleicht nicht jede Woche ein neues Spielzeug aber meine Tabellen sehen ziemlich gut aus”, versicherte Lucy sich selbst mit einem dümmlichen Lächeln.
Sie war vielleicht nicht klassisch so schön oder so frei bei der Liebe wie Lexie, aber Lucys Leben hatte sich ziemlich gut entwickelt. Die Sterne hatten sich dieses Wochenende für sie erhellt und sie hatten zwei weitere Tage frei vom Krankenhaus und ihrer Nebenarbeit in der gynäkologischen Klinik. Außerdem hatte Lexie dieselben Tage frei und Lucys ganze Woche war im Grunde so gut, wie es für die zukünftige Frauenärztin mit Babygesicht, ohne Sex, und mit siebenundzwanzig Jahren eben so war.
Als sie aus der Tür ging, piepte ihr Handy erneut.
Ich weiß, dass du meine Nachrichten siehst. Du antwortest mir besser, Lucy.
Lucy hielt inne. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Sie hatte wirklich gedacht, dass sie dem Typen ihre Gefühle klar gemacht hatte. Er hatte seine Hand bei ihrem dritten Date nach drei Minuten unter ihr Shirt gesteckt und ihr einen merkwürdig intensiven Zungenkuss gegeben und sie hatte in dem Moment gewusst, dass sie und Kurt Hughes nicht füreinander bestimmt waren. Er war süß und so, ein lässiger Mann mit hellbraunem Haar und einem Vollbart, mit schönen Augen … Aber seine Persönlichkeit war aggressiv, etwas, was ihn vermutlich zu einem guten Anwalt machte.
„Die Chemie zwischen uns stimmt einfach nicht”, hatte Lucy erklärt. Er hatte genickt und hatte ihre Worte anscheinend akzeptiert … Dennoch schrieb er ihr seitdem den ganzen Tag. Vielleicht war sie zu nett gewesen und hatte ihm eine falsche Vorstellung vermittelt. Sie dachte einfach, dass er ein anständiger Mann war und nicht wollte, dass es komisch wurde, zumal er der Sohn eines guten Freundes ihrer Mutter war.
Sie ließ ihr Handy in ihre Tasche gleiten und griff nach dem Stapel Bücher, die sie für die hoffentlich sehr kleine Nachforschung brauchen würde, die sie am Wochenende plante, sie wollte über seltene genetische Krankheiten nachlesen, die sie in einer Krankenakte diese Woche gelesen hatte. Dann ging sie zum Hauptausgang und winkte dem Wachmann kurz zu.
„Gute Nacht Paul”, rief sie.
„Gute Nacht, Dr. Summer”, erwiderte er mit einem freundlichen Lächeln. Manchmal brachte sie ihm eine Tüte Jelly Beans mit und er sagte ihr Bescheid, wenn die Verkaufsmaschinen auf einem bestimmten Stockwerk mit etwas Gutem aufgefüllt wurden. Sie waren schnell Freunde geworden, die bei Jelly Beans und Fritos miteinander angebändelt hatten.
Sie jonglierte die schweren Textbücher in ihren Armen, während sie durch die erste Reihe der Autos auf dem Parkplatz lief und schnurstracks zu ihrem alten Volvo ging, ein Geschenk von einem ihrer liebenswürdigen Onkel. Sie wechselte die Bücher auf den anderen Arm und versuchte dabei erfolglos ihre Schlüssel aus der Tasche zu fummeln. Atemlos und nur noch Schritte von ihrem Auto entfernt sah sie eine dunkle Gestalt in ihr Blickfeld kommen.
Etwas veränderte sich in Lucys Brust. Sie ließ die Bücher los und suchte in ihren Taschen und konnte ihre Schlüssel greifen, gerade noch bevor sie von einem schweren Gewicht an die Seite ihres Autos geschubst wurde. Ihre Lungen leerten sich mit einem schmerzhaften Zischen, jeder Nerv ließ ihre fünf Alarmglocken in ihrem Kopf klingen.
