Читать книгу Die neunschwänzige Katze - Kendran Brooks - Страница 5

Februar 2014

Оглавление

In Syrien breitete sich ein neuer Virus aus. Islamischer Staat im Irak und Syrien oder abgekürzt ISIS nannte er sich und er versprach seinen Anhängern ein besseres Leben im Diesseits wie im Jenseits und vor allem zu Lasten aller Andersgläubigen. Frühere Offiziere des irakischen Diktators Saddam Hussein bildeten ihr Rückgrat. Sie wurden ergänzt von erfahrenen Terroristen aus Tschetschenien und mit Dschihadisten aus Syrien. Unterstützt wurden sie vom reichlich fließenden sunnitischen Geld aus der Golfregion. Und sie überfielen schlecht geführte Militärposten im Irak, erbeuteten dort schwere Waffen und auch viel Geld, bekämpften immer seltener die Truppen des al-Assad Regimes in Syrien, wandten sich vielmehr gegen alle anderen Konkurrenten um das Erbe in der Levante.

Unterstützt von der mehrheitlich sunnitischen Türkei, in Ruhe gelassen von den Kurden im Nordosten, nicht bedrängt von der schiitischen Armee im Irak, beherrschten sie bald einmal große Landstriche im Grenzgebiet zwischen den beiden Staaten. Europa wie die USA schauten fassungslos zu, wie sich dieser Virus weiter ausbreitete, wie er durch Geld und Waffen von Woche zu Woche an Macht gewann. Man zögerte jedoch weiterhin, lieferte keine schweren Waffen an die Freie Syrische Armee, überließ den Seiltanz mit dem Teufel der unerfahrenen und schlecht ausgebildeten irakischen Armee.

Henry, Holly und Sheliza verfolgten die zunehmende Radikalisierung und Brutalisierung über die Medien, konnten nicht verstehen, wie der Westen einmal mehr bloß zuschaute, wie Länder von Extremisten auseinandergerissen und neu zusammengesetzt wurden. Wie war das damals, in Afghanistan, als man nach dem Abzug der Russen das Feld den Islamisten überließ? Wann war das noch mal? Ach ja, 1992. Damals akzeptierten die USA unter der Führung ihres Präsidenten George Bush Senior eine islamische Regierung unter der Führung der Mudschaheddin, kümmerten sich nicht weiter um das Land, das wenig später in einen Bürgerkrieg verfiel und seither nur Unterdrückung und Terror kannte. Doch diesmal und in Syrien lagen die Gefahren weit näher zum Westen, direkt an der Grenze zur Nato. Und trotzdem redeten in Europa und den USA weiterhin nur die zaudernden Politiker und nicht etwa die Generäle. Wie war das noch in Afghanistan Anfang der 1990er Jahre gewesen? Der Westen sah zu, wie das Land unterging, spielte den passiven Weltenveränderer, ähnlich dem britischen Premierminister Chamberlain, der 1938 aus Angst vor Adolf Hitler und den Nationalsozialisten das schändliche Münchner Abkommen unterzeichnete. Doch wie sah es im Osten der Ukraine aus? Da war Russland dabei, die Halbinsel Krim zu annektieren und Europa schaute auch hier tatenlos zu, ließ der Aggression freien Lauf.

Machten Politiker in jedem Zeitalter dieselben Fehler? Waren sie nicht lernfähig? Konnten sie weiterhin nicht rechnen?

Vom zehnten bis zum fünfzehnten Jahrhundert focht die katholische Kirche in Europa mit den weltlichen Herrschern um die Macht. Auch der Islam war mittlerweile 1400 Jahre alt geworden und steckte im selben Dilemma fest, rang mit den Regierungen der Erde um die absolute Herrschaft.

Sheliza schien vor allem traurig über all die schrecklichen Meldungen zu sein, enttäuscht über die Ohnmacht der Staaten, entrüstet über die Gräueltaten der Extremisten. Sie zog sich noch weiter zurück, vielleicht aber auch, weil sich ihr Bauch immer mehr wölbte und so die Geburt ihres Kindes im Juni ankündigte. Holly und Henry verstanden das Mädchen, drangen nicht auf sie ein, wollten sie nicht unnötig bedrängen und belasten.

In der Schule machte sie dagegen gute Fortschritte und sie fand auch großen Spaß am Lernen, sog den Stoff nur so in sich auf. Es schien, als müsste sie für sich selbst und für ihr Kind gleichermaßen Wissen anhäufen. Sie verbrachte aber auch sehr viel Zeit in der Moschee, suchte immer noch nach dem richtigen Weg zu Allah und mit Allah. Auch hier mischten sich die britischen Pflegeeltern nicht ein. Denn mit vierzehn Jahren schien Sheliza reif genug, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Dass sie nun stets Handschuhe trug, wenn sie das Haus verließ, war aufgrund der niedrigen Temperaturen im Winter verständlich. Und dass sie die Handschuhe manches Mal selbst im Restaurant nicht ausziehen mochte, lag an den abgeknabberten Fingernägeln, für die sich das Mädchen bestimmt schämte und wofür Holly vollstes Verständnis zeigte. Auch für die zunehmende Rastlosigkeit und Nervosität von Sheliza fanden sich genügend Gründe. Der Prozess gegen ihren Groß-Onkel Jussuf hatte in der Türkei begonnen und er musste mit einer langen Haftstrafe rechnen. Und ihr Kind meldete sich nun regelmäßig mit seinen Bewegungen und leichten Tritten, machte auf sich aufmerksam, reklamierte eine ständige Präsenz. Auch in dieser Beziehung waren Holly und Henry den alawitischen Frauen in der Moschee sehr dankbar, zu der Sheliza hinging, um heimatliche Kontakte zu pflegen. Sie besaßen Kinder und konnten die junge Frau seelisch wohl am besten auf die Geburt vorbereiten.

Eigentlich fühlte sich Familie Huxley Peterson bin-Elik recht wohl und war noch voller Zuversicht.

*

»Das ist sie, die Schlampe.«

Der junge Mann von Mitte zwanzig drückte sich mit den Schultern von der Wand ab, an die er bislang gelehnt war, blickte über die Straße zur anderen Seite hinüber, hatte Shamee Ling fixiert. Neben ihn schoben sich zwei andere junge Männer. Sie grinsten frech und erwartungsvoll.

Zu dritt überquerten sie lässig schlendernd die Straße, reihten sich drüben in der Strom der Passanten ein, behielten das siebzehnjährige Mädchen im Auge, die wenige Meter vor ihnen und nichts ahnend die Auslagen in den Schaufenstern ohne echtes Interesse musterte. Doch vor Cats & Carmike blieb sie plötzlich stehen, sah sich das pinkfarbene Kostüm genauer an. Es kleidete die Schaufensterpuppe perfekt, schmiegte sich eng an ihren kalten, glatten, schmalen Körper, würde sich bestimmt auch wunderbar an dem ihren präsentieren. Rasch entschlossen betrat sie die Boutique, steuerte zielstrebig die junge Verkäuferin hinter dem Tresen an.

»Den taillierten Stretch-Mini im Schaufenster, gibt’s den noch in 34?«

»Das rosafarbene Kleid?«

Shamee nickte ungeduldig.

»Ich schau rasch nach. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Die Verkäuferin deutete auf das Plüschsofa, das sich mitten im Laden breit machte. Die Siebzehnjährige hob ihr Kinn an und setzte sich vornehm wie eine Fürstin hin, blickte der Angestellten herablassen nach, wie sie zu einem der Kleiderständer ging und das gewünschte heraussuchte. Die Verkäuferin kam zurück und Shamee schnappte sich das Kleid, verschwand mit ihm in einer der Umkleidekabinen. Dort schlüpfte sie aus den Schuhen, zog ihr Wollkleid über ihren Kopf aus, stülpte sich den Stretch-Mini über, zog ihn an ihrem Körper herunter und zupfte ihn zurecht, bis er passte. Die Klingel an der Außentür des Ladens meldete einen neuen Kunden an. Shamee blickte in den Spiegel, verdrehte ihren Oberkörper, machte einen Ausfallschritt, korrigierte den Sitze des Kleides erneut, drehte sich um sich selbst. Es klopfte an der Kabinentür.

»Was ist?«, blaffte sie ungehalten, denn sie war mit sich und dem Minikleid noch nicht im Reinen, denn bei ihr warf es unterhalb der Hüfte ein paar Falten, die ihr wenig gefielen.

»Komm raus«, sagte draußen eine männliche Stimme.

Shamee war irritiert und deshalb sprachlos.

»Wird’s bald?«

Die Stimme schien verärgert.

»Was ist denn los? Lassen Sie mich in Ruhe«, verlangte sie und fühlte sich im enganliegenden Mini-Kleid auf einmal nackt und schutzlos.

Es polterte nun heftiger gegen die Tür.

»Wenn du nicht in einer Sekunde hier draußen stehst, dann erlebst du was.«

Auch wenn die Stimme wütend klang, so konnte ihr hier drinnen doch gar nichts passieren. Shamee hatte nichts verbrochen oder getan. Zumindest redete sich die Siebzehnjährige das ein. Und so sog sie noch einmal mutig geworden die Luft scharf durch ihre Nase ein, drehte danach den Türverschluss und zog sie auf.

»Na also«, wurde sie von einem frech grinsenden Kerl angesprochen, der sie unverschämt anstarrte und sie mit seinen Augen auszuziehen versuchte.

Shamee blickte an ihm vorbei in den Verkaufsraum, suchte mit ihren Augen die Verkäuferin. Doch die war nirgendwo zu sehen. Dafür lümmelten noch zwei weitere junge Männer herum, taten unbeteiligt, schauten sich die Kleider an den Ständern an, zupften an ihnen herum.

»Was wollen Sie von mir?«

Ihre Stimme zitterte leicht und sie biss sich vor Ärger auf die Unterlippe.

»Ich habe Grüße zu bestellen. Grüße an eine Lügnerin«, bekannte der freche Kerl vor ihr. Die junge Chinesin machte große Augen und fühlte, wie die Furcht sie nun erfasste.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Lassen Sie mich gehen.«

Sie packte ihre Handtasche, wollte barfuß die Kabine verlassen. Doch der Mann vor ihr streckte seine Arme links und rechts aus und blockierte die Türe, lachte dazu laut auf.

»Nur nicht so hastig, du kleine chinesische Schlampe.«

Dann trat er vor, umfasste sie grob, zog sie an sich und drückte seine Lippen auf ihren Mund, versuchte mit seiner Zunge in sie einzudringen. Shamee begann zu kämpfen, doch der Kerl hielt ihr die Arme hinter ihrem Rücken zusammen, drängte sie an die Rückwand der Umkleidekabine. Sie schnaufte heftig durch die Nase, vor Wut, vor Angst, vor Widerwillen. In Panik schnellte ihr Knie hoch und traf den Mann in den Unterleib. Der ließ sie augenblicklich los und krümmte sich stöhnend, während seine beiden Kumpane im Verkaufsraum, die alles beobachtet hatten, zu wiehern begannen und sich vor Vergnügen auf die Schenkel schlugen. Shamee hob ihre Handtasche auf, die ihr vorhin entfallen war und rannte zur Ladentür. Einer der beiden jungen Männer stellte sich jedoch in den Weg, hielt seine Arme ausgebreitet, um sie abzufangen. Sie täuschte einen Durchbruch über die rechte Seite an, drehte sich jedoch im letzten Moment zur anderen Seite um und übertölpelte ihn damit, stürzte mit einem Schrei hinaus auf den Gehsteig, wurde von den Passanten zuerst erschrocken, dann amüsiert gemustert, wie sie barfuß davonrannte. Die drei Männer verfolgten sie nicht, traten selbstbewusst aus dem Laden, nickten sich zu und gingen in der Gegenrichtung davon, der Anführer mit recht steifen Schritten und mit einem säuerlichen, immer noch vor Schmerzen verzerrten Gesicht.

