Читать книгу Die neunschwänzige Katze - Kendran Brooks - Страница 4
Dezember 2013
ОглавлениеEs war bislang kaum Schnee gefallen und trotzdem war Weihnachten allgegenwärtig. Die Geschäfte hatten sich herausgeputzt, mit Plastik-Tannengirlanden und bunten Lichtern. Die Verkäuferinnen lächelten besonders freundlich, vielleicht in Erwartung einer möglichst fetten Umsatzprovision, bevor der Start der Ausverkaufssaison nach dem Boxing Day begann. Selbst die Passanten auf den Gehsteigen schienen beschwingter, auf jeden Fall jedoch umsichtiger und zuvorkommender als die übrige Zeit im Jahr. Niemand wollte es sich mit dem Christkind verderben, nicht einmal die Muslimen, Juden, Buddhisten und Hindi.
Henry Huxley, Holly Peterson und Sheliza bin-Elik waren im Harrods unterwegs, hatten sich mit der passenden Winterbekleidung für die Vierzehnjährige herumgeschlagen, hatten sie zum einen oder anderen Stück überreden können. Zumindest vor Holly zeigte die junge Muslimin bislang keine Scheu, akzeptierte sie auch in den Umkleidekabinen, war für ihren Ratschlag durchaus dankbar, auch wenn sie sich stets für das langweiligste und damit auch günstigste Teil aus einer Auswahl entschied.
»Hier ist alles so furchtbar teuer«, meldete Sheliza ihre Bedenken immer wieder an, »eine wollene Mütze für achtzig Pfund? Das sind doch Halsabschneider.«
Die Britin lächelte jeweils nachsichtig, wiegelte ab, fand auch aufmunternde Entschuldigungen oder sprach über das oft sehr hohe Einkommen der Londoner. Sie zeigte große Geduld mit der Alawitin aus Syrien, wollte sich die Weihnachtsstimmung nicht durch möglicherweise berechtigte, aber ungelegene Anklagen und Diskussionen vermiesen lassen.
Später fuhren sie ins Kellergeschoss, besuchten dort den Supermarkt, wo Henry sich eingehend beraten ließ und sich vom Verkäufer fürs Neujahr einen erst kürzlich eingetroffenen, spritzig-fruchtigen Champagner eines kleinen aber feinen Herstellers wortreich aufschwatzen ließ, während Sheliza und Holly ohne großes Interesse die Regale mit den Weinflaschen abgingen und sich die junge Muslimin wiederholt über die aberwitzig hohen Preise beschwerte und den Konsum von Alkohol ganz generell anprangerte.
»Toleranz«, meinte Holly nachsichtig, »muss jeder Mensch erst einmal lernen, Sheliza. Christus hat das Abendmahl der Überlieferung nach mit Brot und Wein gefeiert. Deshalb ist Alkohol bei uns nicht verboten, auch wenn er viel Böses anrichten kann, wenn es jemand mit dem Trinken übertreibt.«
»Darum verstehe ich das auch nicht«, meinte die Vierzehnjährige kopfschüttelnd, »man weiß genau, dass Alkohol für Menschen nicht gut ist und erlaubt ihn trotzdem? Das ergibt einfach keinen Sinn? Zumindest die Religion sollte ihn doch verbieten?«
»Die Bibel lässt den Menschen sehr viele Freiheiten, Sheliza, engt sie weit weniger in der Gestaltung ihres Lebens ein als zum Beispiel der Koran oder die Thora der Juden. Das Christentum glaubt nämlich an zwei Dinge. An die Selbstverantwortung der Menschen für ihr Leben und an die Selbsteinsicht der Menschen, wenn sie sich im Gebet an Gott wenden und ihn um Rat fragen.«
»Aber wäre es nicht besser, wenn auch die Bibel mehr Dinge verbieten würde? Nicht nur das Trinken, sondern auch all die nackten Bilder von Frauen und Männern in der Werbung? Wie kann eine Gesellschaft funktionieren, wenn die Sitten so zerfallen? Das Zusammenleben ist doch viel einfacher, wenn die Menschen mehr Regeln befolgen?«
»Ach, Sheliza«, seufzte Holly leise, »die Welt ist doch weit komplexer, als dass sie durch ein heiliges Buch für alle Zeiten abgebildet werden könnte. Sieh dir doch an, was überall auf der Welt geschieht, ob unter den Christen, den Muslimen, den Buddhisten oder den Hindi. Gewalt tritt überall auf, aber auch Ungerechtigkeiten, Übervorteilung und Betrug. All das verbieten zwar die heiligen Bücher und trotzdem werden sie verbrochen, selbst von gottesfürchtigen Menschen. Die Religion gibt zwar einen Rahmen vor. Doch umsetzen müssen ihn die Menschen selbst und daran hapert es in allen Kulturen und zu allen Zeiten.«
Sheliza schien sich im Moment mit der Erklärung abzufinden, interessierte sich auch nicht länger für den Wein und die Spirituosen, schlenderte gedankenverloren weiter, hinüber zu den Gestellen mit den Konserven. Die Britin folgte ihr wie unabsichtlich und mit Abstand, behielt sie jedoch fast ständig im Auge, versuchte die Gedanken und Gefühle der Vierzehnjährigen zu erraten, wenn sie irgendwo stehenblieb und sich irgendwelche Verkaufswaren näher betrachtete.
Was versprach sich ein muslimischer Teenager von seinem Leben?, fragte sich Holly immerzu und nach einer Weile ergänzte sie in Gedanken, was versprach sich ein schwangerer, muslimischer Teenager von seinem Leben?
*
Alles sprach vor allem vom Karneval, der bereits in wenigen Wochen stattfand. Doch auch in Rio de Janeiro hatten sich die Geschäfte zur Weihnachtszeit herausgeputzt, hatten ihre Auslagen mit weit teureren Produkten als üblich bestückt und mit besonders schönen Verpackungen versehen, ließen die Schaufenster lustig blinken, füllten ihre Verkaufsräume mit möglichst stimmungsvollen Liedern. Chufu Lederer und Mei Ling kämpften sich durch die Massen an Menschen, die mit ihnen zusammen das Barra da Tijuca Einkaufszentrum an diesem Samstagmorgen bestürmten. Die Suche nach möglichst passenden Geschenken trieb die Leute in die Läden und damit den Verkäufern in die gierigen Hände.
Die beiden Psychologie-Studenten waren längst schwer bepackt, schleppten ihre bisherige Beute in wohl gefüllten Kunststofftaschen mit sich.
»Komm, setzen wir uns für einen Moment«, reklamierte Mei das sture Vorwärtsdrängen ihres Freundes von Geschäft zu Geschäft, als sie an einer Gruppe von Parkbänken vorbeikamen, die man an der Kreuzung zweier Gänge aufgestellt hatte. Aufatmend ließ sich der Philippine auf einer von ihnen nieder, stellte die Einkaufstaschen links und rechts von sich ab. Die chinesisch-stämmige Mei Ling setzte sich neben ihn, quetschte sich mit ihren Paketen in die noch freie Lücke zwischen Chufu und der anderen Armlehne.
»Puuh«, meinte sie als Einleitung, »das wird von Jahr zu Jahr schlimmer«, beklagte sie sich über den Ansturm der anderen Käufer auf die Shopping-Mall.
»Wo bleibt nur die Wirtschaftskrise, wenn man sie am dringendsten braucht«, antwortet Chufu sarkastisch. Ein gehetzt blickender Mann blieb irritiert stehen, stierte den Philippinen kurz und ohne rechtes Begreifen an, hetzte kopfschüttelnd weiter.
»Wie weit sind wir mit der Liste?«
»Wir haben alles. Bis auf Die Schande«, antwortete Chufu und wirkte erschöpft.
Mit Die Schande, bezeichnete der Philippine seit einiger Zeit Shamee, die jüngste Schwester von Mei, benannt nach einer Figur in einem chinesischen Theaterstück, das ihr Großvater sehr geliebt hatte, als er noch lebte. Chufu hatte ihren Namen zum englischen The Shame verballhornt, nicht etwa aus lauter Bosheit, sondern weil die Jüngste der Ling Geschwister oft hochnäsig auftrat und sich unnahbar Stolz gab, andere Leute darum oft vor den Kopf stieß und man von ihr in der Öffentlichkeit immerzu beschämt wurde.
»Was wollten wir noch für Shamee besorgen? Ach ja, dieses neue Parfüm von Yves Saint Laurent, dieses Rosenzeug«, sagte Mei mehr zu sich selbst als zu Chufu. Die Psychologie-Studentin trug seit jeher Chanel N° 5, konnte die Mädchen und Frauen nicht verstehen, die ständig hinter neuen Düften herjagten.