„Hey!”, rief sie und zappelte bei dem starken Gewicht eines großen Mannes hinter ihr.
Starke Finger krallten sich in ihre Kopfhaut, zogen ihr Haar an ihrem Pferdeschwanz und ließen ihre Augen wässrig werden. Dann fühlte sie etwas Kaltes an ihrem Hals, direkt unter ihrem Kinn und ihre Knie wurden weich.
„Beweg dich nicht”, murmelte der Typ. „Ich werde dich töten, Bitch.”
„Das musst du nicht. Nimm mein Portemonnaie, nimm alles, was du willst”, stammelte Lucy mit klopfendem Herzen und einem Magen, der vor Angst und Abneigung brannte. Sie gab einen erdrückten Schrei von sich, während der Angreifer knurrte und das Messer fester an ihr Fleisch presste. Ihre Haut war warm und pulsierte und sie war sich ziemlich sicher, dass er sie umbringen würde.
„Halts Maul, du hochnäsige Bitch”. Der Mann ließ ihr Haar los und fuhr mit der Hand an ihrer Seite herunter, ehe er ihr Shirt hob. Seine Wörter ließen sie innehalten, und sie fragte sich, warum er so etwas sagen würde, außer er kannte sie.
Der Mann hielt inne, seine Finger lagen an ihrem BH-Verschluss, nur Zentimeter von ihren Brüsten entfernt. „Ich bin Schwester, ich bin Tochter”, flüsterte Lucy und schluckte den Klumpen herunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Sie bemerkte, dass sie weinte, dicke Tränen liefen ihr über die Wangen. Die Hand mit dem Messer sackte für einen Moment, aber lange genug. Lucy bewegte sich noch ehe sie es bemerkte, die jahrelangen Selbstverteidigungskurse kamen ihr plötzlich in den Sinn. Ihre Hand griff an seine Taille und gaben ihm einen kurzen, kräftigen Schubs, der ihn aufschreien und das Messer fallen ließ. Lucy drückte sich gegen das Auto, und schleuderten ihren Angreifer ein paar Meter zurück. Sie erwartete, dass er sie sofort wieder angreifen würde, aber als sie sich umdrehte, machte sie sich fast in die Hosen.
Ihr Angreifer oder der Mann, den sie für den Angreifer hielt, weil er eine schwarze Ski-Maske trug, kniete auf dem Boden. Über ihm stand ein riesiger Fremder, dessen Armmuskeln hervortraten, während er mit so einem grausamen, hasserfüllten Blick auf den Angreifer schaute, dass Lucy ein paar Schritte zurückwich. Der Neuankömmling schaute zu ihr auf, als wenn er sie das erste Mal bemerkte, und starrte sie mit seinen eisblauen Augen an.
„Geht es dir gut?”, fragte er und seine Stimme war ein kehliges Knurren.
„J-ja … ich denk schon”, flüsterte Lucy und ihre Unterlippe zitterte dabei. Tatsächlich zitterte ihr ganzer Körper und auch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nichts weiter tun konnte, als ihren Arm um ihren Körper zu schlingen und zu zittern.
Der muskulöse Fremde schaute wieder auf Lucys Feind, und hob seine Lippen, um seine Eckzähne zu zeigen. Der Möchtegern-Schurke wimmerte tatsächlich und Lucy konnte ihm keinen Vorwurf machen. Der große Mann hob seinen Arm und schaltete den Angreifer mit einem einzigen Schlag aus, das kranke Knacken des Knochens ließ Lucy zusammenschrecken.
„I-ich sollte … wir sollten den Wachmann holen”, sagte Lucy und wischte sich über ihr Gesicht. „Und die Polizei rufen.”