*

Es war eine sehr kleine und im Grunde genommen recht unbedeutende Moschee. Sie lag in der Princelet Street, nahe der Kreuzung mit der Brick Lane, im dritten Stock eines von außen wie von innen unansehnlichen Mietshauses. Sie kam ohne Minarett, ohne Kuppel und ohne Minbar aus, besaß dafür einen Imam mit Namen Chalid al-Muzaffar. Er stammte aus Alexandria, besaß weißes Haar und das Gesicht eines gutmütigen Opas, führte jedoch eine äußerst scharfe Zunge. Darum redeten ihn die meisten Gläubigen mit Saif ad-Din an, als Schwert der Religion. Chalid al-Muzaffar entstammte einer sehr armen Familie von Fellachen, war der fünfte Sohn in einer Reihe von sechs, kam mit neun Jahren zu einem Onkel in die Stadt, der ihn die Schule besuchen ließ, wo er sich auch bald einmal für den Koran begeisterte. Sein Islam Studium an der Al-Azhar Universität in Kairo brach er im fünften Semester ab, verließ die Rechtsschule der Hanbaliten und wurde Salafist, verdingte sich vier Jahrzehnte lang als unwichtiger Imam an verschiedenen Moscheen des Landes, kam erst vor drei Jahren und im Alter von fünfundsechzig nach Großbritannien, baute hier im Auftrag Allahs und mit Geld aus Saudi-Arabien seine Moschee auf. Heute umfasste seine Glaubensgemeinschaft mehr als dreihundert Sunniten und es wurden immer mehr, denn er konnte die Menschen für den Glauben begeistern und ihnen den rechten Weg erklären. Überhaupt sprach er gerne und viel und gehässig über all das, was seiner Meinung nach den sogenannten Westen ausmachte und ein gottgefälliges Leben pervertierte.

Sheliza ging anfangs Februar das erste Mal in diese Moschee, noch scheu und ein wenig ängstlich. Ihr zur Seite stand Afifa, eine konvertierte Alawitin, die mit dem sunnitischen Salafismus endlich zum rechten Glauben gefunden hatte, wie sie der vierzehnjährigen, angehenden Mutter erzählt hatte. Kennengelernt hatten sich die beiden vor der alawitischen Moschee, in die Sheliza fast täglich beten ging. Afifa sprach sie vor gut drei Wochen das erste Mal an, wollte wissen, woher sie kam und was sie in London tat. Seitdem schien sie geradezu fixiert zu sein auf die junge Alawitin, passte sie fast bei jedem ihrer Besuche in der Moschee ab, redete auf sie ein. Anfänglich wollte Sheliza nichts mit der Frau zu tun haben. Denn Afifa galt in den Augen anderer Alawitinnen als Abweichlerin. Manche bezeichneten sie gar als Ketzerin. Doch irgendwann vertraute sich Sheliza ihr doch an, erzählte von ihrem Leben, von Sherif, dem Vater ihres ungeborenen Kindes, von der in al-Busayrah getöteten Familie und der Flucht aus Syrien in die Türkei. Afifa machte ihr bewusst, dass der Sohn eines Sunniten nur sunnitisch erzogen werden durfte. Alles andere war ein Frevel, eine Versündigung an Allah. Auch erzählte sie mit Engelszungen über den Weisen Sheikh al-Muzaffar, dem Schwert der Religion, machte sie auf den Imam neugierig und ließ in Sheliza langsam einen Plan reifen.

Die konvertierte Alawitin hatte ihr auch nicht zu viel versprochen. Denn der so weise und gebildete Geistliche zeigte ein großes Verständnis, hörte sich die Lebenstragödie der Vierzehnjährigen mit sanfter Miene an, dachte lange darüber nach und fand die richtigen Worte, gewann das Vertrauen des Mädchens. Endlich schien Sheliza den Rückhalt im Leben gewonnen zu haben, die starke Stütze aus Stein gehauen, die nicht wankte, die nicht in Frage stellte, die einfach wusste. Al-Muzaffar schien für Sheliza wie ein Segel, das im Wind nicht unnütz flatterte, sondern alle Energie auf das Schiff übertrug und es in zielgerichtete Fahrt brachte.

Von da an fuhr Sheliza jeden Nachmittag gleich nach der Schule mit der U-Bahn nach Eastend, betete zusammen mit sunnitischen Frauen, bereitete sich mit Eifer auf ihre Konvertierung zum sunnitischen Glauben vor.

Zuhause ahnten Holly und Henry noch nichts von ihrer Veränderung, glaubten ihr Pflegekind weiterhin in der alawitischen Moschee in Marylbone, warteten immer noch darauf, dass die Jugendliche die natürlichen Bedürfnisse eines Teenagers anmeldete, ihren Niqab und auch den Hidschab ablegte und sich dem Leben der Hauptstadt Großbritanniens öffnete.

Jules Lederer würde ihnen später Naivität vorwerfen, ein unnötiges, gefährliches Zaudern mit viel zu viel Freiraum und freien Willen für eine Vierzehnjährige.

»Manchmal ist Härte das Richtige«, würde ihm Henry antworten, »und manchmal zerstört Härte all das Gute in einem Menschen, was hätte heranwachsen können.«

*

Shamee kam atemlos zu Hause an, nestelte schon eine Straße vorher den Schlüssel aus ihrer Handtasche, öffnete das Tor und stürzte in den ummauerten Innenhof und weiter zum Wohnhaus, vorbei am verdutzt blickenden Wächter, der ihr hinterher sah, sichtlich irritiert über den verschmierten Mascara und den rot verweinten Augen, aber auch dass sie barfuß und in zerschlissenen Strümpfen ging. Er rief sie noch nicht einmal an, folgte ihr auch nicht, sondern zuckte mit den Schultern, stand von seinem Stuhl auf und ging hinüber zum schmiedeeisernen Tor und schob es zurück ins Schloss. Shamee war längst im Haus verschwunden, stieß dort auf ihre Mutter, sank ihr in die Arme und an die Brust. Sie weinte haltlos, schluchzte zwischendurch laut auf, war unfähig zu sprechen, zitterte am ganzen Körper. Sihena ließ sie ein paar Sekunden gewähren, dann schob sie ihre Tochter von sich weg, hielt sie jedoch an den Oberarmen fest und betrachtete das verzerrte Gesicht, blickte an ihr herunter, auf ihre schmutzigen Füße und die Nylonfetzen der Strümpfe um ihre Knöcheln herum.

»Was ist passiert?«

Ihre Stimme klang gefasst, beinahe kalt, als hätte die Mutter an ihrer Tochter nur die Zeichen erkannt, die sie längst schon erwartet hatte und darum nur noch nach Bestätigung verlangte.

Shamee schluchzte und weinte immer noch, fand nur langsam zu ihrer Fassung zurück.

»Da waren drei Männer«, jammerte sie los, »die tauchten plötzlich in der Boutique auf.«

»Und was wollten sie?«

Ihre Jüngste stockte, dachte nach, versuchte sich zu erinnern.

»Der eine sprach von Grüßen, die er auszurichten hätte. Und er nannte mich eine Lügnerin.«

»Und dann?«

»Er wollte mich vergewaltigen. Jedenfalls stürzte er sich auf mich. Ich konnte ihm aber mein Knie in den Unterleib rammen und fliehen.«

»Und deine Schuhe?«

»Die sind noch im Laden.«

Ihre Mutter hatte das Etikett entdeckt, das immer noch am anprobierten Stretch-Mini hing, fasste danach und drehte es zu sich um.

»Vierhundertneunundachzig? Für diesen Fetzen?«, meinte sie tadelnd, als sie den Preis las.

Shamee sah ihrer Mutter in die Augen und erkannte darin die Härte. Wie erschrocken trat sie einen Schritt zurück, blickte weiterhin die Frau an, die sie vor siebzehn Jahren geboren hatte, suchte in ihrem Gesicht nach Verständnis und nach Wärme. Doch stattdessen spürte die Jüngste der Ling Schwestern zuerst einen kalten Schauder, der ihr über den Nacken den Rücken hinunterkroch und gleich danach einen heißen Stolz, der sich in ihrer Brust regte und sie wütend und aggressiv machte. Ohne ein Wort zu verlieren drehte sie sich um und rannte die Treppe hoch in ihr Zimmer. Sihena stand immer noch unten am Treppenabsatz, mit unverändert hartem Gesicht. Ihre schmalen, purpurrot und exakt bemalten Lippen lagen wie ein waagerechter Strich unter ihrer kleinen Nase. Ihr rechter Mundwinkel zuckte zweimal, vielleicht verächtlich, womöglich aber auch zufrieden.

*

Sie fuhren in den Sportferien zum Skifahren nach Zermatt, buchten für eine Woche das Grace Chalet der Elysian Collection, das einen 7-Sterne-Service anbot. Alina ging morgens in die Skischule, während Jules und Alabima meistens mit der Bahn hoch zur Furi fuhren und sich erst dort für eines der Gebiete rund ums Matterhorn entschieden. Den Nachmittag verbrachten sie entweder mit ihren Davosern auf einer der Schlittenbahnen oder sie packten ihre Schlittschuhe aus und gingen zur Kunsteisbahn, versuchten sich dort auch einmal im Eisstockschießen. Es waren Familienferien, ohne Stress und ohne Termine.

Alabima hatte sich schon im ersten Jahr in der Schweiz auf Skiern versucht, fuhr längst besser als Jules, der sich eigentlich nie für diesen Sport begeistern konnte, auch wenn er die Bergwelt liebte. Doch dem stupiden auf den Hügel hochfahren lassen und danach die Hänge hinunter wedeln, nur um wieder in die Schlange der Wiederholer einzutreten und sich erneut zur Bergstation führen zu lassen, hatte er selbst als Jugendlicher wenig abringen können. Zu viel Prestige, zu viel Show, zu viel Oberflächlichkeit und vor allem viel zu viel Gedränge, Geschubse und Anstehen, ob am Sessellift, der Kabinenbahn oder in der Skihütte fürs Mittagessen. Doch Alina fand viel Spaß am Schneesport und so fügte sich der Schweizer einmal im Jahr den Mehrheitsverhältnissen in seiner Familie, zumindest für eine kurze Woche.

Für den Mittwochabend hatten sie sich über den Chalet-Butler einen Tisch in einem der derzeit angesagten, völlig überteuerten Gaststätten reservieren lassen, waren gegen halb acht eingetroffen, wurden von einem hochnäsigen Idioten am Eingang für drei Minuten stehen gelassen, weil der sich erst erkundigen wollte, ob ihr Tisch auch wirklich bereit für sie stand. Alabima sah Jules an, wie der sich innerlich von Sekunde zu Sekunde weiter auflud und wohl in Kürze die nötige Spannung für eine kräftige Entladung erreichen würde.

»Calm down«, flüsterte sie ihm zu, »take it easy.«

Auch Alina schaute ihrem Vater von unten herauf forschend ins Gesicht, erkannte die pulsierende Ader an seiner linken Schläfe und den verbiesterten Mund, auch wie seine Lippen zuckten und so anzeigten, wie es in ihm arbeitete.

»Kommt wir gehen«, meinte Jules nach zwei Minuten, wurde von der beschwichtigenden Hand seiner Gattin noch einmal zurückgehalten, hielt auch wirklich inne, blieb jedoch unschlüssig. Doch dann begann sein Kopf nervös herum zu ruckeln, so als könnte dies irgendeinen internen Prozess in diesem Restaurant beschleunigen.

»Was stört es uns, wenn wir noch einen Moment lang auf unseren Tisch warten müssen? Wir sind eh früh dran«, tröstete Alabima.

»Nicht mal eine anständige Bar haben sie in diesem Schuppen«, beklagte sich Jules und war froh, wenigstens ein kleines Ventil gefunden zu haben.

»Ich muss aufs Klo«, meldete sich nun Alina bei ihrer Mutter.

»Noch nicht, Liebes. Warte damit, bis wir am Tisch sitzen.«

»Falls das heute noch was wird«, kam der bissige Kommentar ihres Gatten.

Endlich kehrte der Zerberus der Tischreservationen zurück, lächelte einschmeichelnd schmierig. In seinem Schlepptau war ein Kellner, der sie wohl führen sollte.