Sie packten wieder ihre Taschen und erhoben sich von der Bank, gingen weiter bis zur nächsten Parfümerie, kauften dort die 125ml Flasche, ließen sie hübsch einpacken und nickten sich zu, als sie das Geschäft verließen.
»Mission abgeschlossen«, vermeldete Chufu in möglichst militärischem Tonfall, »alle Feinde niedergestreckt. Der Sieg ist unser.«
*
Auch Lausanne hatte sich weihnachtlich geschmückt, wenn auch weit weniger farbenfroh als Rio de Janeiro und auch nicht so großstädtisch wie London. Hier sah man den Schaufenstern oft noch die liebevolle, aber unbeholfene Hand einer Lehrtochter an oder die Nadeln rieselten bereits von den Fichtenzweigen zu früh geschnittener, dafür echter Äste. Es war das kleinstädtische, das provinzielle, das Alabima Lederer ganz besonders an Lausanne gefiel, das etwas behäbige, gemütliche. Auch mit Jules, ihrem Ehemann, lief es seit ihrem mehrwöchigen Besuch in Addis Abeba und bei ihren Eltern wieder besser. Sie hatte ihm verziehen, sein Misstrauen, seine Verschlossenheit, seine Feigheit. Das glaubte sie zumindest.
Die Äthiopierin freute sich auf die nächsten Wochen. Denn noch vor Weihnachten wollten Henry Huxley und Holly Peterson bei ihnen vorbeischauen und zusammen mit Sheliza bin-Elik die Schweiz besuchen. Alabima kannte das syrische Mädchen noch nicht, hatte nur von Jules von ihr erfahren. Doch was er ihr von der jungen Alawitin erzählt hatte, rührte sie an und machte sie gleichzeitig neugierig.
Ihre Tochter Alina war noch in der Schule. Und ihr Taekwondo-Training, von dem ihr Ehegatte Jules immer noch nichts ahnte, hatte sie eben im Kampfsport-Center beendet, dort geduscht und war nun zu Fuß auf dem Weg zum Markt, um fürs Mittagessen einzukaufen. Tomaten hatten längst keine Saison mehr, doch sie brauchte welche. Und auch Bananen würde sie erneut kaufen. Denn Jules sollte auf Anraten seiner Augenärztin mehr Magnesium zu sich nehmen, was der Schweizer jedoch verweigerte, zumindest in Tablettenform, während er zufällig herumliegenden, gelben Schlauchäpfeln nicht widerstehen konnte, ähnlich einem behaarten Urwaldbewohner, der eben erst gelernt hatte, sein Gleichgewicht auch auf zwei Beinen zu halten. Der Vergleich gefiel der Äthiopierin und sie lächelte still in sich hinein. Nicht, weil sie Jules als Affen sah. Eher weil das Tier so perfekt zu einem Menschen passte, der seine Freiheit nur ungern eingeschränkt sah und darum lieber töricht handelte, sich gleichzeitig den Anschein von Besonnenheit gab, als hätte er alles wohl durchdacht, nur um danach doch ganz instinktiv und unbewusst einer Verlockung zu erliegen.
Die Auswahl an Salaten war erstaunlich groß und sie wählte diesmal Endivien und Zuckerhut aus, wollte den bitteren mit einer sehr würzigen Soße veredeln, die gerippten Blätter des anderen zum Wickeln von Gemüse-Rouladen verwenden. Rosenkohl wanderte ebenso in ihre Tragetasche, wie ein Kilo Mohrrüben, eine Knollensellerie und zwei kleinere Kohlrabi, deren Geschmack Jules ganz besonders mochte. Alina hingegen würde sich einmal mehr beschweren, sobald sie den Duft des Kohlgemüses in die Nase bekam. Die Sechsjährige mochte ihn nicht, hatte ihn nie gemocht, würde ihn nie mögen, wie sie stets behauptete, wenn er wieder einmal auf den Tisch kam.
Alabima blickte sich um, sah nicht die vielen Menschen, sah auch nicht die wenigen Tauben, die da und dort hockten oder pickten, sah auch nicht die Häuserfront mit den Geschäften, nahm dafür das Gefühl von Weihnachten in sich auf, die irgendwie gedämpften Geräusche, die auf einmal spürbar lauere Luft, die friedvoll anmutende Stimmung.
Das Leben ist doch schön, oder?
So hatte es ihr Jules einmal übersetzt, dieses gesprochene Intro von Konstantin Wecker auf CD, als der bayerische Künstler auch von einer besonderen Stimmung sprach, spät nachts, in einer Kneipe, auf dem Pissoir, wenn selbst der Mann mit der vergrößerten Prostata diese Worte wählte, während er die Tropfen fast einzeln aus seiner Harnröhre quetschte. Sie lächelte.
*
»Eine wichtige Hürde haben wir geschafft«, vermeldete Henry Huxley zufrieden lächelnd nach seiner Rückkehr in ihr Appartement. Holly und Sheliza sahen den Briten auffordernd an, wollten mehr erfahren.
»Unser Anwalt hat die schriftliche Aussage deines Groß-Onkels erhalten und übersetzen lassen. Jussuf bestätigt, dass deine Eltern mit allergrößter Wahrscheinlichkeit tot sind. Dr. Coppers meint, wir sollen gleich morgen früh mit ihm zusammen vor Gericht erscheinen, damit auch du, Sheliza, eine eidesstattliche Erklärung abgeben kannst. So lässt sich dein Status als Waise juristisch bestimmen.«
Holly sah freudestrahlend Sheliza an. Die Muslimin jedoch, die seit ein paar Tagen auch in der Wohnung stets ein Kopftuch trug, weil sie sich so wohler vor den Augen von Henry fühlte, nicht so nackt und ausgestellt, zeigte eher erschrockene Augen. Es schien ihr erst in diesem Moment bewusst zu werden, dass sie bislang noch keine offizielle Waise war, dass noch niemand den Tod ihrer Eltern bezeugt hatte. Und nun sollte sie also die letzten Nägel in die Särge von Vater und Mutter, aber auch von ihren Geschwistern treiben?
»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, meinte sie kleinlaut.
Holly rückte sogleich auf dem Sofa näher zu ihr hin, nahm sie in den Arm, was die Vierzehnjährige geschehen ließ.
»Es ist ein großer Schritt, Sheliza, ohne Zweifel«, sagte sie zur jungen Muslimin, »doch jeder Mensch muss lernen, los zu lassen, irgendwann. Henry und ich wollen dich zu nichts drängen. Doch auch für dein Kind wäre es das Beste, als Britin zur Welt zu kommen.«
Henry sah seine Freundin mahnend und warnend zugleich an. Ihm war das Zusammenzucken der Schultern der Alawiten bei der Erwähnung der Adoption ebenso wenig entgangen, wie der verloren wirkende Blick des Mädchens danach. In so jungen Jahren ein Kind zu bekommen, das war bereits mehr Verantwortung als ein Teenager leisten konnte. Der Brite empfand das Vorpreschen von Holly eher als Zusatzbelastung für Sheliza und keineswegs als Entscheidungshilfe.
»Wir müssen nichts überstürzen«, meinte er väterlich zur Muslimin, »weder den Termin bei Gericht noch eine Adoption.«
Die Alawitin sah auf und direkt in sein Gesicht, schien darin etwas zu suchen, eine Antwort vielleicht auf ihre ständig bohrende Frage, ob die beiden Briten womöglich auf ihren früheren Entscheid einer Adoption zurückkommen wollten und sie gar nicht mehr in Betracht zogen.
»Ich wäre überglücklich, wenn du einer Adoption durch uns irgendwann zustimmst«, versicherte er ihr mit einem offenen Lächeln, »doch wir werden dich niemals bedrängen, niemals von dir dies einfordern. Du bleibst unser höchst geschätzter Gast, unser Pflegekind, solange du noch nicht bereit bist für eine Adoption.«
»Geht das überhaupt? Adoption ohne Ehe?«, fragte die Vierzehnjährige.
Holly drückte sie noch etwas enger an sich.
»Darüber haben Henry und ich längst gesprochen. Wir würden selbstverständlich vorher heiraten.«
»Heiraten? Nur meinetwegen?«
Die junge Alawiten schien entsetzt.
»Nein, weil wir uns lieben und wir zusammenbleiben werden«, versuchte die Britin das Mädchen zu beruhigen, »du wärst nur der Anlass, Sheliza, nicht der Grund.«
Das verwirrte die Muslimin sichtlich, diese Unterscheidung zwischen Anlass und Grund. Denn so weit war ihr Englisch noch nicht entwickelt, dass sie die exakte Abgrenzung zwischen Reason, Cause und Motive verstand. Henry sprang darum ein.