Der Mann schaute zu ihr hoch und sie bemerkte, dass er ebenfalls zitterte. Sein dunkles Haar war zerzaust, sein stoppeliger Kiefer angespannt und, seine schönen blauen Augen brannten mit einer beängstigenden Art von innerem Feuer.
„Er ist menschlich. Unsere Leute sollten das machen”, antwortete er.
„Unsere … unsere ….”, wiederholte Lucy während ihr ein Licht auf ging. „Du bist ein Berserker?”
Der Mann schaute sie merkwürdig an.
„Natürlich.” Er schaute auf den Mann zu seinen Füßen. „Ich glaube, du solltest dich hinsetzen. Setz dich einfach kurz auf deine Motorhaube, bitte.”
Lucy trat zurück und erfüllte die Bitte, ohne zu fragen. Etwas an der Art, wie er sie ansah, versicherte ihr, dass er keine Bedrohung war, sein selbstbewusster Ton ließ sie ohne zu zögern gehorchen. Es war einfacher, wenn jetzt jemand anderes die Sache in die Hand nahm.
Sie schaute zu, wie er ein Handy aus seiner Jeans holte, es umdrehte und für eine Sekunde wegtrat, während er wartete und sich dann wieder umdrehte, um sie anzusehen. Als wenn er sie nicht aus seinem Blickfeld lassen könnte, so schien es. Lucys Magen machte einen Satz, aber sie schob den Gedanken beiseite. Sie war im Schock, das war alles. Manchmal reagierten Menschen merkwürdig auf ein Trauma, mit mehr als zitternden Händen und Tränen.
Das war vermutlich der Grund, warum Lucy jetzt ihren Retter gründlich betrachtete. Sie bewunderte die Art wie sein rotes, enges Shirt an seinen Armen und seiner Brust klebte, die Art wie seine Jeans an seinen Hüften hing. Sie schätzte, dass er ungefähr 1,80 m groß sein müsste, vielleicht auch 1,98 m. Er sah unheimlich gut aus, jetzt wo sie wirklich hinsah. Wie Beckham in diesem Armani Unterwäsche Werbespot.
… und über tausend Punkte außerhalb Lucys Liga. Dieser Mann war wahrscheinlich auf dem Weg zu einer Party mit irgendwelchen Victoria Secrets Engeln irgendwo und war einfach nur auf den Krankenhausparkplatz gestolpert, vielleicht hatte er nach einem heißen Nachtklub gesucht, von dem Lucy noch nie gehört hatte.
Sie kicherte bei ihrem absurden Gedankengang und erntete einen scharfen, argwöhnischen Blick von dem Fremden. Er legte auf und ging dann zu Lucy, dabei hielt er seinen Körper angewinkelt, sodass er Lucys Angreifer beobachten konnte, während er mit ihr sprach. Er lehnte sich herunter und zog dem Mann die Skimaske herunter.
„Kennst du ihn?”, fragte er.
Lucy leckte sich über ihre Lippen und schüttelte ihren Kopf.
„Nein. Nein, ich dachte …”, sie zögerte.
„Du dachtest was?”, fragte ihr Retter prompt. „Du kannst es mir sagen.”
„Er … er hat mich eine hochnäsige Bitch genannt. Ich dachte nur, ich weiß nicht. Ich dachte, es hörte sich irgendwie persönlich an, wenn das Sinn macht. Nicht, dass ich eine Bitch wäre, aber dieser hochnäsige Teil … ein Fremder sagt doch so etwas nicht oder?” Lucy schniefte und nutzte den Ärmel ihres Mantels, um an ihrem Hals zu wischen. Er war voller roter Blutflecken, die sie keuchen ließen.
Der Mann nickte und dachte einen Moment über ihre Worte nach, ehe er fortfuhr.
„Ich lasse jemanden kommen, der sich um ihn kümmert”, sagte er und nickte zu dem Körper am Boden.