»Alles in bester Ordnung«, vermeldete der Tischanweiser gesalbt, als hätte er einen Segen zu vergeben, »Jean-Luc wird Sie zu Ihrem Tisch begleiten.«

»Steht der in Täsch?«, fragte Jules anzüglich und angriffslustig zurück.

Der Empfangschef des Restaurants blickte ihn irritiert an.

»Na, weil sie so lange brauchten, bis zu unserem Tisch hin und wieder zurück?«, half ihm Jules auf die Sprünge und der Mann verzog ärgerlich seinen Mund, sah danach betont am Schweizer vorbei und beachtete ihn nicht weiter.

Alabima ging mit dem Kellner und mit Alina an ihrer Hand, Jules zockelte den beiden hinterher, war stinksauer und erntete entsprechend verwunderte Blicke von den anderen Gästen, die bereits vereinzelt im Lokal saßen. Der Ansturm würde wohl erst in einer halben Stunde einsetzen.

Ihr Tisch stand neben dem großen Kamin, in dem ein Meter lange Holzscheite brannten. Alabima nickte und lächelte dankbar, als ihr der Kellner den Stuhl zurechtrückte, während Alina den ihren selbstständig erklomm. Jules dagegen blickte betont skeptisch ins Feuer und in die heiße Glut, setzte sich zögernd.

»Meine Frau stammt aus dem Hochland Äthiopiens«, wandte er sich an den Kellner, der bislang die Speisekarten unter seinem rechten Arm eingeklemmt hatte und sie nun verteilte.

»Wie bitte?«

»Na, im Winter wird’s dort auch gegen Null Grad kalt. Ist also gar nicht nötig, uns Sitzplätze in ihrer Sauna anzubieten.«

Alabima verdrehte ihre Augen, Alina lachte fröhlich, auch wenn sie den Witz nicht so ganz verstanden hatte, sondern nur aufgrund der Betonung ihres Vaters erkannte, dass es sich um eine Art von Scherz handeln musste, während der Kellner zwar nur kurz, aber verdutzt den Kamin musterte.

»Wenn es Ihnen zu warm ist, dann kann ich schauen, ob ich einen anderen Tisch für Sie finden kann?«

Jules sah den Mann zynisch an.

»Nicht nötig. Wir können uns bei Bedarf ausziehen.«

Der Mann nickte, nicht zustimmend, sondern quittierend. Dann verließ er ihren Tisch für den Moment, hatte glatt weg vergessen, nach einem gewünschten Aperitif zu fragen.

»Einundzwanzig, zweiundzwanzig, ...«, begann Jules zu zählen und Alabima schaute ihn kopfschüttelnd an.

»Du bist heute Abend wieder einmal unmöglich«, zischte sie ihm zu, »was kann der arme Mann dafür, dass du schlechte Laune hast? Warum?«

Jules wusste es selbst nicht recht, zuckte deshalb mit den Schultern.

»Vielleicht Langeweile?«, mutmaßte er.

Dem Kellner war mittlerweile sein Versäumnis eingefallen und er kehrte zu ihrem Tisch zurück.

»Wünschen Sie einen Aperitif? Vielleicht ein Glas Champagner? Wir haben heute Roederer Cristal 2002 im Angebot.«

Der Mann stammte aus Frankreich und war in seinem Beruf recht gut ausgebildet, wie Alabima fand. Doch für Jules spielte dies keine Rolle. Der Schweizer befand sich weiterhin auf Konfrontationskurs.

»Wir sind keine Schnäppchenjäger«, stellte er klar, »haben Sie auch La Grand Dame von Veuve Clicquot?«

»Selbstverständlich.«

»Welche Jahrgänge?«

»Da müsste ich nachschauen.«

»Dann tun Sie das bitte.«

Der Mann war sichtlich genervt, entfernte sich zu einem der Anrichte-Tische und schaute in der Weinkarte nach.

»Einen 1996er«, vermeldete er nach seiner Rückkehr, »doch wir verkaufen ihn leider nicht offen, sondern nur als ganze Flasche.«

»1996 ist okay.«

Der Kellner nickte und entfernte sich, kam wenig später mit dem Sektkübel, der Flasche und zwei Champagnerschalen zurück.

»Haben Sie keine Kelchgläser?«, mäkelte Jules wieder an ihm herum, während der Mann die Folie und den Draht vom Zapfen löste und sie öffnete.

»Sehr wohl«, gab dieser trocken und unterkühlt zurück, schnappte sich die beiden Gläser und kam wenig später mit den gewünschten Kelchen zurück.

»Wir sind auch keine Russen«, stellte der Schweizer klar.

Der Mann sah ihn diesmal kurz und kalt an, öffnete dann stumm die Flasche, füllte den Probierschluck in eines der Gläser, stellte es vor Jules hin. Der nahm es auf, prüfte die Farbe, schnüffelte den Duft und nickte.

»Wunderbar«, sagte er, ohne zu probieren. Der Kellner verstand und schenkte das zweite Glas korrekt voll, servierte es Alabima, füllte danach den Kelch von Jules auf dieselbe Höhe auf.

»Wo haben Sie gelernt?«, wollte Jules nun von ihm wissen. Der Mann versteifte sich und schien recht genervt.

»In der Villa Florentine in Lyon.«

»Das merkt man«, gab der Schweizer zweideutig zurück.

Der Mann stellte die Flasche wortlos in den Kübel mit dem Eis, platzierte ihn auf dem Anrichtetisch in ihrer Nähe.

»Am Ende spuckt er dir noch ins Essen«, meinte Alabima warnend und tadelnd zugleich, worauf Alina prustend auflachte.

»Papa muss Speichel essen, Papa muss Speichel essen«, zog sie ihren Vater auf.

Doch der blickte seine Tochter schelmisch an und meinte: »Sobald die Teller serviert werden, tausche ich meinen mit deinem aus, ätsch.«

»Nein«, rief sie laut und erzürnt aus und Alabima verdrehte ihre Augen über Jules unnötige und dumme Provokation der Kleinen.

»Ihr benehmt euch wie Bauerntrampel«, meinte die Äthiopierin und sah ihren Ehemann streng an.

»Wieso? Spucken die auch in ihr Essen?«, fragte Jules mit naiver Stimme zurück, worauf Alina wieder zu kichern begann und den kurzen Anflug von Ärger bereits wieder vergessen hatte.

Sie bestellten wenig später ihr Essen und Jules entschuldigte sich wortreich bei ihrem Kellner für sein Verhalten vorhin, sprach von schlechter Laune und einem miesen Tag, aber auch von der bewunderungswürdigen Engelsgeduld des Mannes und er lobte ihn für seine hohe Professionalität. Der Franzose akzeptierte und glaubte die Worte des Schweizers, wie ihnen seine anschwellende Brust verriet.

»Zufrieden?«, fragte er Alabima schelmisch, nachdem sich der Kellner entfernt hatte.

»Du bist ein Idiot«, gab sie zurück, doch nicht mehr böse, sondern wie zu einem Kind.

»Papa ist ein …«, begann Alina fröhlich zu singen, wurde jedoch von ihren Eltern mit einem laut gezischten »Pssst« vor dem letzten Wort noch gestoppt. Sie grinste sie jedoch an wie ein Honigkuchenpferd und war mit sich zufrieden.

Den Rest des Essens verbrachten sie in gemütlichen Gesprächen und überraschend gutem Essen. Jules ließ der Küche über ihren Kellner recht detaillierte Komplimente ausrichten. Er lobte die Idee, die gegrillten und nur leicht mit weißem Pfeffer und einem Hauch Knoblauch gewürzten Jakobsmuscheln in einem Schaum aus Thymian und fruchtigem Aprikosen-Gelee, zusammen mit einem Klecks Püree aus Kichererbsen, zu servieren. Oder er sprach über die perfekte Konsistenz der Entenbrustpastete, deren Fleischstückchen auf der Zunge geradezu zergingen, während das mit Kräutern gewürzte Kalbsbrät die Komposition geschmacklich perfekt abrundete.

Alabima war versöhnt, Alina vor allem mit dem Dessert sehr zufrieden und Jules entsetzt, als er die Flasche Grand Dame von 1996 später auf der Rechnung mit einem Betrag von fünfhundert achtzig Schweizer Franken wiederfand.

*

An der langen Tafel im Speisesaal saßen nur Shamee und ihre Eltern, wurden von Carlos unter der Anleitung von Aílton bedient. Zenweih saß wie immer an der Stirnseite des Tisches, seine Frau zu seiner Rechten, Shamee gezwungenermaßen ihr gegenüber. Die Suppe war in kleinen Porzellanschüsseln mit blauer Verzierung aufgetragen worden und alle drei hielten den Porzellan-Löffel in der Hand und die Schüssel nahe an den Lippen, schöpften und schlürften das zarte Hühnerfleisch, die Nudeln und die Flüssigkeit lautstark ein.

Carlos hatte sich längst noch nicht an die chinesischen Tischsitten gewöhnt, verzog angewidert sein Gesicht zu einer Grimasse, jedoch so, dass sie nur von Aílton gesehen werden konnte. Der behielt seine steinerne Miene bei, doch seine Augen funkelten zornig. Als Bediensteter hatte man sich seiner Herrschaft anzupassen und offene Kritik war nicht erlaubt, weder negative noch positive.

»Du bist heute so schweigsam?«, wurde Shamee zwischendurch von ihrem Vater getadelt, »ist was in der Schule gewesen?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf und gab mundfaul ein »Nein, ist nichts«, von sich, bevor sie die letzte Nudel durch ihre geschürzten Lippen einsog, kurz kaute und schluckte, dann die Schüssel an ihren Mund führte und den letzten Rest der Suppe in ihn hineingoss. Sie stellte das Porzellan auf den Unterteller, nahm die Serviette auf und tupfte sich die Lippen ab, sah dann in das kühl-distanzierte Gesicht ihrer Mutter, aus dem sie den Tadel deutlich herauslas. Das Kinn von Shamee ruckte hoch wie eine Kampfansage. Sihena wandte ihren starren Blick von ihrer Tochter ab und widmete sich wieder ganz ihrer Schüssel, in der sie noch einen Brocken Hühnerfleisch mit dem Löffel aus den Nudeln herausschälte und ihn geziert zum Mund führte, wo er diesmal geräuschlos verschwand. Dann legte auch sie ihren Löffel ab und lehnte sich leicht zurück, wandte sich ihrem Gatten zu.

»Wir haben heute endlich die neuen Rosenstöcke geliefert bekommen. Morgen früh wird der Gärtner kommen und sie einsetzen. Ich denke, Carlos kann ihm helfen, oder?«

Zenweih nickte mit offenem Mund kauend und meinte nach dem Schlucken: »Ja, etwas körperliche Arbeit tut dem Jungen bestimmt gut.«

Das war auch so etwas, das Carlos völlig gegen den Strich ging, diese Unterhaltung über eine anwesende Person, ohne sie in das Gespräch mit einzubeziehen. Er sog deshalb scharf die Luft durch seine Nase ein, was mit Sicherheit von allen drei Lings gehört wurde, was ihnen jedoch keinerlei Reaktion entlockte. Sie taten, als wäre er Luft. Nur Aílton runzelte seine Stirn und sah den Hausdiener drohend an.