»Was Holly damit ausdrücken will. Wir beide heiraten auf jeden Fall, auch wenn wir noch keinen Termin dafür vereinbart haben. Doch wir würden es sofort tun, wenn es Einfluss auf eine raschere Adoption hätte.«
»Ich will nicht, dass ihr meinetwegen heiratet.«
Holly wollte etwas entgegnen, Henry winkte beschwichtigend ab. Bestimmt kam Sheliza von selbst drauf, wie sie die Worte von ihnen beiden verstehen musste. Sie brauchte bloß ein wenig Zeit dazu. Ein weiteres Eindringen auf den Teenager war eher schädlich als hilfreich. So drückte die aparte Frau das Mädchen noch einmal fest an sich, ließ sie danach los.
»Können wir den Termin morgen früh noch verschieben?«
Die Stimme der Vierzehnjährigen war bittend.
»Selbstverständlich. Ich ruf Dr. Coppers gleich an und sag ab. Eile ist unnötig. Warten wir mindestens bis nach unserem Besuch in der Schweiz damit. Okay?«
Sheliza nickte dankbar. Holly Peterson warf Henry Huxley einen beunruhigten Blick zu. Die junge Muslimin tat so, als hätte sie ihn nicht bemerkt.
*
»Mein Gott, was bist du doch für ein Tölpel«, herrschte Shamee den Bediensteten an, »wie kann man nur so blöd sein und mir dieses Zuckerzeug bringen.«
Angewidert stellte sie das Glas Cola zurück aufs Tablett, das Carlos, der zwanzigjährige neue Angestellte des Hauses ihr immer noch vorhielt. Wie sollte er auch wissen, dass Cola bei Shamee stets den unausgesprochenen Zusatz Zero trug? Gertenschlank war diese Chinesin doch, mager wie ein Bambusrohr.
»Abmarsch. Bring mir das Richtige.«
Es war sein erster Arbeitstag und er hatte die anwesenden Familienmitglieder erst vor wenigen Stunden und auch nur ganz kurz kennengelernt, war vom Major Domus, Aílton Santoro, bis eben noch in den Haushaltsbetrieb der Lings eingeführt worden, wurde von ihm zu seinem ersten Einsatz nach oben und zu dieser hochnäsigen Pute geschickt, die Sturm geklingelt hatte, als gälte es einen Großbrand zu löschen.
»Sehr wohl, Senhorita Shamee Ling«, versuchte er freundlich zu bleiben, was ihm nicht ganz gelang, denn seine Stimme drückte durchaus auch den großen Ärger aus, den er verspürte, »ich bin gleich zurück.«
»Tu bloß nicht so vornehm, du Kanaille«, meinte die Siebzehnjährige schroff, »wenn du mit mir auskommen willst, dann gewöhne dir rasch einen anderen Ton an, Freundchen. Frag Marta oder Aílton. Die können dir erklären, was Sache ist.«
Sie entließ ihn mit einem abfälligen Winken ihrer Hand, hatte die Geste womöglich in einem Kostümschinken aus den 1950er Jahren gesehen und sich vor dem Spiegel selbst beigebracht.
Carlos nickte, nicht besonders tief, nicht besonders ehrerbietig, presste dabei seine Kiefer zusammen, konnte so die spitze Antwort auf seinen Lippen zurückhalten, drehte sich abrupt weg und verschwand. Er war auf den Verdienst in diesem Haus dringend angewiesen, musste seine Mutter und die beiden jüngeren Geschwister finanziell unterstützen, die noch zur Schule gingen und mehr aßen, als erwachsene Männer und trotzdem ständig ein Loch im Bauch fühlten. Nachdem er die Stelle in der Kartonfabrik verloren hatte, mussten sie drei Wochen lang sogar hungern, so knapp waren ihre Geldmittel. Doch die Miete für die Dreizimmer-Wohnung ging nun einmal vor, denn ohne feste Adresse bekam man in der größten Stadt Brasiliens auf dem Arbeitsmarkt keinen Fuß mehr auf den Boden. Sein Onkel kannte zum Glück die Köchin des Hauses Ling. Sie vermittelte sein Vorstellungsgespräch mit dem Major Domus. Der hatte ihn eingehend befragt und auch getestet. Überglücklich erfuhr er am Vortag vom positiven Entscheid, war heute sogar eine Stunde früher als ausgemacht vor dem Gittertor des Anwesens erschienen, hatte beinahe fiebrig auf die vereinbarte Zeit gewartet. Der Lohn war recht gut, sogar besser als in der Fabrik, und die Arbeit erschien ihm ausgesprochen leicht. Etwas Dienern, Botengänge erledigen, bei Reparaturen mithelfen. Ja, einfach und angenehm, das hatte er zumindest angenommen, bis eben erst.
Mit einem stummen Fluch auf den Lippen stieg er die Treppe zur Küche hinab. Unten erwarteten sie ihn am großen Tisch sitzend wie die Geier, der Major Domus Santoro, die Köchin Marta und das Hausmädchen Naara, das fürs Putzen und Bettenmachen angestellt war.
»Und? Alles zufriedenstellend verlaufen?«, fragte ihn die Köchin beinahe anzüglich.
»Du wusstest, dass sie Cola Zero erwartete?«
Er stellte zwar die Frage, kannte jedoch längst die Antwort.
»Wir dachten, es wäre nur gut, wenn du unseren Augenstern gleich zu Anfang richtig kennenlernst.«
Die dicke Köchin sah ihn aufmunternd an.
»Nimm´s dir nicht allzu schwer, mein Junge. Shamee schikaniert uns alle, wo sie nur kann.«
»Dieser Philippine, dieser Chufu, der Freund von Mei Ling, wisst ihr, wie der sie nennt?«, fragte Naara anzüglich und sah die anderen triumphierend an.
»The Shame«, meinte Major Domus Aílton Santoro trocken.
»Und das bedeutet?«, fragte Carlos zurück, der kaum ein englisches Wort sprach.
»Desondra.«
Carlos sah ihn nachdenklich an. Die Klingel von oben meldete sich wieder und alle vier zuckten unter dem schrillen Dauergeläut zusammen. Zero wurde wohl dringend erwartet.
»Ja, der passt«, gab Carlos zurück und beeilte sich.
*
Die wenigen Tage in der Schweiz hatten ihnen trotz allem gutgetan. Die vierzehnjährige Sheliza hatte zwar auch bei den Lederers zu Hause stets ein Kopftuch aufbehalten und eine Niqab übergezogen, sobald sie das Haus verließen. Doch im Gegenzug musste sie die Fragen der aufgeweckten sechsjährigen Alina über sich ergehen lassen. Warum sich verschleiern? Wozu dieser Abaya, der doch jede Frau so unförmig erscheinen ließ? Wieso ein Kopftuch sogar im Haus drinnen, wo doch gar kein Wind wehte?
Die Vierzehnjährige hatte mehr als einmal hilfesuchend Henry oder Holly angeblickt, von ihnen jedoch nur ein nachsichtiges Lächeln oder Schulterzucken erhalten. Den Kampf mit der Kindergartenschülerin musste die Alawitin schon selbst bestreiten. Und so versuchte die junge Muslimin der noch jüngeren Christin glaubhaft zu vermitteln, dass sie sich unter den Tüchern weit sicherer vor neugierigen Blicken fühlte. Als aber die Kleine meinte, dass doch die Frauen im Dorf dies auch nicht täten und die Leute überall gleich wären und überhaupt, dass es doch höchstens eine Frage des Selbstbewusstseins sein müsste, da wurde Sheliza zornig.
»Meine Religion verlangt das von mir«, gab sie wütend bekannt, worauf die störrische Kleine jedoch nur ihren Kopf verneinend schüttelte und meinte: »Wie kann das sein, wenn doch du Alawitin bist, so wie die Frau eures Präsidenten Assad? Und die trägt kaum je ein Kopftuch, geschweige denn so einen Haube mit Augenschlitzen.«
Sheliza fühlte sich in die Ecke gedrängt, war vom Sofa hochgesprungen und die Treppe hoch in ihr Zimmer gerannt. Alina sah ihre Eltern kurz und etwas verstört an und wollte ihr dann folgen, wurde jedoch von Alabima zurückgerufen.
»Nein, bleib hier, Liebling, lass sie für einen Moment in Ruhe, ja?«
Selbstverständlich waren die Lederers von Holly und Henry vorgewarnt worden, hatten gewusst, dass sich die Muslimin mit ihrem neuen Leben im Westen schwertat, sich wohl darum auf Traditionen besann und sich immer mehr zurückzuziehen schien. Deshalb hatten die Lederers ihre Tochter auch entsprechend unterrichtet, hatten mit ihr über die Kleidung muslimischer Frauen gesprochen, ihr auch Bilder gezeigt. Mehr brauchten die Eltern nicht anzustoßen, kannten sie ihr Kind doch gut genug.