„Er ist nicht … soll ich ihn mir anschauen? Ich bin Ärztin”, platzte es aus Lucy heraus. Schuld schwoll in ihrer Brust. Wo war ihr hippokratischer Eid noch vor ein paar Minuten gewesen? Sie hätte zumindest seinen Puls überprüfen, eine Bahre organisieren sollen …
„Es geht ihm gut”, sagte der Mann mit verengtem Blick. „Ich mache mir mehr Sorgen um dich, Lucy.”
Lucys Augen weiteten sich.
„Woher weißt du, wie ich heiße?”, fragte sie und hatte plötzlich wieder Angst.
Der Mann bewegte sich und räusperte sich, er sah plötzlich unbehaglich aus, das erste Mal, seit Lucy ihn gesehen hatte.
„Nenn mich … ich weiß nicht, einen Schutzengel oder so. Du warst in Gefahr und ich bin hier, um dich zu beschützen, bis sie vorbei ist.”
Lucys Mund öffnete sich, aber es kamen keine Wörter heraus. Ihr Schutzengel? Vielleicht war er genau so ein Racheengel, wie sie ihn sich zuerst vorgestellt hatte.
„Ich glaube nicht, dass du jetzt fahren solltest. Darf ich dich nach Hause fahren, Lucy?”
Lucy schaute ihn an und spürte, wie sie hysterisch wurde. Das war alles zu viel. Sie hatte seit einem Tag kaum geschlafen, dann war sie von einem Unbekannten angegriffen worden, der sie zu kennen schien und jetzt starrte dieser griechische Gott sie an und bat sie, ihn auf sie aufpassen zu lassen …
„Ich... ich werde ein Taxi nehmen”, sagte sie und versuchte ihre Stimme ruhig zu halten.
Ihr Retter rieb sich den Nacken und schüttelte dann langsam seinen Kopf.
„Ich glaube nicht. Ich habe mein Motorrad hier. Du könntest schnell zu Hause sein”, sagte er und zeigte auf sein Motorrad. Seine Stimme war jetzt sanft, nicht richtig bittend, aber dennoch sehr besorgt. Lucy starrte ihn eine ganze Minute lang an, unfähig das alles zu verarbeiten.
„Wie heißt du?”, fragte sie schließlich und ihre Schultern sackten zusammen.
Die Art, wie er zögerte, ehe er endlich sprach, brach ihr Vertrauen in ihn, aber als er antwortete, ruhte sein Blick fest auf ihrem.
„Wyatt”, sagte er.
„Das ist ein schöner Name”, sagte Lucy und die Wörter waren raus, ehe sie sie noch aufhalten konnte. Sie hob eine Hand und rieb ihre trüben Augen, dann schaute sie wieder hoch. „Ich denke, ich werde dein Angebot mit der Fahrt nach Hause annehmen, Wyatt.”
In kürzester Zeit klammerte sich Lucy an Wyatts Rücken, und sog tief seinen maskulinen Duft von dem Helm ein, den er ihr auf den Kopf gesetzt hatte, und flog die dunklen Straßen von Seattle entlang. Wyatt hatte ihre Schlüssel genommen, ihre Bücher in ihr Auto gelegt und alles abgeschlossen. Dann war er auf sein Motorrad geklettert und hatte ihr zugewinkt, sich hinter ihm zu setzen.
Warte, sagte er. Lucys Arme waren jetzt um seine Hüfte geschlungen, peinlich fest, weil sie noch nie zuvor auf einem Motorrad gesessen hatte. Für eine Sekunde schloss sie ihre Augen und lehnte ihren behelmten Kopf an seinen Rücken. Für eine Sekunde und nur weil sie wirklich eine schlimme Nacht gehabt hatte. Lucy stellte sich vor, dass das ihr Leben war. Das sie nicht nur Ärztin war, sondern auch seine Freundin. Oder vielleicht seine Partnerin, ein echter Mann, der sexy und klug und fit war, genauso anziehend wie der Mann, an den sie sich jetzt festklammerte.