Ansonsten war er mit Carlos recht zufrieden. Der Junge gab sich echte Mühe, stellte sich bei den meisten Arbeiten auch äußerst geschickt an, hatte sogar die Dichtung an der Armatur in der Küchenspüle rasch und problemlos ausgetauscht, war sich gestern auch nicht zu schade gewesen, mit Hilfe der langen Leiter die Dachrinnen rund ums Haus von den Blättern zu säubern. Ja, der Junge war wirklich tüchtig. Wenn er doch nur nicht so furchtbar Stolz gewesen wäre. Denn Stolz, der brachte niemandem etwas ein, höchstens Scherereien. Man musste über den Dingen stehen, über der Verachtung durch seinen Dienstherrn, über all den kleinen und größeren Sticheleien. Sie lebten nun einmal in einer Welt von Wohlhabenden, waren deren Angestellte. Eine Vermischung mit ihnen war unmöglich und vor allem unnötig. Denn für Aílton gab es kein Oben und Unten, sondern nur Aufgaben. Selbst die für brasilianische Verhältnisse äußerst reichen Lings arbeiteten immer noch hart für ihr Geld, zumindest der Hausherr Zenweih, der jeden Morgen um vier Uhr früh aufstand und bereits um fünf das Haus in Richtung Großer Markt verließ, um den Einkauf seiner verschiedenen Restaurants zu begleiten und zu überwachen. Und um acht Uhr saß er in der Regel in seinem Büro in der Innenstadt, plante und entschied, telefonierte und empfing Besucher. Aílton hatte ihn ein paarmal begleiten müssen, für gewisse Botengänge oder auch für einen kleinen Empfang, den er für Geschäftsfreunde gab. Er bewunderte seinen Dienstherrn für dessen große Disziplin, für den Geschäftssinn, für die Hartnäckigkeit und das Organisationstalent. Und er eiferte ihm möglichst nach, gab sich in der Küche unten oft strategisch, plante die Haushaltsführung umsichtig, regelte kleine Streitigkeit unter den Angestellten oder wies Lieferanten und Handwerker zielstrebig an, übte alle notwendigen Kontrollen persönlich aus.

Herr und Diener, Zenweih Ling und Aílton Santoro, der Major Domus empfand sie beide als ein perfekt aufeinander abgestimmtes Gespann, ein Dreamteam, eine Máquina, die reibungslos lief und perfekte Resultate ablieferte.

»Willst du nicht endlich abtragen lassen, Aílton?«

Die Stimme seines Herrn war leise, doch er fühlte sie wie Prügel.

»Ja, selbstverständlich, bitte entschuldigen Sie, Senhor Ling.«

Er nickte Carlos zu und wies mit dem Arm zum Tisch und der junge Mann setzte sich in Bewegung, sammelte das Porzellan ein, stapelte es geschickt auf seinem linken Unterarm und dem Handballen, verließ den Speisesaal durch die Türe in Richtung Küche, würde in weniger als einer Minute wohl mit dem Hauptgang anrücken.

Immer noch wurde an der Tafel kaum gesprochen, denn alle drei Lings schienen in Gedanken versunken. Nur das Ticken der großen, französischen Kaminuhr aus dem Rokoko begleitete das Schweigen, schien immer lauter zu dröhnen.

*

Die Adoptionsfrage war erst einmal vom Tisch. Denn Sheliza weigerte sich, den Tod ihrer Eltern ohne amtliche Bestätigung zu akzeptieren und zu bezeugen. So hatte denn Henry und Holly das Innenministerium von Syrien und den syrischen Botschafter in London angefragt, ohne Antworten von einer der beiden Amtsstellen zu erhalten, hatten sich einen Anwalt in Damaskus besorgt, der vor Ort Abklärungen treffen sollte, hatten für Sheliza bin-Elik auf Facebook und Twitter zwei Accounts eingerichtet und dort um Hinweise zu den Vorfällen in al-Busayrah und dem Verbleib der Familie bin-Elik gebeten.

Und es gab auch Menschen in den elektronischen Medien, die nahmen Anteil am Schicksal anderer, gaben bereitwillig ihr Wissen weiter oder taten zumindest ihre Meinung kund. Doch nur ein einziger berichtete direkt über al-Busayrah. Doch auch er war bereits vor Monaten dem Ort entflohen und lebte nun in Beirut im Libanon bei Verwandten. Der Mann sprach von einigen Dutzend Toten, die meisten davon Alawiten, nur wenige Christen und Schiiten. Die Massaker hätten vor allem den wohlhabenden Familien und Clans gegolten, waren also eher als Raubüberfälle zu werten und weit weniger als eigentliche Bürgerkriegsgräuel. Ob allerdings jemand aus der Familie bin-Elik überlebt hatte, das wusste er nicht zu sagen, denn er hatte am anderen Ende der Kleinstadt gelebt und vieles nur während der Flucht von anderen Geflohenen erfahren.

Der Anwalt bestätigte nach mehreren Wochen Tätigkeit bloß, dass keine offiziellen Informationen über das Geschehen in al-Busayrah zu erhalten waren, ja, dass nicht einmal Human Rights Watch bislang von einem Massaker in dieser Ortschaft sprach. Die Behörden der Provinzstadt wären jedoch auch allesamt längst geflohen oder getötet oder anderweitig verschwunden und nicht mehr erreichbar. Wer in al-Busayrah die Macht ausübte, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen. Wahrscheinlich die al-Nusra-Front, unter Umständen jedoch auch die ISIS.

Das anschwellende Bäuchlein von Sheliza war immer noch kaum zu erkennen. Sie trug auch zunehmend Kleider mit dickerem Stoff oder gleich zwei Abayas übereinander, um ihre Schwangerschaft so vor den anderen Schülerinnen ihrer Klasse zu verbergen. Mehr als ein Drittel der Jugendlichen waren dort Muslime, doch Sheliza fand trotzdem kaum Anschluss oder sie wollte gar keinen, schämte sich bestimmt, sich als schwangere Vierzehnjährige zu erkennen zu geben.

Henry und Holly vereinbarten mit ihr, vorerst alle Anstrengungen für eine Adoption auf Eis zu legen und erst einmal die Geburt ihres Kindes abzuwarten. Sheliza schien sehr froh darüber, sagte es ihnen jedenfalls so: »Wisst ihr, es wäre schrecklich für mich, wenn ich mich von meinem Vater und meiner Mutter lossagen müsste, nur um ein paar Monate später zu erfahren, dass ich gar keine Waise bin. Das will und kann ich meinem Kind nicht antun.«

Ob der Teenager dabei auch an die christliche Herkunft ihrer Pflegeeltern dachte oder doch nur an ihre wahrscheinlich toten Eltern?

*

Jules war neben ihr eingeschlafen, schnarchte leise und wohlig. Er hatte sein Bestes gegeben, hatte sie geliebt wie ein junger Gott, hatte es zumindest redlich versucht. Alabima war zum Höhepunkt gekommen. Allerdings weniger aufgrund der Bemühungen von Jules, sondern mit ein wenig eigener Unterstützung. Denn während er ihre Scham leckte und ihre Klitoris zwischen seine Lippen einsog und sie weich massierte, dann wieder ihre äußeren Schamlippen mit der Zungenspitze umspielte und mit seiner Zunge auch immer wieder in sie eindrang, da dachte Alabima an einen anderen Mann, einen, den sie nicht kannte, der in ihren Gedanken auch gar kein Gesicht besaß, sondern nur einen Körper. Er war stark beharrt, fast wie ein Affe. Und sein Schwengel war lang und dick wie eine Keule. Sie hatte ihre Augen geschlossen gehalten und mit ihren Händen ihre Brüste massiert und gestreichelt, stellte sich vor, wie der Behaarte zwischen ihren Schenkeln lag und sie einfach nahm, animalisch wild, wie ein Tier das andere. Rasch war sie zum Höhepunkt gesegelt, wohl zu rasch, wie ihr später der leicht irritierte Blick von Jules verriet.

»Es ist halt schon eine Weile her«, versuchte sie eine Erklärung und Entschuldigung zugleich. Jules hatte sie angelächelt und genickt, hatte sich neben sie gelegt und noch ein wenig gestreichelt, war darüber wenig später eingeschlafen.

Auch sie hatte ihm zuvor einen Blowjob verpasst, hatte ihn in kürzester Zeit zum Erguss getrieben und es schien ihm ganz Recht gewesen zu sein. Überhaupt fand kaum mehr richtiger Beischlaf zwischen ihnen beiden statt. Der letzte Koitus, das Eindringen und Stoßen mit dem Glied, die wirkliche Besitznahme ihres Körpers, lag schon lange zurück, mehrere Monate. Seitdem bekam sie nur noch Fast Food vorgesetzt, mit den Fingern oder der Zunge, mehr ein Abreagieren als wirklicher Genuss. Was war mit Jules bloß los? Lag es immer noch an ihrem früheren Verhältnis mit dem Studenten Jean-Robert? War es weiterhin die Eifersucht, die Jules den Geschlechtsverkehr mit ihr vermieste? Was konnte sonst der Grund für seine Zurückhaltung sein? Er liebte sie immer noch. Das sagte er nicht nur regelmäßig, er ließ es sie auch andauernd spüren. Und trotzdem lag ihm kaum mehr etwas an der intimsten Ausdrucksweise ihrer Zusammengehörigkeit. Sollte sie sich mit seiner Psychologin Dr. Grey in Verbindung setzten? Jules ging immer noch zu ihr hin, nicht jede Woche, aber doch zweimal pro Monat. Womöglich konnte ihr Dr. Grey einen Tipp geben? Oder irgendwie auf Jules einwirken?

Ihr Ehemann bewegte sich unruhig neben ihr, drehte sich auf den Bauch, wachte nicht auf.

Sie zog das verrutschte Laken über seine Schultern hoch, betrachtete sein Gesicht von der Seite her, das sich in der Dunkelheit des Zimmers wenig vom hellen Bettzeug abhob.

Der Schweizer atmete schwer, weil seine Nase tief im Kissen vergraben lag. Er grunzte unwillig, drehte den Kopf auf die Seite, blickte nun Alabima direkt, aber mit geschlossenen Augen an, murmelte etwas Unverständliches.

Armer Liebling, dachte die Äthiopierin, was dich in dieser Nacht wohl wieder plagen mochte?

Sie rückte ein wenig von ihm ab, legte sich auf die Seite, versuchte einzuschlafen. Doch Morpheus verweigerte ihr die Bewusstseinslosigkeit noch immer, quälte sie mit weiteren Gedanken.

Mittlerweile war sie sich klar geworden. Die Schweiz, in der sie seit mehr als sechs Jahren lebte, würde ihr wohl nie zur zweiten Heimat werden. Lange Zeit hatte sie dies jedoch gedacht, es beinahe gefühlt, das Wohlbefinden, die Akzeptanz, die Ehre. Doch dann hatte ihr Jules das Vertrauen entzogen und damit den so sicher geglaubten Boden unter ihren Füssen. Verwandte besaß die Äthiopierin keine in der Schweiz, nur wenige Freunde, kaum Bekannte.

Was hielt sie noch in diesem Land?, fragte sie sich immer noch wach liegend und einmal mehr. Die Schulen waren gut, für Alina und deren Zukunft. In Äthiopien hätte sie weit weniger Chancen auf eine adäquate Ausbildung, müsste später auch weit stärker für einen Studienplatz kämpfen. Doch konnte sich ihre Tochter irgendwann tatsächlich heimisch in der Schweiz fühlen, wenn sich ihre Mutter im Land immer fremder und ausgeschlossener vorkam?

Eine Rückkehr nach Äthiopien war jedoch keine Alternative. Das wusste Alabima. Und doch konnte dieser Schritt eines Tages notwendig werden.

Durfte sie egoistisch an sich und ihr Wohlbefinden denken? Musste sie nicht Rücksicht auf Alina und auch auf Jules nehmen?

Nein, auf Jules nicht, entschied sie sogleich und nicht zum ersten Mal, denn er nahm auch kaum Rücksicht auf sie. Er war doch der Grund, warum sie hier in der Schweiz so isoliert lebten und kaum Freundschaften pflegten.

Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie wollte die perfekte Mutter für ihr Kind sein, auch eine gute Ehefrau. Das verlangten Familiensinn und Moral von ihr. Und doch genügte dies nicht. Nicht für ein ganzes Leben.

Warum wollte sich bei ihr in dieser Nacht der Schlaf nicht einstellen? Warum wurde sie von ihren Gedanken gequält? Sie führten zu nichts, zu keiner Lösung. Oder doch?

Sie drehte sich erneut zu Jules um, rückte auch wieder etwas näher, lag mit ihrem Gesicht nur noch Zentimeter von dem seinen entfernt, spürte den Luftzug seines Atems auf ihrer Brust.

Konnte sie Jules verlassen? Musste sie Jules verlassen?

Ihre Gesichtszüge entspannten sich, zeigten ein etwas verlorenes, mitleidiges Lächeln.

Mein Liebling …, dachte sich Alabima, … mein Liebling.