Henry meinte zu Alina: »Weißt du, Sheliza muss sich erst wieder selbst finden. Sie hat Schlimmes erlebt, fühlt sich allein auf der Welt, ist sehr verunsichert. Doch spätestens nach der Geburt ihres Kindes wird sie zuversichtlicher in die Zukunft blicken. Denn Verantwortung lässt jeden Menschen wachsen.«
Oder scheitern, dachte sich Jules, denn er verglich die Sheliza von eben mit dem aufgeweckten und positiven Teenager, den er auf Mor Gabriel nur wenige Wochen zuvor das letzte Mal gesehen hatte. Doch zu Holly und Henry sagte er: »Wie können wir ihr helfen? Auf diesem neuen Weg? Vielleicht lasst ihr dem Mädchen zu viele Freiheiten, lasst es zu, dass sie sich abkapselt? Besser wäre es, ihr würdet sie zwingen, sich zu öffnen.«
Holly sah den Schweizer entsetzt an, während Henry ihn mit leicht zugekniffenen Augen fixierte, weil der Brite annahm, dass im Kopf seines Freundes ein Bündel von Maßnahmen bereitlag, welches er sich längst ausgedacht hatte und das Jules auch anzuwenden wollte.
»Keine Experimente, Jules, bitte«, warnte er ihn deshalb und warf auch einen bittenden Blick hinüber zu Alabima, die zustimmend nickte und sich beschwichtigend an ihren Ehemann wandte: »Ich denke, Holly und Henry machen es schon richtig. Sie kennen Sheliza doch am besten?«
Aber der Schweizer ließ noch nicht locker, sah seinen Freund aus London zwingend an.
»Denk an die junge Gomaa«, sagte er eindringlich, »auch dort haben wir beide den Einfluss der Religion unterschätzt.«
Henry schluckte schwer und Holly Peterson sah ihren Lebensgefährten alarmiert an, sah danach auf Alabima, las in ihrem Gesicht, dass die Äthiopierin die angesprochene Geschichte wohl kannte.
»Später«, meinte Henry nur kurz angebunden zu ihr, »ich erzähl dir alles später.«
Alinas Neugierde war jedoch bereits geweckt, hatte sie den Erwachsenen doch still zugehört und versucht, alles zu verstehen.
»Was ist denn mit dieser jungen Gomaa passiert?«, wollte sie von ihrem Vater wissen, »wer ist das überhaupt?«
Jules sah seine Tochter lächelnd an.
»Dafür bist du noch zu jung.«
Sogleich erschien die Zornesfalte auf ihrer kleinen Stirn und sie rief ärgerlich aus: »Immer bin ich zu klein. Jedes Mal, wenn ich etwas wissen will, sagt man mir, ich sei noch zu jung. Du bist gemein.«
»Geh doch hoch zu Sheliza, Alina, und tröste sie ein bisschen. Sag ihr auch, dass dir die Fragen von vorhin leidtun und dass es für dich in Ordnung geht, wenn sie solche Kleider trägt.«
Die Tochter sah ihre Mutter an und verstand, denn ihr Ärger war bereits verflogen und ein listiges Lächeln hatte das Stirnrunzeln abgelöst. Sie verschwand wie der Blitz aus dem Wohnzimmer.
»Die Anklage gegen dich wurde fallengelassen?«, fragte Holly bei Alabima direkt nach und die Äthiopierin nickte sogleich: »Ja, denn es lagen ja keine eindeutigen Beweise vor, nur Indizien und später dann das entlastende Material. Sie mussten mich letztendlich laufen lassen.«
»Dann ist der Fall endgültig abgeschlossen?«
Die dunkelhäutig Frau zuckte mit den Achseln: »Zumindest wurden die Untersuchungen gegen mich von der Staatsanwaltschaft eingestellt.«
»Und dieser Muffong?«
Nun blickte Henry fragend Jules an, denn der Brite hatte von Holly vom aufdringlichen und übereifrigen Kriminalkommissar erfahren.
»Muffong und dieser Staatsanwalt Snyder sind wohl Geschichte«, winkte Alabima ab, während Jules bloß Henry ansah, seine Schultern hob und wieder sinken ließ. Für den Schweizer schien die Angelegenheit wohl noch lange nicht bereinigt. Denn die Mühlen der Justiz konnten sehr langsam mahlen und polizeiliche Untersuchungen jederzeit wieder aufgenommen werden. Henry nickte, aufmunternd und verstehend zugleich.
Am Nachmittag fuhren sie mit dem Motorboot hinaus auf den See, ließen sich bei kühlen Temperaturen aber in dicke Mäntel gehüllt für eine Stunde den Wind um die Nase wehen. Selbst Sheliza zeigte Spaß, wenn ihr auch das Hüpfen auf den niedrigen Wellen in den Magen und in die Beine ging und sie Jules deshalb bat, nicht gar zu stark zu beschleunigen. Der Schweizer überließ ihr daraufhin das Ruder, zeigte ihr, wie sie Gas geben und steuern musste. Und bald einmal jagte die angehende Mutter recht mutig geworden selbst über die Wellenkämme, hatte ihre Furcht und die Zurückhaltung verloren, zeigte, dass sie trotz Schwangerschaft und Religion im Grunde ihres Herzens ein ganz normaler Teenager blieb.
Holly saß mit Henry zusammen auf der breiten Lederbank, den Außenbordmotor im Rücken, hatte sich an den Briten gekuschelt, schaute rundum fröhlich und zufrieden drein, stieß Henry auch leicht mit dem Ellbogen an und nickte mit dem Kinn stumm zu Sheliza am Steuerruder hinüber, die das erste Mal seit langem wieder einmal das ungestüme Wesen einer Vierzehnjährigen zeigte und dabei glücklich schien, sandte einen dankbaren Blick auch zu Jules hinüber, der grinsend wie ein Lausebengel neben der jungen Alawitin stand und sie immer wieder auf mögliche Gefahren auf der Wasseroberfläche hinwies, auf schwimmende Äste oder irgendwelchen Unrat.
Ja, die weiteren Tage am Genfersee waren danach zwar kurz, jedoch weiterhin auflockernd gewesen, hatten den Panzer von Sheliza zumindest angeknackst, auch wenn sich an ihrer verhüllenden Kleidung nichts veränderte. Doch ihre Augen strahlten wieder vermehrt, zeigten neu erwachte Freude am Leben. Und auch ihr Blick war ruhiger und besonnener geworden, nicht mehr ständig auf Konfrontation aus, sondern milder gestimmt, nachsichtiger. Sahen so womöglich die Anfänge von Toleranz bei einem Teenager aus?
*
»Verdammt noch mal, wo ist meine neue Haarbürste?«
Shamee starrte die Haushaltshilfe Naara zornig an.
»Ich weiß nicht, Senhorita Shamee Ling«, gab diese demütig zur Antwort und zuckte mit den Schultern.
»Hast du sie gestohlen?«, verdächtigte die Siebzehnjährige die junge Bedienstete.
»Aber nein, Senhorita Shamee Ling«, entrüstete sich diese.
»Aber irgendjemand hat die Bürste entwendet«, beharrte Shamee auf ihre Sicht der Dinge, »wenn nicht du, dann wohl ein anderer der Angestellten? Gestern noch hatte ich sie in dieser Handtasche bei mir getragen. Und heute ist sie verschwunden.«
Naara stand da wie ein begossener Pudel, wusste nichts darauf zu antworten.
»Ich ruf die Polizei an«, drohte die jüngste der Ling Schwestern aufgebracht, »du kommst ins Gefängnis, wenn du mir meine Bürste nicht sofort zurückgibst.«
Die Hausangestellte blickte bestürzt drein: »Aber ich habe doch nichts …?«
»Schweig, du Diebin«, wurde sie von Shamee unterbrochen, »du hast bis heute Nachmittag Zeit. Wenn die Bürste bis dahin immer noch nicht an ihrem Platz am dem Frisiertisch liegt, dann lernst du mich richtig kennen. Haben wir uns verstanden?«
Naara nickte stumm, während ihre Pupillen wild umherstreiften, keinen Punkt festhalten konnten und voller Panik blickten.
»Dann geh. Verschwinde endlich«, wurde sie barsch entlassen und Naara rannte aus dem Zimmer.
Ein boshaftes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht von Shamee. Eben war ihr nämlich eingefallen, wo sie die Bürste mit dem vergoldeten Schildpatt-Rücken gelassen hatte. Das war gestern gewesen, als sie ihr Freundin Cäcilia besucht hatte. Dort nahm sie sie mit ins Bad und ließ sie dort wohl liegen. Sie würde nach dem Mittagessen kurz bei Cäcilia vorbeifahren und sie holen. Die dumme Naara würde am Nachmittag bestimmt große Augen machen, wenn die Bürste auch ohne ihr Zutun auf einmal wieder vorhanden war.