Sie kicherte und schüttelte ihren Kopf. Lucy war vieles, aber keine Träumerin. Auch war sie kein verliebter, geiler Teenager. Sie steckte die Erinnerung an Wyatt weg und behielt sie für regnerische Tage, wenn sie zu erschöpft war, ihren krankhaft benutzten Vibrator herauszuholen…
Sobald die Fahrt begann, schien sie auch schon fast vorbei zu sein. Wyatt fuhr zu Lucys kleinem Häuschen, machte den Motor aus und wartete. Lucy wartete eine Sekunde, dann erkannte sie, dass sie zuerst absteigen musste. Sie klettert vom Motorrad und nahm den Helm ab.
Wyatt nahm ihr den Helm ab und schaute an ihr hoch und runter, als wenn er sich versichern wollte, dass sie noch heile war.
„Ich werde warten, bis du reingegangen bist und alle Räume überprüft hast. Wink mir zu, dann schließe überall gut ab, okay?”, sagte Wyatt.
„O-oh”, sagte Lucy unsicher, was sie jetzt tun sollte. „Ähm … danke, dann. Ich meine, ich weiß nicht, ich –“
„Gib mir dein Handy”, sagte Wyatt und schien die Geduld zu verlieren. Lucy nahm ihr Handy aus ihrer Tasche, gab den Code ein und reichte es ihm. Während sie zu sah, tippte Wyatt seine Nummer in ihr Handy und schickte sich dann selbst eine Nachricht. „Okay, Geh rein. Du hast viel durchgemacht. Du musst dich ausruhen.”
„Okay”, sagte Lucy. „Okay.”
Mit zitternden Fingern zog sie ihren Schlüssel hervor und ging zur Veranda. Sie machte die Tür auf und ging hinein, dann machte sie überall Licht an und überprüfte die Wohnung. Zum Glück hatte sie nur fünf Räume in ihrem kleinen Bungalow, es dauerte also nur ein oder zwei Minuten. Als sie sich sicher war, dass niemand drinnen war und alle Schlösser funktionierten, trat sie wieder auf die Veranda.
„Es ist alles gut, denke ich”, sagte sie.
Wyatt schaute sie lange an.
„Lucy, … es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber es ist nicht vorbei. Jemand will dich umbringen.”
Lucy wich zurück und erschrak.
„Du hörst dich so schrecklich sicher an. Du kennst mich nicht einmal!”, protestierte sie.
„Ich kann nicht wirklich erklären, woher ich das weiß, aber … ich weiß es. Du bist in sehr großer Gefahr.”
Die Intensität und Ehrlichkeit auf seinem Gesicht ließen Lucy zittern.
„I – Okay”, war ihre einzige Antwort und ihre Schultern sackten zusammen.
Wyatt schaute sie noch einen langen Moment an, ehe er das Thema wechselte.
„Ich werde morgen jemanden schicken, der all deine Schlösser austauscht. Kannst du dafür hier sein?”, fragte er.
„Ja. Natürlich”, sagte sie und winkte mit der Hand.
„Okay. Geh rein. Es wird jemand hier sein, der Wache hält, nur für den Fall. Du musst dir um nichts Sorgen machen, Lucy.”
Lucy hielt inne, sie wollte ihm irgendwie danken, aber dann nickte sie einfach nur. Er setzte seinen Helm auf und verdeckte sein Gesicht und dann wendete er sein Motorrad in einem langsamen Kreis und startete den Motor. Er schaute zurück und wartete.
Lucy ging wieder hinein und verschloss die Vordertür und schloss sich ein. Dennoch bewegte sie sich nicht, bis das Geräusch seines Motorrads verstummte und er wirklich weg war. Sie biss sich auf ihre Lippe und sank mit dem Rücken zur Tür auf den Boden. Sie lag dort und bewegte sich nicht, bis das erste Morgenlicht durch ihre Fenster schien und sie sich endlich sicher genug fühlte, einzuschlafen.