*

Es war eine dunkle, enge Quergasse, die von der Rua Joaquim de Queiroz abzweigte. Schon nach wenigen Metern begann die Treppe, die einen immer höher den Hang hinaufführte und an der Haltestelle der Seilbahnstation Alemão endete. Nur wenige Bewohner dieser Favela benutzten jedoch diesen Weg, denn links und rechts gingen immer wieder Türen von ihm ab, die zu kleinen und schmutzigen Zimmern führten. Davor standen oder saßen die Frauen und boten ihre Dienste an, manchmal zurückhaltend, wenn die Geschäfte an diesem Tag bereits gut gelaufen waren, meistens jedoch aufdringlich oder gar aggressiv. Viele von ihnen besaßen Kinder, zwei oder drei, von zwei oder drei verschiedenen Männern, Irrtümer eines nicht allzu langen Lebens, das sie Stufe um Stufe tiefer geführt hatte, bis es kaum mehr weiter hinuntergehen konnte.

Carlos benutzte stets diese Treppe, denn sie brachte ihn nicht nur von der Busstation auf kürzestem Weg zur Quergasse hoch, in der er mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern in einer Drei-Zimmer-Wohnung von wenig mehr als vierzig Quadratmetern lebte, sondern führte auch an der Tür von Manuela Hernandoz vorbei, seiner derzeitigen Favoritin auf dem Markt der käuflichen Liebe des Quartiers. Denn seit er bei den Lings arbeitete, hatte er stets ein paar Reais übrig, für eine entspannende Handmassage oder einen Blowjob. Manuela mochte ihn sogar. Das sagte sie ihm nicht nur jedes Mal, wenn er bei ihr war. Sie strömte es auch aus, mit jeder Faser ihres noch jungen und schlanken Körpers. Ihr Gesicht war etwas breit geraten, ebenso ihre Nase, aufgrund ihrer indianischen Wurzeln. Doch ihre Wangenknochen saßen hoch und ihr Mund besaß diese kirschroten und breiten Lippen, die Wollust und Sinnlichkeit verrieten. Eine Viertelstunde ohne Geschlechtsverkehr kosteten bei ihr 30 Real. Das war doppelt so viel wie bei der Konkurrenz in unmittelbarer Nachbarschaft. Doch Manuela war dieses Geld wert. Man musste sie sich nur leisten können.

Carlos verdiente sich nebenbei einiges an Geld und er war keinem Geschäft abgeneigt. So hörte er beispielsweise stets sehr genau hin, wenn sich Senhor Ling während des Essens über die Politik oder die Wirtschaftslage oder die Restaurant-Kette ausließ. Vieles verstand er zwar nicht oder nicht richtig. Doch sein Kopf funktionierte gut, konnte die Worte des Hausherrn beinahe wörtlich abspeichern. Und Pedro Alavalon bezahlte ihn für jede solche Information aus dem Hause Ling. Ihn hatte er vor ein paar Wochen in einer der Bars getroffen und sie waren seitdem befreundet. Fünfzig bis hundert Real waren Pedro die Neuigkeiten aus der Familie Ling jeweils wert. Wozu Pedro sie benutzte, wusste Carlos nicht, interessierte ihn auch nicht. Auch empfand er seine Auskünfte nicht als einen Treuebruch gegenüber seinem Arbeitgeber. Denn schauten nicht auch die Lings auf jeden Real, den sie irgendwie und irgendwo einsparen und so verdienen konnten? Ihre Tischgespräche bewiesen es ihm.

Und so steuerte Carlos auch an diesem Abend die Türe von Manuela Hernandoz in freudiger Erwartung an, spürte bereits die Erregung in seiner Hose, wenn er an ihre schlanken Finger mit den purpurnen Nägeln dachte und wie sie sich sanft in die Haut seines Stängels bohrten, während ihre Lippen und ihre Zunge ihn verwöhnten. Oder sollte er sie diesmal aufsitzen und reiten lassen? Vierzig kostete das zusätzlich, ohne Kondom sechzig. Carlos fuhr sich bei diesem Gedanken nervös geworden mit der Zungenspitze über die Oberlippe. Aber nicht etwa, weil Manuela mit Aids infiziert war und dies auch jedem neuen Freier offen erzählte. An die Krankheit hatten sich längst alle Kunden des Treppenbordells in der Favela gewöhnt und kamen mit ihr zurecht. Nein, es war der Reiz des Spiels, das Risiko, die nicht nur latente Gefahr, die ihn ganz besonders erregten. Ein Spiel um Leben und Tod und dies während des Liebesaktes, der ihm die Sinne raubte und ihn die Unbarmherzigkeit der Welt für ein paar Minuten vergessen ließ. Ja, mit Manuela würde er es jederzeit ohne Kondom wagen. Denn die heiße Schnecke war das ganz einfach wert. Denn was wusste man schon von seiner Zufallsbekanntschaft aus einer der Bars mit der man im Bett landete? Die war bestimmt nicht so ehrlich, würde bloß ihren Spaß suchen und ihn ohne Bedenken dabei anstecken. Manuela dagegen gab sich Mühe, weder sich noch ihren Freier zu verletzten, so dass auch Aids keine Chance hatte. Ganz zärtlich würde sie vorgehen und mit Massageöl auch für ausreichend Feuchtigkeit sorgen.

Endlich stand er vor ihrer Tür, die geschlossen war. Er zögerte. Sollte er anklopfen? Hatte Manuela gerade einen Kunden auf ihrer schmalen Schlafstelle liegen, die das Wort Bett nicht verdiente? Oder war sie allein, saß drinnen im Halbdunkel, machte Pause?

Zaghaft klopfte er mit den Knöcheln an. Sie war grasgrün gestrichen, diese Türe, die ins Paradies führte. Doch dahinter regte sich nichts. Er klopfte erneut und stärker. War sie gar nicht da? Zögernd griff er nach dem Knopf und drehte ihn. Die Türe sprang auf und Licht fiel vom Treppenaufgang ins Zimmer hinein, strahlte direkt auf das blutig geschlagene Gesicht von Manuela, die mit weit aufgerissenen Augen tot auf ihrer Pritsche lag. Sie war splitternackt und ihr Körper übersät mit Stichwunden und Schnitten. Ein Wahnsinniger hatte hier gehaust. Oder ein Rächer.

Carlos spürte das Würgen in seiner Kehle, konnte es nicht länger unterdrücken, wandte sich rasch aus dem Zimmer und übergab sich draußen in eine der beiden Ecken des Treppenabsatzes. Dann kehrte er zurück, schaute genauer hin, erkannte die große Verzweiflung im Gesicht seiner Manuela, die Angst und den Schmerz. Er schluckte mühsam. Dann griff er wie in Trance nach dem Türknopf, zog das Blatt ins Schloss, dachte angestrengt nach, was nun zu tun war.

Er klemmte die Manschette seines rechten Hemdärmels mit den Fingern am Handballen fest und wischte mit dem Handgelenk über den Knopf, tilgte so seine Fingerabdrücke. Dann erst blickte er sich um, schaute die Treppe hinunter, spähte die Stufen hinauf. Er war allein und unbeobachtet, wohl wie der Mörder vor ihm. Wie lange mochte die Tat her sein? Carlos begriff, dass die Wunden noch ganz frisch ausgesehen hatten und das Blut noch nicht vollständig getrocknet war. Furcht kroch ihm in den Nacken und er wirbelte noch einmal herum, schaute angestrengt nach unten ins Halbdunkel der Treppe, hatte auf einmal das Gefühl, von gefährlichen Augen beobachtet zu werden. Er sprintete los, die Stufen weiter hoch, suchte rasch Abstand vor der Gefahr, die dort unten auf ihn lauern mochte.

Er kam an anderen Türen vorbei, die meisten von ihnen geschlossen, nur wenige besetzt. Alle Frauen kannten ihn vom Sehen her, wussten, wo er wohnte, sprachen ihn darum nicht oder nur fröhlich an, erwarteten nichts von ihm, kannten längst seine Vorliebe für die Dürre von weiter unten. Nur Rita rief ihm ein »Warum so eilig, Carlos?« nach, doch er hielt nicht an, erwiderte nichts, hetzte einfach immer weiter, bis er endlich oben an der Seilbahnstation stand und heftig schnaufend stehenblieb. Erst als sich sein Atem beruhigt hatte, ging er langsam weiter, versuchte die Bilder des Grauens aus seinem Kopf zu bekommen, dachte an seine Mutter und seine Geschwister. Denen musste er in wenigen Minuten gegenübertreten, durfte sich nicht verraten.

Er schlenderte zuerst auf das Haus mit ihrer Wohnung zu, entschied sich dann doch anders, ging am Eingang vorbei und schräg hinüber zum Laden von Henrique Reis, legte dort das für Manuela vorgesehene Geld in ein paar Flaschen Cola und einige Beutel Pommes Chips an. Seine jüngeren Geschwister würden sich riesig freuen, seine Mutter ihn für die Geldverschwendung tadeln, alle zusammen jedoch nichts an ihm bemerken und ihn schon gar nicht verdächtigen.

*

Aílton Santoro saß in der von Rauch geschwängerten Luft des Hinterzimmers in der schmuddeligen Bar an der Dionísio Rocha, trug eine Mütze mit grün-durchsichtigem Kunststoffschirm, die seine Augen vor dem grellweißen Licht der Neonröhre an der Decke schützte, zeigte ein siegesgewisses, breites Lächeln und deckte genüsslich seine beiden Könige auf, die zusammen mit dem dritten, der offen auf dem Pokertisch lag, einen Dreier ergaben. Neben diesem König lagen im Flop nur noch eine Zehn und eine Zwei, auf dem Turn die Sieben und auf dem River eine Acht.

Aílton griff blitzend lächelnd und mit beiden Händen über den Tisch, wollte die darauf liegenden Geldscheine zu sich hinüberziehen, wurde jedoch von der kühlen Stimme von Rupero Certane zurückgehalten.

»Nicht so schnell, Senhor Santoro, nicht so schnell.«

Danach drehte Certane seine erste Karte um, eine Sechs, lächelte sein Gegenüber spöttisch an, deckte die zweite auf, eine Neun. Die Augen von Aílton schienen aus seinem Kopf zu quellen und ohne dass es ihm bewusstwurde, gab er ein leises Ächzen von sich.

Die Straße von der sechs bis hoch zur zehn schlug seinen Dreier selbstverständlich. Doch wie konnte dieser verdammte Bastard mit bloß einer Neun und einer Sechs nach dem Flop mit König, Zehn und Zwei auf dem Tisch seine eigenes, angemessen hohes Gebot sogar noch steigern? Die Chancen standen doch gleich Null oder zumindest bei weniger als zwei Prozent, nachdem er selbst bereits drei Könige besaß? Und nach dem Turn stieg er immer noch nicht aus, auch nicht, als er um Pot Size erhöht hatte? Und das mit einer Chance von kaum mehr als zehn Prozent? Nein, dieser Certane erhöhte seine Bet sogar noch, zwang ihn so zum All-in. Hatte er ihn nur aus dem Blatt bluffen wollen und dabei das Glück eines Idioten erfahren? Oder war nicht eher Betrug im Spiel gewesen? Wusste Certane, dass als letzte Karte auf dem River die Acht kommen musste?

Aílton schaute sich betroffen um, sah in ein paar unbeteiligte, in viele schadenfrohe, aber auch in zwei verächtlich blickende Gesichter. Und auf einmal wurde ihm klar, dass man ihn über den Tisch gezogen hatte, ihn in eine geschickt gestellte Falle rennen ließ. Alles hatte er zuletzt auf sein sicheres Blatt setzen müssen, nachdem dieser verdammte Rupero Certane nach dem Turn noch einmal erhöht hatte.

Aílton erschauderte, denn er dachte erst in diesem Augenblick an seine Schulden, an die mehr als zweihunderttausend Real, die er Martinez schuldig war, einem Geldverleiher in seiner Nachbarschaft. Zweihunderttausend, hämmerte es in seinem Kopf, zweihunderttausend. Der Major Domus der Lings leckte sich nervös über seine Unterlippe, denn dort auf dem Tisch vor ihm lagen mehr als einhundert tausend. Sie wären seine Rettung gewesen, ja, Rettung und auch Neubeginn. Sie hätten ihm zumindest Luft verschafft, ein paar zusätzliche Wochen an Zeit, in denen er mit etwas Glück…?