*
Es wurde ein recht stilles Christfest für die Lederers. Chufu war in Brasilien geblieben, die Verwandten von Alabima in Äthiopien weit weg, Freunde oder gute Bekannte feierten mit ihren eigenen Familien. Alina freute sich sehr über die Geschenke, auch wenn sie nur einen Bruchteil von ihrem Wunschzettel erhalten hatte. Sie wusste seit letztem Jahr, dass nicht das Christkind oder der Weihnachtsmann, sondern die Eltern die Gaben kauften, quasi als Stellvertreter. Darum hatte sich die Sechsjährige diesmal besondere Mühe gegeben und viele leicht erfüllbare Wünsche aufgelistet, um Alabima und Jules in keine Bedrängnis zu bringen. Der große Tannenbaum im Wohnzimmer mit den vielen, dieses Jahr für einmal sehr bunten Kugeln und den echten Kerzen, hatte sie mit ihrem Vater zusammen auf dem Markt ausgesucht und nach Hause gebracht. Mit ihrer Mutter zusammen wurde er danach geschmückt. Nur auf Lametta musste die Sechsjährige verzichten, denn ihre Mutter wollte dieses Jahr einen recht festlichen, aber zurückhaltenden Baum, keine Glitzerpyramide. Jules trat wenig später mit künstlich aufgesetzter, wichtigtuerischer Miene ins Wohnzimmer, trat vor die geschmückte Tanne, inspizierte sie so streng wie ein Ausbilder in der Armee seine Rekruten, nickte manchmal zufrieden, runzelte ein anderes Mal seine Stirn, ging einen Schritt zurück, kniff die Augenlider etwas zusammen, trat wieder hinzu, hob seinen Arm, berührte eine der Kugeln, so als wollte er sie verschieben, wohl um das Gesamtbild zu verbessern, tat es dann doch nicht, sondern nickte ernst, aber zustimmend.
»Ja, okay. Ihr könnt abtreten«, meinte er gönnerhaft zu den beiden Frauen.
Alabima lächelte nur milde, denn Jules hatte ihr schon vor Jahren die Geschichte eines seiner flüchtigen Bekannten erzählt. Der hatte sich nämlich vor ihm damit gebrüstet, dass seine Frau und seine beiden Söhne jeweils den Baum schmücken durften, während er selbst erst am Ende noch korrigierend eingriff, um ihm quasi den letzten Schliff zu verpassen. Auf die Rückfrage von Jules, ob das seinen Kindern und der Ehefrau nicht grässlich auf die Nerven ginge, meinte sein Bekannter voller Überzeugung: »Nein, meine Frau und meine Söhne freuen sich über die Korrekturen und versichern mir stets, wie schön der Baum doch erst dank meiner Hilfe ausschaut.«
Sein Bekannte merkte nicht einmal, wie er mit seinem rücksichtslosen Verhalten den größten Teil des Weihnachtszaubers regelmäßig zerstörte. Aber vielleicht war ihm das nach dem Einreichen der Scheidungspapiere endlich klar geworden, wahrscheinlich aber nicht einmal dann.
Alina jedoch hatte ihrem Vater stirnrunzelnd zugeschaut. Und ihre Augen hatten gefährlich zornig aufgeleuchtet, als der seine Hand nach einer der Kugeln ausstreckte. Mit geradem Rücken hatte die Kleine verharrt, behielt ihre Arme hinter ihrem Rücken verschränkt und stand trotzdem bereit, sogleich dazwischen zu springen, falls sich ihr Vater erdreisten sollte, an ihrem Werk mit der Mutter etwas zu verändern. Nur langsam entspannte sich die Tochter nach den Worten ihres Vaters wieder, schnaufte noch einmal durch ihre Nase, wie ein gereizter Stier durch seine Nüstern. Doch dann drehte sich Jules rasch zu ihr hin, hob sie hoch und wirbelte sie herum.
»Reingefallen, Prinzessin. Ihr habt großartige Arbeit geleistet. Und ich werde mich hüten, auch nur eine Kerze oder eine Kugel anzurühren. Der Baum ist einfach perfekt.«
Nach dem Abendessen zündeten sie die Kerzen an, löschten alles übrige Licht, sangen gemeinsam zwei Lieder, danach sprach Alina ein kurzes Gedicht, das sie im Kindergarten gelernt hatte. Und während ihre Tochter die Geschenke öffnete, sich freute und sich immer wieder bei ihren Eltern bedankte, saßen Jules und Alabima eng beieinander auf dem Sofa, spürten die Wärme ihrer Körper, hielten sich an den Händen gefasst.
*
Sie waren in die St. Pauls Kathedrale gegangen, nicht zur Mitternachtsmesse, sondern bereits um fünf Uhr am Nachmittag. Sheliza trug ihren Abaya, hatte auf den Niqab jedoch für dieses Mal verzichtet, trug nur eine Hidschab. Einige Kirchengänger betrachteten die Muslimin trotzdem stirnrunzelnd, die meisten lächelten sie jedoch freundlich an, dachten sich wohl, sie schnuppere an der älteren Weltreligion, könnte sich für sie möglicherweise erwärmen. Henry, Holly und Sheliza blieben im hintersten Teil der Kirche, gleich neben dem Eingang, stehen, nahmen auch nicht aktiv an der Messe teil, hörten sich die Orgelklänge und den Chorgesang an, folgten der Zeremonie mit den Augen, achteten kaum auf die Predigt. Hinterher, auf dem Nachhauseweg, den sie gemütlich zu Fuß zurücklegten, auf dem sie auch ein paar der noch offenen Geschäfte besuchten und zu einer Tasse Tee bei Fortnum & Mason einkehrten, da sagte Sheliza plötzlich, sie standen zu dritt am Zebrastreifen vor dem Ritz und warteten auf das Umschalten der Fußgängerampel: »Danke«.
»Wofür bedankst du dich?«, fragte Holly ruhig zurück.
»Dafür, dass ich bei euch sein darf, hier in London, in Sicherheit.«
Holly legte ihren Arm um die Schulter des Mädchens, drückte sie sanft.
»Du bist eine große Bereicherung für unser Leben, Sheliza. Ich möchte dich unter keinen Umständen mehr missen.«
Die Vierzehnjährige sah die Mitte-Vierzig-Jährige skeptisch an.
»Bei all den Schwierigkeiten, die ich euch mache?«
»Was für Schwierigkeiten?«, gab die Britin zurück, »du machst uns doch keine Probleme?«
Damit log sie zwar und die junge Alawiten wusste das auch. Doch die Muslimin hatte mittlerweile genug über englische Umgangsformen erfahren, so dass sie die Unwahrheit akzeptieren konnte.
Sie gingen weiter, kamen an den Auslagen des Caviarhouse vorbei, blieben vor dem Schaufenster kurz stehen.
»Diese Preise?«, jammerte Sheliza einmal mehr, »wenn du dir nur vorstellst. Eine Flasche Champagner für über 500 Pfund? Ich glaube, in ganz al-Busayrah lebt kein einziger Mensch, der so viel Geld in einem ganzen Monat verdient. Das ist doch nur noch dekadent.«
»Die Menschen haben nun einmal sehr unterschiedliche Bedürfnisse und finanzielle Möglichkeiten. Auch Familie Assad in Damaskus wird bestimmt mit solch teurem Champagner zu Silvester anstoßen. Oder noch teurerem.«
Henry sagte es ruhig zum Mädchen, hoffte, dass sein Hinweis auf den offiziellen Herrscher Syriens die junge Muslimin etwas weniger hart über den Westen urteilen ließe.
»Das ist aber nicht Allahs Wille«, kommentierte die Alawitin jedoch ungehalten, »wie kann man nur Geld für solch einen überflüssigen Luxus ausgeben, während hunderte von Millionen Menschen im Elend leben und sogar hungern müssen?«
Henry legte seine Hand väterlich auf ihre Schulter, doch die Vierzehnjährige schüttelte sie rasch ab. Der Brite schaute sie aufmerksam, aber nicht enttäuscht an.
»Weißt du, Sheliza, in deinem Alter waren auch Holly und ich über die Welt aufgebracht, konnten sie nicht verstehen, wollten sie verändern, zum Besseren führen.«
»Und? Was ist daraus geworden?«
Ihre Fragen kamen spitz und diesmal angriffslustig zurück. So leicht wollte sie sich nicht beruhigen oder gar einlullen lassen.