Während Rupero Certane das Geld zu sich hin schaufelte und zu sortieren begann, sanken die Schultern von Aílton Santoro immer mehr ein.

Aus, Ende, Vorbei, dachte er und während sein Körper ernüchtert zu zittern begann, schaltete sich sein Gehirn aus, sendete keine bewussten Impulse mehr aus. Mit der Langsamkeit eines endgültig Geschlagenen zog er sich müde die Schirmmütze vom Kopf, ließ sie achtlos auf den Tisch fallen, fuhr sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn, stand wie benommen auf, wankte wie in Trance davon.

In der Bar vorne würde ihm einer der Kellner beim Anziehen seines Mantels behilflich sein und ihm auch seinen Hut reichen, sogar die Türe für ihn aufhalten. Doch danach würde er draußen stehen, in der Kühle der Nacht, mit dem gnadenlosen Himmel über sich, deren kalt-silberne Sterne ihn und sein Schicksal verhöhnten.

Dann stand er vor der Bar auf dem Gehsteig, legte seinen Kopf in den Nacken, blickte hinaus ins Weltall, fühlte die absolute Kälte dort oben, diese Minus 270 Grad Celsius, spürte sie beinahe körperlich und fühlte, wie sie Besitz von seinem Herzen nahm.

*

Marta Gonzales kam nach Hause, wurde von ihrem Mann erwartet.

»Gib mir Geld«, verlangte er trunken, beinahe grölend, starrte sie mit seinen wässrigen, entzündeten Augen grimmig an.

»Ich hab kein Geld, du Nichtsnutz«, gab die Köchin der Lings zurück und wandte sich ab, als wollte sie wieder gehen. Erstaunlich rasch stand ihr Mann jedoch vom Sofa auf und war mit wenigen, langen Schritten an ihr vorbei und an der Haustüre, blockierte sie mit seinem Rücken, sah sie zornig an.

»Ich brauch Geld. Gib mir welches«, forderte er erneut und streckte seine Hand aus. Marta seufzte ergeben, kramte aus ihrer Tasche den Briefumschlag mit dem Wochenlohn, wollte eine hundert Real Note herausfischen. Doch ihr Mann war schneller, schnappte sich mit einer raschen Bewegung den Umschlag, stopfte ihn in seine Hosentasche, wandte sich triumphierend grinsend der Wohnungstür zu.

»Du verdammtes Schwein«, schimpfte Marta und packte ihren Marinos an den Schultern, zog ihn von der Tür weg, »gib mir mein Geld zurück.«

Der stieß ihr die flache Hand vor die Brust und wandte sich ab, um zu gehen und als sie ihm nachsetzte und ihn am linken Arm festzuhalten versuchte, drehte er sich grollend um und schlug ihr eine gerade Rechte mitten ins Gesicht.

Marta taumelte zurück und fiel auf ihren Hintern, sah Rot wallende Wolken vor ihren Augen und verlor für einen Moment sogar das Bewusstsein. Ihr Mann glotzte sie einen Moment lang dumm an, wandte sich dann jedoch grollend von ihr ab und trat aus der Tür, zog sie hinter sich ins Schloss.

»Bin in ein paar Stunden zurück«, rief er noch trunken aus, bevor er in Richtung Treppenhaus davon wankte. Marta hörte es dumpf durch die geschlossene Wohnungstüre. Dann erhob sie sich ächzend, drehte sich erst auf die Knie und stand dann mit wackligen Beinen auf. Ihre Nase und die Oberlippe bluteten und sie weinte, aber nicht vor Schmerzen, sondern vor Unglück. Was hatte die Arbeitslosigkeit doch aus ihrem Marinos gemacht? Die Schmach, seine Familie nicht mehr ernähren zu können? Auf die Unterstützung seiner Ehefrau angewiesen zu sein? Alles hatte er versucht. Zumindest fast alles. Hatte sich im Schlachthof beworben, konnte jedoch den Blutgeruch nicht ertragen. Nahm die Anstellung bei der Müllabfuhr an, verlor sie wenig später wegen Unpünktlichkeit. Versuchte sich als Taxifahrer, doch die anderen duldeten keine zusätzliche Konkurrenz und verprügelten ihren Marinos zwei Mal. Schon früher hatte er sich ab und zu betrunken. Das taten Männer nun mal. Doch seit zwei Monaten ließ er sich vollends gehen, war kaum je nüchtern und dann unerträglich mürrisch, trank jeden Tag zwanzig Flaschen Bier, falls nichts Härteres zu finden war, wurde immer zügelloser und gewalttätiger.

Sich trennen? Eine Scheidung?

Das kam für Marta als gläubige Katholikin nicht in Frage. Niemals.

Ihr Gott hatte sie an diesen Ort gebracht und in diese Ehe geführt. Sie musste ausharren und das Beste daraus machen. So sah sie ihre Aufgabe in diesem Leben.

Sie ging hinüber ins Bad, sah sich kurz im Spiegel die stark gerötete Nase, die anschwoll und den kleinen Riss in der Oberlippe an, seufzte und drehte den Kaltwasserhahn auf, schob ihr Gesicht darunter und wusch sich das Blut weg. Dann tastete sie ihre schmerzende Nase ab. Wenigstens schien nichts gebrochen. Zum Glück. Dann versorgte sie die kleine Platzwunde an der Oberlippe, tupfte ein Antiseptikum darauf, das lindernd brannte, klebte ein Pflaster darüber.

Ihre Tränen hatten die Mascara verschmiert. Sie nahm einen Wattebausch, benetzte ihn mit Wasser, strich ein paar Mal über die Seife in der Schale und wischte sich die schwarzen Striemen aus dem Gesicht.

Wieder blickte sie in den Spiegel, betrachtete sich kritisch, blies sich eine vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn.

Ja, das war sie, Marta Gonzales, geborene Vinerva, zweiundvierzig Jahre alt, kinderlos, und wenig glücklich verheiratet.

Mit Wehmut erinnerte sie sich an die guten Tage, das Werben ihres Marinos um ihre Hand, wie fesch er damals doch aussah, mit fünfundzwanzig. Dann die Hochzeit, die drei Tage dauerte und an der insgesamt mehr als zweihundert Gäste teilnahmen, die kamen, ein paar Stunden blieben und wieder gingen. Selbst die ersten paar Jahren ihrer Ehe waren noch gut gewesen, zumindest so lange, bis feststand, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Der Zugang zu ihrer Gebärmutter war zu schmal und wie verklebt, hatte der Arzt nach dem Ultraschall gemeint. Sie hatte dabei jedoch nicht ihn, sondern ihren Marinos angeblickt und sie würde seinen Gesichtsausdruck wohl nie mehr vergessen. Denn er sah so hilflos und anklagend zugleich aus, nicht etwa böse auf sie, nein, sondern nur zornig auf ihr gemeinsames Schicksal. Sie hatten später nicht viel darüber geredet. Er wollte nicht. Oder konnte nicht. Und sie hatten sich mit der Zeit auch wiedergefunden, hatten das Beste aus der Situation gemacht. Bis, ja, bis er seine Anstellung bei der Feuerwehr verlor, weil er betrunken zum Dienst erschienen war. Warum er auf seinem Arbeitsweg in dieser Bar hängen geblieben war, wo er sich jeweils vor der langen Nachtschicht ein einziges Bier genehmigt hatte, auch das wollte er ihr nie erklären. Oder konnte nicht.

Gab es ein Entkommen für sie beide? Einen Ausweg? Aus der Trunkenheit und der Hoffnungslosigkeit? Geld müsste man besitzen, genügend Geld. Denn letztendlich ging es doch stets nur darum. Wer Geld besaß, kannte keine Sorgen, musste sich keine Sorgen machen, wenn er nicht wollte. Mit genügend Geld würde sich auch ihr Marinos wieder verändern, ruhiger werden, gefestigter, so wie früher.

Marta setzte sich auf das zerschlissene Sofa im kleinen Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein, erkannte, dass eine Spielshow lief, hörte und sah jedoch nicht zu, sondern dachte angestrengt darüber nach, wie sie zu Geld kommen konnte.

*

Naara blickte ihren Freund Antonio verliebt an, hatte nur Augen für ihn, was angesichts des Angebots an attraktiven Männern erstaunlich war. Sie hatten ihre Badetücher an der Copacabana auf dem Sandstrand ausgebreitet, lagen nebeneinander, sahen sich verträumt lächelnd an, genossen diesen gemeinsamen Nachmittag, dachten weder an die Zukunft noch an das Gestern, freuten sich für ihr Hier und Heute.

Antonio hatte sich auf seine Ellbogen aufgestützt, blickte umher, verglich die Körper anderer Männer mit seinem, taxierte stumm die Hintern vorbeigehender Mädchen. Er war schon recht attraktiv, dieser Antonio, zwar nur etwas über mittelgroß, dafür aber prächtig proportioniert, mit dem athletischen Oberkörper und den schmalen Hüften eines ausdauernden Schwimmers, mit dem blitzenden Lächeln eines Charmeurs, mit den warmen Augen eines Verführers.

Doch auch Naara konnte sich sehen lassen. Nun, da sie nicht mehr ihre altertümliche Uniform trug, sondern einen knappen Bikini, konnte man ihren flachen Bauch, ihre festen, wenn auch recht kleinen Brüste und ihren ausladenden und doch strammen Hintern bewundern. Ihre Oberschenkel waren nicht schlank, passten besser zu ihrem Gesäß als zu ihrem schmalen Oberkörper. Und trotzdem spürte bei ihrem Anblick jeder echte Mann in seinen Lenden ein beinahe schmerzhaftes Ziehen, wenn sie sich vorstellten, wie fordernd und ausdauernd das Becken dieser jungen Frau im Liebesspiel sein musste, wie aufregend befriedigend und befreiend. Und so erntete nicht nur Antonio manchen lüsternen Blick, auch Naara durfte sich darin sonnen, vor allem, nachdem auch sie sich auf den Bauch gedreht hatte und der Welt ihr prächtig geformtes Hinterteil präsentierte.

»Das ist eine einmalige Chance für mich«, meinte Antonio zum wiederholten Male, erneut eindringlich und fordernd, korrigierte sich diesmal jedoch und fügte hinzu, »für uns.«

»Ich weiß«, bestätigte ihm Naara, obwohl sie alles andere als sicher war, »doch woher sollen wir so viel Geld nehmen?«

Antonio zog ein ärgerliches Gesicht. Er verdiente seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsjobs, hatte nach seiner Schulzeit noch keine feste Anstellung finden können, aber auch nie wirklich gesucht. Und Naara bekam von den Lings zwar genügend Lohn für ihre winzige Ein-Zimmer-Wohnung in einer der Favelas, doch für viel mehr reichte es nicht. So hatten weder sie noch er in den vergangenen zwei Jahren, in denen sie beisammen waren, Geld auf die Seite legen können.

»Nur achtzigtausend Real«, jammerte Antonio zum wiederholten Male, »es fehlen mir nur achtzigtausend. Dann bekäme ich meine Chance, verstehst du? Die Chance in meinem Leben«, und wiederum korrigierte er sich, »unsere Chance im Leben.«

Selbstverständlich verstand Naara ihren Freund, denn Antonio hatte es ihr oft genug erklärt.

Für die Autowerkstatt, in der er ab und zu aushalf, suchte der Besitzer einen Nachfolger. Die Geräte und auch die Hebebühne waren zwar uralt. Doch sie funktionierten immer noch recht gut und ernährten ihren Mann. Sogar seine Buchhaltung hatte er Antonio offengelegt. Jedes Jahr lag der Umsatz bei mindestens dreihunderttausend bei kaum mehr als hundertfünfzig tausend an Kosten für Miete, Ersatzteile und Schmiermittel. Wie herrlich musste ein Leben doch sein, wenn monatlich zehntausend Real übrigblieben?

Dass sein Chef in einer Baracke mehr hauste als wohnte, dass er selbst kein Auto fuhr, dass er auch beim Bezahlen des ausstehenden Lohnes sich oft mehr als genug Zeit ließ, all das beachtete Antonio nicht, hatte nur den möglichen Verdienst vor Augen, zählte bereits die Geldscheine, die er am Ende von jedem Monat einstecken konnte.

»Ich wüsste schon, wie du das Geld verdienen könntest?«, mutmaßte er ein weiteres Mal.

»Kommt nicht in Frage«, antwortete ihm Naara, nicht erzürnt, nicht einmal ärgerlich, denn die Frage der Prostitution hatten sie schon ein paar Mal durchgekaut, zuerst wütend, danach zynisch, nun nur noch gelangweilt, »so hübsch bin ich nun auch wieder nicht, dass die Männer mehr als die üblichen hundert bezahlen würden«, ergänzte sie deshalb seelenruhig. Und Antonio nickte versonnen neben ihr, blickte hoch zum blauen Himmel, ließ sich von der Sonne blenden, hielt die Augenlider geschlossen, genoss die Wärme für einen stillen Moment.

»Vielleicht könnten dir die Lings…?«, begann er erneut und nicht zum ersten Mal. Diesmal setzte sich Naara mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck auf und blickte auf Antonios Hinterkopf mit dem wuscheligen Haar.

»Du weißt ganz genau, dass ich bei denen keine fünfzigtausend im Jahr verdiene. Warum sollten Sie mir fast zwei Jahreslöhne als Darlehen geben?«

»Aber die sind doch immens reich? Was machen denen schon achtzigtausend Real aus? Jedes ihrer Fahrzeuge kostet doch das Doppelte und Dreifache?«

Naara zog schaudernd ihre Schultern ein, stellte sich vor, wie sie vor Zenweih Ling stand und ihn um ein Darlehen für ihren Freund bat, verzog dann ihr Gesicht zu einer hässlichen Fratze, als sie in Gedanken Sihena vor sich stehen sah, wie ihre Arbeitgeberin spöttisch ihre dünnen, perfekt geschminkten Lippen verzog, bevor sie ein vernichtendes und beleidigendes Urteil über die hirnrissige Forderung ihrer Hausangestellten aussprach.

»Nein«, sagte sie laut und sehr heftig und Antonio drehte überrascht sein Gesicht zu ihr hoch, »nein, von den Lings kannst du keine Hilfe erwarten. Die geben nichts her.«

Antonios Kopf drehte wieder weg und schaute einer hübschen, blondierten Braungebrannten hinterher, die ihn zuvor lockend angelächelt hatte, bei der aber mit Bestimmtheit auch kein Geld zu holen war.

»Vielleicht doch«, sinnierte er so leise flüsternd, so dass seine Worte vom heute trägen Wind sogleich fortgetragen wurden und sie nicht einmal Naara vernahm.

*

Sie waren am Nachmittag mit der Zahnradbahn hoch auf den Gornergrat gefahren, tranken auf der Sonnenterrasse einen Tee und fuhren danach auf Skiern ins Tal. Alina behielten sie stets zwischen sich, denn die Kleine stellte sich zwar mittlerweile recht geschickt auf den Brettern an, legte jedoch manchmal eine ungesunde Tollkühnheit an den Tag. Während der Skischule am Morgen durfte sie nie so, wie sie wollte, musste sich an die Regeln der Skilehrer halten. Doch nun brach sie ihren Eltern nach wenigen hundert Metern aus, ging in die Hocke, streckte ihren Po in die Höhe, legte die Stöcke an ihren Körper und senkte den behelmten Kopf, stürzte sich so den recht steilen Hang herunter. Nur das fehlende Körpergewicht hielt sie noch auf unter fünfzig Stundenkilometern. Doch Jules zeigte bereits Mühe, ihr zu folgen, rief sie deshalb ein paar Mal an, ohne jeden Erfolg. Alabima stand weit fester oder eben lockerer auf ihren Brettern als Jules, hielt ihre Knie leicht gebeugt und das Tempo ihrer Tochter problemlos mit. Beinahe spielerisch wirkte die Äthiopierin, wie sie mit langgezogenen, fast gemütlich wirkenden, jedoch sicheren Schwüngen neben ihrer Tochter herfuhr. Jeder junge Mensch musste irgendwann damit beginnen, seine Grenzen auszuloten und sie wenn immer möglich auszuweiten. Und so lachte die Mutter ähnlich befreit wie ihre Tochter, die immer wieder vor Freude jauchzte.

Alina war in Purpurrot gekleidet, Alabima hatte den schneeweißen Skidress angezogen. Beide trugen einen farblich passenden Helm. Jules, ganz in Schwarz, lag längst zweihundert Meter hinter ihnen zurück und Alabima wollte gerade ihre Tochter ermahnen, den Papa nicht so schlecht aussehen zu lassen und etwas Tempo zurückzunehmen. In diesem Moment hob die Kleine jedoch von der Piste ab, flog durch die Luft, wobei sich ihre Skier immer höherschraubten und ihr Kopf dafür nach unten segelte. In einem weiten Bogen landete sie nach gut fünfzehn Metern im hart gepressten Schnee, prallte mit Nacken und Schulterblättern auf, überschlug sich ein paar Mal, wobei sich wenigstens einer ihrer kurzen Skier endlich löste und davon schleuderte, schlitterte auf dem Bauch noch gut zwanzig, dreißig Meter weiter, pflügte zwischen anderen, erschrocken dreinblickenden Skifahrern hindurch, blieb endlich liegen.

Alabima hatte ebenso wie ihre Tochter einen erschrockenen Schrei ausgestoßen, war ihr im kurzen Abstand gefolgt, hielt direkt neben ihr an, hakte sich hektisch die Bretter von den Skischuhen, kniete sich neben ihr nieder, sprach auf sie ein, berührte ihr blasses Gesicht, erkannte die geschlossenen Augen und die Bewusstlosigkeit ihrer Tochter und dann erst das verdrehte linke Bein, packte nach ihm und drehte es vorsichtig richtig, öffnete endlich die Bindung und fegte den Skier zur Seite. Alina wimmerte leise vor Schmerzen, wachte jedoch noch nicht auf. Ihre Mutter blickte sich um, sah in ein paar erschrockene Gesichter, die sich um den Unfallort sammelten.

»Ich ruf die Rettungsflugwacht an«, sagte ein besonnen wirkender älterer Mann zu ihr, erst auf Deutsch, danach sicherheitshalber auch noch auf Französisch. Alabima nickte ihm dankbar zu, getraute sich nicht, ihre Tochter auf den Rücken zu drehen, zog nun jedoch ihre Ski Jacke aus, faltete sie zusammen und legte sie unter den Kopf ihrer Tochter, den sie äußerst vorsichtig und nur wenige Zentimeter anhob.

Endlich hatte sich auch Jules zu ihnen hin gekämpft, hatte seine Skier längst abgestreift, bahnte sich einen Weg durch die immer dichtere Traube der Schaulustigen. Vorwurf war in seinem Gesicht zu lesen und große Sorge.

»Wir sollten sie ruhig liegenlassen, bis ein Arzt hier ist«, wurde er von Alabima begrüßt. Er nickte nur, sah in das stille, blasse Gesicht der Sechsjährigen, zog dann mehr aus seiner Hilfslosigkeit heraus als zum echten Nutzen, ebenfalls seine Jack aus, breitete sie über dem Körper von Alina aus. Dann begann das Warten und das Beten für die Eltern. Immer wieder blickten sie hoch in die Luft, suchten nach einem Rettungshubschrauber, hörten ihn jedoch eher, als dass sie ihn über den Wipfeln der Tannen aufsteigen und sich rasch nähern sahen. Er landete fünfzig Meter entfernt etwas unterhalb von ihnen. Zwei Männer stiegen aus, öffnete die hintere Klappe. Der eine mit Koffer schritt zielstrebig zu ihnen hinauf, während der andere einen Schleppschlitten aus dem Helikopter zog und ihm langsamer folgte.

»Wie alt?«, fragte der Mann mit dem Koffer geschäftig, aber ruhig, als er bei ihnen angelangt war und sich neben Alina niederkniete.

»Sechs. Sie muss eine Bodenwelle übersehen haben, flog bestimmt zehn oder fünfzehn Meter weit durch die Luft und landete auf dem Rücken, überschlug sich auch ein paar Mal. Ihr linkes Bein ist wahrscheinlich gebrochen, denn die Bindung ging nicht auf.«

Rasch haspelte Alabima die Sätze herunter, während der Arzt nach dem Puls des Mädchens fühlte und dann mit einer kleinen Taschenlampe den Augenreflex prüfte.

»Gehirnerschütterung«, stellte er fest, »aber fast normaler Puls. Ich denke, sie ist transportfähig.«

Behutsam hoben er und der andere aus dem Helikopter die Kleine hoch und legten sie immer noch bäuchlings auf den Schleppschlitten.

»Wir werden sie im Krankenhaus zuerst röntgen, bevor wir sie umdrehen«, erklärte ihnen der Arzt, »wer von Ihnen beiden fliegt mit?«

»Ich«, stellte Alabima klar, »bevor Jules etwas sagen konnte, doch der Schweizer nickte dem Arzt zustimmend zu.

Zu dritt gingen sie zum Hubschrauber, stiegen ein und flogen los.

Die Schaulustigen wandten sich rasch vom Helikopter ab, beobachteten dafür aber Jules, zeigten offen ihre Neugierde und ihre Schamlosigkeit. Genauso würden sie im Zoo vor dem Käfig eines Tigers stehenbleiben und hinein starren, falls dieser sein Junges verlor. Man wartete auf eine Sensation oder wenigstens auf eine Reaktion, wollte den Schmerz sehen oder sich wenigstens an der Hilflosigkeit ergötzen. Der Schweizer betrachtete sie grimmig und verächtlich, sagte jedoch nichts, sondern holte die Skier zusammen, wobei der rechte von Alina nach dem Sturz wohl weiter den Hang hinuntergeglitten und irgendwo im nächsten Waldstück verschwunden war. Bis ins Tal würde es Jules bestimmt noch recht kühl werden, da er seine Jacke bei Alina gelassen hatte. Doch mit drei Skiern und zwei Stöcken auf den Armen schwitzte er dann doch noch Blut und Wasser, bis er endlich unten angelangt war.

*

Als Carlos Forano nach Hause kam und seine Mutter begrüßt hatte, meinte diese: »Dieser Pedro Alavalon war hier. Er hat erzählt, du hättest vergessen, ihm sein Smartphone zurückzugeben. Er wollte nicht auf dich warten und so habe ich ihn kurz in dein Zimmer gelassen. Er konnte es jedoch nicht finden und ist vor wenigen Minuten wieder gegangen.«

Carlos wunderte sich sehr, wollte seiner Mutter aber keinen Vorwurf machen. Die gute Frau hatte es mehr als schwer gehabt, als ihr Ehemann sie vor über zehn Jahren verließ und sie seitdem allein für ihre Kinder sorgen musste.

»Schon gut, Mãezinha«, meinte er, »keine Ahnung, was Pedro gesucht hat. Wird sich aber sicher aufklären. Schau, ich hab für die Kleinen Knabberzeug und Cola gekauft.«

Er stellte die Plastiktasche mit den Einkäufen auf einen der Stühle am Esstisch ab. Seine Mutter nickte ihm halber dankbar und halber vorwurfsvoll zu, meinte dann aber doch: »Du bist ihnen ein lieber Bruder, Carlos.«

Er ging auf sein Zimmer, sah sich um, konnte keine Unordnung entdecken oder zumindest nicht mehr Unordnung als am frühen Morgen, als er es verlassen hatte. Doch er wollte sich noch ein paar Minuten lang ausstrecken, bis seine Mutter die Feijoada für ihn aufgewärmt hatte. Er legte sich auf die Matratze und seinen Kopf auf das dünne Kissen, spürte etwas Hartes und schreckte hoch und schob das Kissen weg. Darunter lag ein Dolch mit blutiger Klinge. Entsetzt starrte er auf das Messer und seine Gedanken eilten von Manuela zu Pedro. Ohne Zweifel hatte ihm seine Bekanntschaft das Mordwerkzeug unter sein Kopfkissen gelegt. Doch aus welchem Grund? Und warum hatte Pedro die Prostituierte auf solch grässliche Weise getötet? Richtiggehend geschlachtet?