»Wenn man älter wird und mehr von der Welt gesehen hat, zieht man andere Vergleiche, als wenn man noch so jung und unerfahren ist.«
»Was für andere Vergleiche?«
Die junge Muslimin betonte die letzten beiden Worte auf verächtliche Weise.
»Nun, du siehst dir zum Beispiel die verschiedenen Wirtschaftssysteme an, solche, die von der Religion beherrscht werden und auch andere, die vom Staat gelenkt werden und in denen alle Menschen gleichwertig behandelt sein sollten. Und dabei erkennst du, dass der Mensch einfach nicht perfekt genug ist, um ein solches System wirklich gerecht aufzubauen, es zu steuern und zu kontrollieren, so dass es tatsächlich allen gleich gut geht. Oder du findest heraus, dass wir Menschen ganz einfach nicht fürs Paradies auf Erden geschaffen sind.«
»Wofür geschaffen?«
»Für ein Leben, das keine Sorgen kennt, weil es uns vorgegeben wird, ein Leben, das von anderen gelenkt und bestimmt wird, dem man sich fügen und unterordnen muss. Ein Leben ohne Individualität funktioniert weit schlechter als der kaum organisierte Ameisenhaufen, in dem wir hier im Westen leben. Wenn du versuchst, alle Menschen gleichzuschalten und ihnen den Willen auszutreiben, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, dann verhinderst du auch fast alle Innovationen.«
Sheliza sah Henry fragend an.
»Ich war vor vielen Jahren in Ägypten im Urlaub, genauer gesagt in Assuan. Oft bestieg ich dort eines der Segelboote, die Touristen für ein paar Stunden mieten konnten und die einem von einem Ufer des Nils zum anderen oder auch auf die verschiedenen Inseln brachte. Ich kam mit einigen der Bootsführer, die Englisch oder Französisch sprachen, immer wieder ins Gespräch. Die meisten von ihnen redeten davon, dass sie pro Woche nur an einem Tag, höchstens an zwei Tagen, mit dem Boot am Landungssteg auf Touristen warteten, die übrige Zeit jedoch das Boot von anderen Kapitänen auf deren Rechnung geführt wird. Ich fragte nach und so kam heraus, dass sie ganz einfach keine Lust verspürten, mehr zu arbeiten. Denn ein oder zwei Tage, das genügte ihnen vollauf, um ihre eigene Familie zu ernähren. Arbeiteten sie jedoch mehr und verdienten sie auch entsprechend, dann mussten sie den Überschuss an Verwandte und Nachbarn abtreten, so, wie es der Koran von ihnen verlangt. Der Koran mag sich um die Ärmsten in der Gesellschaft sorgen. Doch er grenzt damit auch viele Möglichkeiten des Wachstums aus, weil sich ein Mehraufwand ganz einfach nicht lohnt.«
Man sah der Vierzehnjährigen an, dass ihr die Erklärung wenig behagte, sie als einen Angriff auf ihre Religion wertete. Deshalb sprach Henry rasch weiter.
»Dasselbe geschah in der UDSSR. Dort bestimmte der Staat alles und Kirchen waren dort sogar verboten. Man richtete beispielsweise Sowchosen ein, riesige staatliche Landwirtschaftsbetriebe. Daneben gab es auch Kolchosen, die als Genossenschaft funktionierten und eine bestimmte Menge an Lebensmittel zu staatlich kontrollierten Preisen produzieren mussten. Doch alles, was sie an Überschüssen erzielten, durften Kolchosen frei verkaufen. Die Sowchosen bebauten dreimal mehr Land an als die Kolchosen, produzierten jedoch dreimal weniger Lebensmittel. Die Bäuerinnen der Kolchosen flogen am Wochenende sogar mit Körben voller Gemüse, Fleisch und Salat nach Moskau und nach St. Petersburg auf die Märkte und verkauften dort die Überschüsse ihrer Kolchose, weil auch die Ticketpreise fürs Fliegen vom Staat diktiert wurden und viel zu günstig waren, so dass sich das Fliegen für die Bauern finanziell lohnte. Man muss sich diese Verschwendung an Ressourcen nur einmal vor Augen führen. Auf einem Viertel der Fläche wird doppelt so viel produziert wie auf den restlichen drei und man transportiert kleinste Mengen an Lebensmitteln per Flugzeug in die Städte. Siehst du, worauf ich hinauswill?«
Sheliza nickte nachdenklich.
»Ich versteh schon, was du mir klar machen willst, Henry. Und dass der Staat nicht alles zur Zufriedenheit der Menschen regeln und steuern kann. Auch mit dieser Aussage bin ich einverstanden. Doch die Religion? Gibt es denn irgendetwas, das ähnlich wichtig ist, als Allah zu dienen? Oder deinem Gott, wenn du so willst? Was kann es denn daneben wirklich noch Wichtiges geben? Neben dem Dienst zum Wohlgefallen Allahs, meine ich?«
»Wir sollten diese Diskussion zu Hause fortführen«, warf Holly nun ein, stieg von einem Fuß auf den anderen, spürte die nasse Kälte der hereingebrochenen Nacht.
»Ja, reden wir nach dem Abendessen weiter«, entschied auch Henry.
Holly hakte sich bei Sheliza unter und die beiden Frauen gingen voraus, während Henry ein paar Schritte hinter ihnen nachfolgte, seine Augen auf den Rücken der Alawitin gerichtet hielt, mit seinen Gedanken jedoch nicht mehr in London war.
*
Im Hause Ling war es Tradition, dass alle Hausangestellten zu Weihnachten ein kleines Geldgeschenk und zusätzlich ein Präsent erhielten. Die Lings waren zwar keine praktizierenden Christen, sondern im konfuzianischen Geiste erzogen, doch als Eigentümer einer erfolgreichen Kette von Restaurants waren die Eltern schon vor vielen Jahren der katholischen Kirche beigetreten, zahlten ihre Steuern, verbuchten sie als Geschäftskosten, begingen alle höheren Feiertage nach Art der brasilianisch-christlichen Tradition.
Die Familienmitglieder machten jeweils im Vorfeld untereinander aus, welcher der Hausangestellten von wem beschenkt wurde. Und an diesem Morgen war es wieder einmal so weit. Die Angestellten hatten sich in der großen Wohnhalle eingefunden und standen in einer Reihe, während die Familie als Gruppe vor dem riesigen Weihnachtsbaum stand und freundlich, fröhlich, zufrieden oder gönnerhaft verächtlich lächelte. Aílton Santoro stand als Major Domus wie in jedem Jahr ganz rechts außen und ihm wurde vom Hausherrn auch als Erstem die Hand gedrückt. Zenweih Ling fand auch viele lobende und aufmunternde Worte und händigte Aílton ein Päckchen aus. Der nahm es mit steinerner Miene entgegen, bedankte sich ohne Überschwang, sprach danach ebenso hehre und gut gemeinte Worte, wie schön es doch war, für die Familie Ling zu arbeiten. Aufgrund der Größe und des Gewichts des Geschenks rechnete der Major Domus längst mit einer Armbanduhr, hoffte auf eine Marke aus der Schweiz, die sich leicht wieder zu Geld machen ließ.
Als nächstes trat Frau Ling vor die Köchin Marta Gonzales, bedankte sich bei ihr, sprach über das gute Essen, erwähnte auch die große Party von letztem Monat, an dem das Haus Ling einmal mehr seine Gastfreundschaft unter Beweis gestellt hatte. Auch Marta erhielt ein bunt verpacktes Geschenk. Wohl ein Parfüm oder irgendeine Hautcreme, auf jeden Fall etwas, das einer einfachen Köchin kaum von Nutzen war. Doch Abnehmer gab es für derlei Dinge in ihrer Verwandtschaft zu genüge.
Auch Carlos Forano, der erst seit drei Wochen für die Familie arbeitete, erhielt den Ritterschlag durch Chen, dem älteren der beiden Söhne. Er überreichte dem Zwanzigjährigen eine ausgesprochen leichte und auch sehr kleine Papiertüte. Eingewickelt in Geschenkpapier würde der Hausdiener wenig später darin ein paar dünne, lederne Handschuhe finden, die er noch am selben Abend an der nächsten Ecke für zehn Real loswurde.
Nun war endlich Naara an der Reihe und die Hausangestellten fragten sich neugierig, wer von den Lings sich für das Zimmermädchen ins Zeug legen wollte. Als Shamee mit einem spöttischen, aufreizenden Lächeln vortrat, ruckte Naara vor Schreck einen halben Schritt zurück, während die rechte Augenbraue von Aílton nach oben zuckte, Marta ihren Mund aufriss und Carlos erstarrt war.
Die jüngste der drei Ling Schwestern schritt wie eine Herzogin auf die arme Naara zu, blieb vor ihr stehen, reichte ihr die Hand, ließ sie von der Hausangestellten leicht drücken, sprach über den tollen Einsatz, den sie für die Familie leistete, jedoch in einem theatralisch unwahren Tonfall, überreichte der jungen Frau eine gut dreißig Zentimeter lange, mit Geschenkpapier umwickelte Rolle. Triumphierend drehte sich Shamee zur Gruppe der anderen Familienmitglieder um und reihte sich wieder bei ihnen ein. Vater Zenweih schaute seine Tochter ebenso missbilligend wie Mutter Sihena an, doch das scherte die Siebzehnjährige sichtlich wenig. Die schien sich diebisch auf das dumme Gesicht zu freuen, das die von ihr beschenkte Hausangestellte beim Auspacken machen musste.
*
Sie waren nach dem Abendessen von der Wohnküche ins offene Wohnzimmer gewechselt, in dem auch die prächtige, viktorianisch reich geschmückte Tanne stand, die ganz in Gold und Silber gehalten war und eher kleine Kugeln aufwies, dazu lange Perlenketten wie Lametta trug. Offene Kerzen waren gemäß Mietvertrag im gesamten Haus verboten und Henry und Holly hielten sich auch daran, hatten für genügend stromsparende Ketten mit LED-Lämpchen gesorgt, deren Kartonverpackungen ein warmes Licht versprochen hatten. Trotzdem verbreiteten das viele Gold und das Silber einen eher kühlen und wenig gemütlichen Schimmer im Raum. Oder lag es an den Gesichtern der drei, wie sie auf Sofa und Sessel Platz genommen hatten und sich recht ernst anschauten?
»Man kann jedes der heiligen Bücher auf unterschiedliche Weise auslegen«, knüpfte Henry an die Diskussion vor dem Caviarhouse an, »auch im Buddhismus, Hinduismus oder Christentum gibt es Menschen, die ihr Leben ganz ihrem Gott widmen und beispielsweise Priester, Mönche oder Nonnen werden. Doch das gilt nicht für die Mehrzahl der Bevölkerung.«
»Aber wie will man sein Seelenheil finden, wenn man sein Leben nicht ganz auf die Gebote seines Gottes ausrichtet? Er schuf uns doch, damit wir ihn lobpreisen und in seinem Sinne unser Leben gestalten?«
»Du kannst Religion aber auch als eine Reflektion des menschlichen Geistes sehen«, warf Holly sanft ein, »wir Menschen müssen uns doch angesichts unseres eigenen Planetensystems und der Sonne, der Milchstraße mit ihren Milliarden anderer Sterne, ja dem gesamten Weltall mit seinen unzähligen Galaxien und seiner unendlichen Dimension ganz einfach verloren fühlen, so ganz ohne Rückhalt, ohne den Glauben an eine höhere Macht.«
Sheliza sah sie forschend an, hatte noch nicht verstanden, worauf ihre Pflegemutter mit diesen Worten hinauswollte. Oder sie mochte sie nicht wahrhaben. Aber dann nickte die Muslimin doch noch, als hätte sie sich eine stumm gestellte Frage selbst beantwortet.
»Das Leben ist doch sinnlos, wenn Allah bloß eine Fiktion wäre«, reklamierte sie, »wenn der Glaube nur aus einem primitiven, menschlichen Bedürfnis entstanden wäre oder sogar nur aus Furcht vor dem Tod?«
»Wir können das Rätsel um einen Schöpfer niemals lösen, Sheliza«, Henrys Stimme war ebenso sanft, wie die von Holly zuvor, »wir können nur glauben oder den Glauben an ein höheres Wesen ablehnen. So oder so müssen wir uns im Leben anständig zu anderen Menschen verhalten. Denn schon die Vernunft sagt uns doch, dass wir untereinander Frieden halten müssen, dass wir aufeinander zugehen sollten, sodass wir die Bedürfnisse anderer Menschen erkennen können und für einen Ausgleich besorgt sind. Wir müssen uns bemühen, Ungerechtigkeiten zu unterbinden und Gemeinsamkeiten zu finden. Die Religionen verfolgen dieselben, vernünftigen Ziele.«
»Und trotzdem gibt es überall Krieg und Zerstörung, auch im Namen des jeweiligen Gottes«, fügte Holly wie als Widerspruch an und Sheliza nickte zustimmend.
»Denn es sind immer wir Menschen, die das Wort unseres Gottes auslegen und dabei allzu gerne unsere egoistischen Bedürfnisse in sie hineinpacken«, warnte Henry vor allzu leichtfertigen Schlüssen. Diesmal sah ihn die Alawitin zweifelnd an.
»Aber die Worte sind doch völlig klar? Sie stehen im Koran oder in eurer Bibel und jeder kann sie lesen und verstehen?«
Holly und Henry lächelten nun beide auf eine ernste Weise, so dass ihre Gesichter traurig aussahen.
»Mohammed hat doch andere monotheistische Religionen wie das Judentum oder das Christentum ausdrücklich geschützt. Solange er lebte und wirkte durfte jeder Mensch in Mekka oder Medina seinen Glauben frei ausüben. Erst Jahrzehnte später traten die ersten Einschränkungen ein, wurden Verbote erlassen und andere Religionen unterdrückt. Dasselbe geschah im Christentum ein paar hundert Jahre früher, jedoch ganz ähnlich. Nach einer Phase des Miteinanders, während der die neue Religion an weltlicher Macht gewann, veränderte sie sich irgendwann zur Diktatur. Die Religion wollte über jeden Menschen bestimmen. Doch das Christentum beruht auf dem Judentum und der Islam entstand auf der Basis beider Religionen. Und trotzdem bekämpfen sie sich gegenseitig, weil jede für sich die einzige Wahrheit reklamiert. Das kann jedoch kaum im Sinne Allahs, Jahwes oder von Gott sein. Denn alle drei lieben doch alle Menschen, denn so steht es in allen drei heiligen Schriften.«
»Aber es geht doch vor allem um die Seele der Menschen«, führte Sheliza nun an, »man muss doch möglichst viele Seelen retten und darum die Menschen vom einzig richtigen Weg überzeugen?«
»Und welcher Weg ist der einzig richtige, der ältestes oder der jüngste? Was ist, wenn gerade in diesen Tagen eine neue Religion entsteht, ein neuer Prophet geboren wird? Müssen wir dann all die Kriege, das Töten und Ausmerzen der Andersgläubigen einmal mehr wiederholen? Kann das der Wille Gottes sein?«
»Mir schwirrt der Kopf«, meinte Sheliza und wirkte ratlos.
»Uns allen schwirrt der Kopf angesichts der Dimensionen dieser Fragen«, sagte Holly sanft, »denn sie gehen über unseren Verstand hinaus, drehen sich deshalb im Kreis.«
»Doch eines bleibt«, mischte sich Henry wieder ein, »nämlich die Einsicht, dass nur Toleranz funktionieren kann. Und mit Toleranz meine ich, anderen Menschen ihren Willen zu lassen und sie nicht mit Gewalt eines Besseren belehren zu wollen.«
»Aber ein Leben ohne Gott ist doch völlig sinnlos, ohne echten Inhalt, ohne Bestimmung?«
Die Stimme von Sheliza drückte ihre Hilflosigkeit aus.
»Du solltest noch einen Schritt weiter zurückgehen, dann findest du die Antwort ganz von selbst«, meinte Henry und sah das Mädchen auffordernd an.
»Einen Schritt zurückgehen? Was meinst du damit?«
»Das Leben ist das Einzige, von dem wir wissen. Wir fühlen und spüren es, nehmen es bewusst wahr. Was vor dem Leben war und was nach ihm folgt, das erklären uns zwar die Religionen, die Philosophie oder die Wissenschaft. Doch was davon sich als Wahrheit erweisen wird und was als Irrtum, können wir während unseres Lebens doch nur vermuten. Denn zumindest die Wissenschaft und auch die Philosophie entwickeln sich stetig weiter, stellen ihre bisherigen Wahrheiten immer wieder in Frage, belegen frühere Fehlüberlegungen, stellen sie richtig. Auch bei den Religionen entstehen immer wieder neue. Und auch sie behaupten stets von Neuem, alle ihre Vorgängerinnen hätten sich in wesentlichen Teilen geirrt und nur sie führten zur Wahrheit.«
»Aber was willst du mir damit klar machen? Ich verstehe nicht?«, warf Sheliza beunruhigt ein.
»Niemand, keine Wissenschaft, keine Philosophie und auch keine Religion kann für sich allein die einzig gültige Wahrheit reklamieren. Die Geschichte zeigt uns doch all die Irrtümer in der Vergangenheit auf. Wenn wir jedoch keine abschließende Wahrheit kennen, dann dürfen wir auch nicht über das Leben anderer Menschen entscheiden und ihnen unsere eigenen Ansichten aufzwingen.«
Die junge Muslimin saß auf dem Sofa, blickte erst Henry lange und schweigend an, warf dann einen Blick zu Holly hinüber.