Carlos erinnerte sich, wie er Pedro gestern noch von seinem geplanten Besuch bei der schönen Hernandoz erzählt hatte, wie er ihm erklären musste, wie und wo genau er Manuela finden konnte, und wie er deren Vorzüge lobte und Pedro scherzhaft darauf hinwies, dass er ihm doch bitte nicht in die Quere kommen sollte, zumindest nicht an diesem Abend.

Mit spitzen Fingern hob Carlos das Messer am Griff hoch und blickte sich suchend um, entschied sich für eine schmutzige Socke, die noch von gestern am Boden lag, hob sie auf und schob die blutige Klinge hinein. Auf dem Laken und dem Kissen waren kaum Spuren zu sehen. Das Blut musste längst getrocknet gewesen sein, als das Messer versteckt wurde. Doch was sollte er nun tun? Zuerst die Tatwaffe beseitigen, das war klar. Und danach Pedro suchen. Er würde zu dieser Zeit bestimmt in der Varandão da Central zu finden sein, so hoffte er wenigstens.

»Ich muss noch mal dringend weg, Mãezinha«, rief er in die Küche, als er die Wohnung verließ, »bin in einer Stunde zurück.«

»Hast du sein Telefon gefunden?«, fragte die Mutter zurück. Doch ihr Sohn war bereits aus der Türe.

Das Messer warf Carlos wenig später in einen Gully, gut hundert Meter vom Wohnhaus entfernt. Seine Fingerabdrücke auf dem Griff hatte er zuvor mit der Socke weggewischt und diesen wenig später in eine Mülltonne geworfen. Dann stand er vor dem Eingang zur Bar und blickte durch die offene Türe hinein. An diesem Abend war nicht viel los. Doch zumindest Pedro saß am Tresen und hob in diesem Moment seinen Arm, prostete sich selbst im Spiegel zu und kippte den Schnaps in seinen Mund. Carlos betrat das Lokal, fühlte Wut und Enttäuschung, steuerten seinen Bekannten direkt an, der ihm grinsend entgegenblickte. Seitdem er die Mordwaffe losgeworden war, fühlte sich Carlos wieder sicher und befreit. Sein Zorn galt nicht direkt der Ermordung seiner Lieblings-Prostituierten. Auch nicht dem Versuch von Pedro, ihn damit zu belasten, sondern einzig dem begangenen Vertrauensbruch. Gleichzeitig wollte er das Warum und Wieso dieser scheußlichen unsinnigen Tat klären. Carlos blieb drohend vor dem immer noch grinsenden Pedro stehen, der sich kurz an den Barmann wendete und »noch zwei, Felipe« bestellte. Wie alle anderen Anwesenden hatte auch Felipe den neuen Gast seit seinem Eintreten mit den Augen verfolgt. Man hatte ihm die Wut angesehen und wartete nun gespannt auf deren Ausbruch. Doch als Carlos vor dem Kerl an der Theke stehen geblieben war und ihn bloß wortlos anstarrte, zog jeder seine eigenen Schlüsse und verlor rasch an Interesse. Vielleicht ging es zwischen den beiden um Geld oder um eine homosexuelle Liebschaft oder beidem gleichzeitig? Wer kannte sich schon mit Tunten aus?

Felipe füllte rasch zwei Kurze und schob die Gläser den beiden Gästen zu. Pedro griff gleich nach dem einem, hob es zum Prosten hoch, wartete auf Carlos. Der regte sich erst nach ein paar Sekunden, nahm den Schnaps und kippte ihn wortlos in seine Kehle. Pedro zuckte gleichgültig mit den Schultern und leerte dann ebenfalls sein Glas.

»Wir müssen reden. Komm«, befahl dann jedoch Pedro und erhob sich vom Hocker, zog Carlos am Arm zu einem freien Ecktisch.

»Was soll das? Was hast du gemacht?«

Zorn, Unverständnis und Enttäuschung waren aus Carlos Stimme herauszuhören. Pedro lächelte ihn jedoch gewinnend an.

»Tut mir ehrlich leid, dass ich dir das antun muss. Doch mir sitzen ein paar Leute im Nacken. Die haben mich dazu gezwungen.«

Carlos sah seinen Bekannten ohne Verständnis an.

»Du kennst doch die Mendoza-Sippe? Die haben mich in der Klemme. Und darum haben Sie nun auch dich in ihrer Hand.«

Carlos schüttelte unwillig seinen Kopf und flüsterte: »Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst. Doch ich hab das Messer längst entsorgt.«

Pedro lächelte schief, als könnte er so um Verzeihung bitten.

»Ich hab selbstverständlich noch mehr Spuren in deinem Zimmer hinterlassen. Das Messer war nur dazu da, dich mit der Nase drauf zu stoßen. Und glaub mir. Ich hab noch weitere Beweise, die ich jederzeit bei dir in der Wohnung streuen kann, bevor ich den Bullen einen Tipp gebe.«

»Und warum haust du mich in die Pfanne?«

Carlos verstand nicht oder wollte nicht begreifen.

»Das ist doch ganz einfach. Die Mendozas wollen irgendetwas von dir. Muss etwas sehr Wichtiges sein. Und damit du es ihnen auch mit Bestimmtheit gibst, haben sie von mir verlangt, dich in diese schlimme Lage zu bringen. Tut mir für dich ehrlich leid, Kumpel, doch sie haben mir die Pistole auf die Brust gesetzt. Wortwörtlich. Ich wäre längst tot, hätte ich mich geweigert…«

Pedro überließ es Carlos, sich die Einzelheiten vorzustellen.

»Du bist ein Schwein.«

Pedro lächelte erneut auf dieselbe schiefe, um Verzeihung bittenden Weise.

»Und wie geht es nun weiter?«

»Die Mendozas werden sich bei dir melden, was sonst?«

Carlos erhob sich, schüttelte immer noch fassungslos seinen Kopf, wandte sich zum Gehen.

»Noch einen«, bestellte sich Pedro ein weiteres Glas Schnaps beim Barkeeper und hockte sich wieder auf denselben Platz am Tresen. Er lächelte und schien mit sich zufrieden.

*

Sheliza wirkte müde, beinahe erschöpft, als sie nach Hause kam. Holly blickte sie forschend und voller Mitgefühl an.

»Du siehst furchtbar aus.«

Sheliza lächelte.

»Danke.«

»So mein ich das nicht, Liebes«, fügte Holly warm hinzu, »doch eine Schwangerschaft kostet nun einmal viel Kraft. Du solltest nicht jeden Tag stundenlang in die Moschee gehen, sondern an deine Gesundheit denken. Und an das Wohl deines Kindes.«

»Die Gebete tun mir gut«, reklamierte Sheliza matt, »sie erschöpfen mich nicht, im Gegenteil. Sie geben mir Kraft für meinen weiteren Weg.«

Holly wiegte leicht ihren Kopf hin und her, schien abzuwägen.

»Übernimm dich bloß nicht, Sheliza, ja?«

Die junge Muslimin nickte.

»Sicher. Mach dir keine Sorgen.«

Sie verschwand in ihrem Zimmer, würde erst dort den Niqab und den Abaya ausziehen und sich fürs Abendessen zurecht machen. Henry wollte erst in einer Stunde zurück sein. So setzte sich Holly an den Küchentisch und dachte nach, über sich und ihr jetziges Leben.

Sie war glücklich mit Henry. Er und sie harmonierten miteinander, verstanden sich mit wenigen Worten, fühlten sich wohl, wenn sie zusammen waren. Doch Holly vermisste trotzdem zusehends die früheren, aufregenden Zeiten, als sie noch als Escort arbeitete. Die Reisen und der ständige Ortswechsel hatten sie ebenso auf Trab gehalten, wie der Umgang mit den laufend wechselnden Klienten. Ihr nun so ruhiges Leben als eine Art von modernem Hausmütterchen verlor immer mehr an Reiz. Doch wie sollte sie dies Henry erklären und begreiflich machen? Er würde sich als Mann und als ihr Lebenspartner zurückgesetzt fühlen, musste annehmen, er genüge ihr nicht länger. Und das war falsch. Holly wollte doch bloß wieder etwas mehr Aufregung und Abwechslung in ihr Leben bringen, mehr Inspiration und vor allem Bewährung. Das alles hatte mit ihrer Liebe zu Henry rein gar nichts zu tun.

Alabima Lederer und deren Lebenssituation mit Jules kamen ihr in den Sinn. Auch die Äthiopierin fühlte sich mit ihrem sorgenfreien Leben an der Seite des Schweizers zunehmend in Fesseln gefangen, zu wenig ausgelastet und wie weggesperrt. Holly konnte nun besser empfinden, wie sich Alabima nach so vielen Jahren fühlen musste.

Selbstverständlich liebte Holly nicht nur Henry, sondern auch Sheliza. Und eine eigene Familie war immer wieder in ihrem Leben ein erstrebenswertes Ziel gewesen, auch wenn sie den eigenen Kinderwunsch seit langem und für immer abgelegt hatte. Aber nun lebte sie doch noch in einer Familie, aber sie war ihr nicht genug?

Wie mahnte uns Mahatma Gandhi? Das Geheimnis eines glücklichen Lebens liegt in der Entsagung. Holly würde darauf achten müssen.

*

Ihr Rückgrat war zum Glück unverletzt. Doch das Kreuzband in ihrem linken Knie war gerissen und ihre rechte Schulter ausgekugelt. Hinzu kam eine mittelschwere Gehirnerschütterung. Nach der Operation bekam Alina ein Schlafmittel, sollte erst nach vierundzwanzig Stunden das erste Mal aufwachen. Jules und Alabima hielten trotzdem Nachtwache, wechselten sich ab, so dass beide auch ein paar Stunden Schlaf bekamen. Gegen Abend wurde der Schlaf ihrer Kleinen zuerst unruhiger, dann schlug sie plötzlich die Augen auf, blickte in die Gesichter ihrer Eltern, schloss ihre Lider noch einmal voller Müdigkeit und Mattheit, die bestimmt auch von den Schmerzmitteln herrührten, schaute dann jedoch klarer.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich bei den beiden und hatte wohl ihre Erinnerung zurück.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Liebling. Unfälle können passieren«, beruhigte sie Jules. Alabima streichelte mit dem Zeigefinger tröstend über die Wange ihrer Tochter, sah sie glücklich lächelnd an.

»Hauptsache, du wirst wieder gesund.«

»Was ist denn passiert?«, wollte Alina wissen.

»Du bist zu schnell über eine Bodenwelle gerast und hast sie nicht genügend mit den Knien gedrückt, vielleicht aber auch gar nicht gesehen. Dann bist du weit durch die Luft geflogen und hart gestürzt.«

»Mir tut mein rechter Arm weh.«

»Der war ausgekugelt. Doch die Ärzte haben ihn wieder eingerenkt. In ein paar Tagen werden die Schmerzen verschwinden.«

»Und mein Knie.«

»Auch das wurde verletzt. Doch es wird wieder gesund werden. Du musst beide nur ruhig liegen lassen.«

Alina sah sie mit großen Augen an, sagte jedoch nichts. Ihre Lider schlossen sich langsam wieder und einen Augenblick später war sie eingeschlafen.

»Unkraut vergeht nicht«, meinte Jules leise zu seiner Frau. Doch die schüttelte ablehnend den Kopf.

»Darüber reißt man keine Witze, Jules. Sie hätte tot sein können, verstehst du? Oder Querschnittsgelähmt.«

»Die Körper von Kindern sind doch biegsam? Die halten weit mehr aus, als du denkst.«

Alabima sagte nichts darauf, betrachtete voller Liebe das friedlich daliegende Gesicht ihrer Tochter, streichelte mit ihren Fingerkuppen sanft über die rechte Hand und die Finger ihrer Tochter, drückte sie dann ganz leicht, als könnte sie auf diese Weise etwas von ihrer Lebensenergie auf Alina übertragen.

Die neunschwänzige Katze

Подняться наверх