»Darf ich auf mein Zimmer gehen? Ich muss über all das nachdenken.«
Henry nickte zustimmend: »Selbstverständlich. Schlaf gut, Sheliza.«
Sie verabschiedete sich von Holly mit einer Umarmung und einen Kuss auf die Wange. Dann verließ sie den Wohnraum, verschwand in ihrem Zimmer. Auch Henry stand auf, ging hinüber zur Bar und schenkte für Holly und sich zwei Cognacs ein, kehrte mit ihnen zum Sofa zurück.
»Wird sie es verstehen? Ich meine, das mit der Toleranz, die über allem stehen muss? Auch über dem Glauben und allen Religionen?«
Henry schüttelte verneinend und traurig den Kopf.
»Nein, ich denke nicht. Denn Sheliza hat einen großen Nachteil. Sie ist Muslimin.«
Holly schaute ihren Lebensgefährten fragend und auffordernd an.
»Der Islam ist die jüngste der Weltreligionen. Wie soll man seine Gläubigen jemals davon überzeugen können, dass auch der Islam irgendwann von einer neuen Weltreligion abgelöst wird? Jede neue Generation entwickelt doch das Gefühl, sie stünde an der Spitze der Menschheitspyramide, wäre allen früheren Zeitaltern überlegen. Und so wird auch Sheliza zur Einsicht gelangen, dass als einziger der Islam die richtigen Antworten auf alle Fragen kennt.«
*
Sie saßen allesamt um den Küchentisch herum. Der Major Domus fluchte immer noch leise über die erhaltene Seiko, Marta starrte ohne äußere Regung zu zeigen auf das pinkfarbene Töpfchen mit der Handlotion, Carlos hatte die Lederhandschuhe achtlos vor sich liegen, während Naara immer noch vor der ungeöffneten Rolle saß und sie wie eine Unheil anstierte, dem sie sich nicht stellen wollte.
»Mach endlich auf«, wurde sie von Carlos gedrängt. Sie schüttelte stumm aber ablehnend ihren Kopf.
»Täubchen«, säuselte nun Marta, »irgendwann musst du es öffnen.«
Eine Träne zeigte sich im linken Auge des Zimmermädchens.
Aílton war der einzige, der das ungeöffnete Geschenk mit der armen Naara dahinter nicht beachtete, denn er war immer noch maßlos entsetzt über die Armbanduhr ohne jeden Verkaufswert, rechnete sich immer wieder aus, wie viel Geld ihm entgangen war, falls diese oder jene Marke im Päckchen gelegen hätte.
Plötzlich griff Naara zu, nahm die Rolle an sich, riss das Papier auf. Darunter kam eine Luftpolsterfolie zum Vorschein, die mehrfach um einen Gegenstand geschlungen war. Rasch wickelte sie ihn auf und hielt dann die Haarbürste in Händen, um derentwegen sie von Naara vor kaum zwei Wochen gescholten worden war. Die Bürste war voller kurzer, dunkler und recht dicker Haare. Die stammten bestimmt von der Labradorhündin der Lings. Und der Schildpatt-Rücken der Bürste war zerbrochen, zeigte nicht nur Risse, es fehlte ein ganzes Stück. In einem Anflug von Wut hob Naara ihren Arm, schwang ihn über ihre Schulter, wollte die Bürste zornig gegen eine Wand schleudern, hielt jedoch inne und ihr Oberkörper schwankte. Tränen liefen ihr über Wangen und Kinn, als sie ihren Arm langsam wieder sinken ließ und dann die verdreckte und zerbrochene Bürste sanft auf den Küchentisch zurücklegte. Sie starrte sie an und hörte dann auf zu weinen. Noch einmal schniefte sie laut, sog die Luft scharf durch ihre Nase ein, jedoch nicht zornig, auch nicht enttäuscht, eher wie ein Versprechen.
*
Eine Etage höher stellte Vater Ling seine Tochter zur Rede.
»Und was hast du für Naara gekauft?«
»Eine Haarbürste«, gab Shamee mit trotzigem Gesicht zurück.
»Teuer?«
»Ein paar Real, keine fünfzig«, log sie weiter.
»Na gut. Aber warum hast du dann so abfällig gelächelt?«
»Abfällig gelächelt?«
Sie konnte das Glucksen in ihrer Stimme gerade noch vermeiden.
»Ja, gelächelt, abfällig und überheblich. Du weißt doch genau, Shamee, dass wir auf unsere Bediensteten stolz sein dürfen, dass sie zuverlässig sind und vor allem ehrlich. Warum musst du sie dann immer wieder aufziehen oder heruntermachen? Du solltest ein besseres Verhältnis zu ihnen Aufbauen und sie nicht wie Dreck behandeln.«
»Ich weiß«, stöhnte die Siebzehnjährig weniger zustimmend als ablehnend und ihr Vater verdrehte ebenso wie sie seine Augen, wandte sich hilfesuchend an seine Frau Sihena, die ihm aufmunternd zunickte.
»Man erzählt sich, du hättest Naara vor ein paar Tagen zu Unrecht des Diebstahls bezichtigt.«
»Wer erzählt solche Lügen? Ich habe niemanden verdächtigt. Doch meine neue Haarbürste war tatsächlich verschwunden und ich hab Naara auf den Kopf zugesagt, dass ich sie bei der Polizei anzeigen werde, falls die Bürste nicht wiederauftaucht.«
»Und?«
»Ein paar Stunden später lag sie wieder auf meinem Frisiertisch«, gab ihre Tochter triumphierend bekannt, sah danach kurz und prüfend zu Chen hinüber, der sie damals nach Hause kommen sah, mit der Bürste in der Hand, die sie zuvor bei ihrer Freundin Cäcilia abgeholt hatte. Doch ihr Bruder blickte sie unbestimmt und wenig interessiert an, verband wohl das eben Gesagte nicht mit einer seiner möglichen Erinnerungen. Shamee fühlte, wie ihre Sicherheit zurückkehrte.
»Ist noch was?«, fragte sie ihre Mutter und die schüttelte verneinend den Kopf.
Das Christfest fand vier Stunden später im kleinen Familienkreis statt. Chen verbrachte den Abend diesmal bei der Familie seiner Freundin. Der zweite Sohn weilte bei einem Onkel in Brasilia und die älteste der Töchter hatte schon Kinder und feierte mit ihrem Ehemann zu Hause. So stießen bloß Mei Ling und Chufu Lederer, sowie die zweitjüngste Tochter Yaari zu Vater, Mutter und Shamee hinzu. Auch die Angestellten hatten das Haus vor über einer Stunde verlassen, waren unterwegs zu ihren Familien oder Freunden. Die Horsd’œuvre standen bereit, ebenso zwei Flaschen Champagner im Eiskübel. Im Ofen wartete die Fleischpastete, die ganz Traditionell nach einem US-amerikanischen Rezept vom Feinkosthändler stammte, von Marta fertig gebacken und warm gestellt worden war. Der Hausherr selbst würde persönlich aus dem Weinkeller eine oder zwei gute Flasche heraufholen, die ihm Aílton selbstverständlich passend zum Essen bereitgestellt hatte.
Es war von Anfang an eine lockere, wenig weihnachtliche, doch fröhliche Stimmung, wozu sicher auch der Alkohol bald einmal beitrug. Vor allem Shamee lehrte rasch zwei Gläser Dom Perigon, rülpste danach verhalten, ertrug auflachend die tadelnden Blicke ihrer Eltern, ließ sich von Chufu ein drittes einschenken.
»Man soll die Feste feiern, wie die Flaschen fallen«, verballhornte sie noch vor der Bescherung eine alte Weisheit, wurde von ihrer Mutter sogleich gemaßregelt, denn für Sihena Ling waren Stil und Würde untrennbar miteinander verbunden.
»Bitte nicht solch dumme Sätze, Shamee, nicht in diesem Haus und nicht zu Weihnachten.«
Ihre Jüngste blickte sie einen Moment lang verächtlich an, erwiderte jedoch nichts, sondern senkte rasch ihre Augen, um nicht weiter zu provozieren.
Chufu und auch Mei vermissten in diesem Jahr die Weihnachtsstimmung im Hause Ling, das Gemeinsame, das Füreinander, die Herzlichkeit. Vielleicht lag es am Fehlen der anderen drei Geschwister von Mei. Ja, das musste es wohl sein. So würden die beiden später am Abend, auf dem Rückweg zu ihrer Wohnung, übereinstimmend über den Abend urteilen.