Читать книгу Die neunschwänzige Katze - Kendran Brooks - Страница 6
April 2014
Оглавление»Die schulischen Leistungen Ihres Pflegekindes und auch der Eifer und Einsatz von Sheliza entsprechen nicht unseren Standards.«
Die Schulpsychologin hatte ihr Urteil von einem Blatt Papier abgelesen, das sie hochgehoben und wie eine Art von Schleier vor die untere Hälfte ihres Gesichts hielt. Nun blickten ihre Augen streng über dessen Rand auf Holly Peterson, kühl und abschätzend, als stünde die Pflegemutter unter Anklage.
»Sie ist ein syrischer Flüchtling, hat ihre Eltern und Geschwister verloren, ist traumatisiert…«
Holly hielt inne, als die Schulpsychologin das Blatt senkte und sie deren schmalen Lippen verächtlich geschürzt erblickte.
»Papperlapapp«, griff diese sie weiter an, »das geschah doch schon vor vielen Monaten und ein junger Mensch blickt kaum je zurück.«
»Sie sind wirklich Psychologin?«, rutsche Holly die falsche Frage heraus, die mit einem herablassenden, unnahbaren, aber giftigen Blick beantwortet wurde.
»Das Beste wird sein, wir Stufen sie um ein oder besser gleich um zwei Jahrgänge zurück.«
»Niemals.«
Misses Myers, wie sich die Angestellte der Schule vorgestellt hatte, schaute die Pflegemutter durchdringend an.
»Das habe ich zu entscheiden, Miss Peterson, nicht Sie.«
Das Miss betonte die Frau auf eine beleidigende Weise.
»Eher suchen wir für Sheliza eine andere Schule.«
»Bitte schön. Das ist Ihre Angelegenheit. Doch in diesem Fall wäre ich gezwungen, den Sozialdienst der Stadt zu informieren.«
Holly blickte die Frau hinter dem Pult alarmiert und irritiert zugleich an.
»Selbstverständlich nur zum Schutz Ihrer Pflegetochter und deren ungeborenen Kind.«
Das letzte Worte hatte die Schulpsychologin besonders betont, nicht wirklich abfällig, eher als weiterer Tadel an Holly, als übte diese einen schlechten Einfluss auf die Schwangere aus.
»Sie wollen uns erpressen?«, stellte Holly Peterson klar. Misses Myers Mund verhärtete sich und ihre Lippen wurden zu einem einzigen, dünnen Strich.
»Ich tue nur meine Pflicht, zum Wohle der Schülerin.«
»Wir werden sehen…«, Holly Peterson stand auf, wandte sich zum Gehen und fügte unter der offenen Tür stehend an, »…wessen Anwälte am Ende die besseren sind.«
Sie schritt rasch davon, entschwand dem Blick der Schulpsychologin, die zufrieden hinter ihrem Pult saß, das Blatt von vorhin in die Aktenmappe legte und diese zuklappte. Dann hob sie den Hörer vom Apparat und drückte eine Kurzwahlnummer. Nach zweimaligem Klingeln wurde auf der anderen Seite abgehoben.
»Hallo, Sybille, ich bin’s, Cathrina von der High Brooks.«
…
»Ja, mir geht es auch gut. Du, ich hab da wieder einen kritischen Fall. Junge, schwangere Muslimin, ein Flüchtling aus Syrien. Lebt derzeit bei einem nicht verheirateten, christlichen Paar.«
…
»Da gebe ich dir Recht. Das kann kaum gut gehen. Bin ganz deiner Meinung, Sybille.«
…
»Ja, sämtliche Anzeichen für eine problematischen Unterbringung sind gegeben und Dringlichkeit nach meiner Meinung gegeben.«
…
»Sehr gut. Danke, dass du alles in die Wege leitest. Ich schick dir das Dossier heute noch zu.«
…
»Ist gut. Bis bald. Und grüß bitte George von mir.«
Sie legte auf, zog aus einer Schublade einen großen Umschlag und aus einer anderen einen Block mit Notiz-Zetteln. Sie schrieb eine kurze Mitteilung an Sybille, suchte sich aus einer Plastikbox das Visiten-Kärtchen mit der Adresse des Sozialdienstes heraus, kopiert sie inklusive Name ihrer Freundin auf den Umschlag, ging hinüber ins Schulsekretariat, kopierte dort alle Unterlagen und schob sie in den Umschlag, klebte diesen zu.
»Der muss heute noch raus«, mahnte sie die Sekretärin, die stumm nickte.
In der Zwischenzeit stand Holly Peterson längst auf dem Gehsteig unten, atmete dort ein paar Mal tief ein und aus, brachte ihre Erregung unter Kontrolle. Die aparte Frau von Mitte vierzig wurde von den meisten an ihr vorbeieilenden Passanten zumindest gemustert, wenn nicht sogar frech angestarrt. Doch Holly beachtete sie nicht, denn ihre Gedanken rasten.
Wurde ihre kleine Familie nun auseinandergerissen? Was war, wenn die Sozialdeppen ihr und Henry die Betreuung von Sheliza tatsächlich entzogen? Sie womöglich in ein Heim steckten?
Holly war wütend, jedoch weniger auf die verbohrte Misses Myers vom schulpsychologischen Dienst als auf sich selbst. Hätte sie doch Henry zu diesem Termin mitgenommen. Der wäre bestimmt ruhig geblieben und hätte dieses dumme Stutenbeißen vermieden. Doch für Reue war es nun zu spät. Beamte vergaßen in der Regel nie, ähnlich Elefanten. Beide bewegten sich eher schleppend, geistig wie körperlich, spielten im Gegenzug nur zu gerne ihre Kraft aus, ließen ihre Muskeln spielen. Nein, sie hatte weder Sheliza noch Henry einen Dienst erwiesen. Aber selbst eine ehrlich gemeinte Entschuldigung konnte hier kaum mehr etwas retten. Denn wer Stolz und Ehre mit Würde verwechselte, wer sich gleichzeitig und fälschlicherweise anmaßte, über ein riesiges Können zu verfügen, der konnte nicht verzeihen. Niemals.
»Du dumme Kuh«, herrschte sich Holly selbst laut an. Eine Passantin blieb stehen und musterte die hübsche, fluchende Frau, bezog den Ausspruch wohl auf sich, zog bereits eine beleidigte Miene und setzte zu einer Erwiderung, was Holly nicht entging.
»Nicht Sie«, beeilte sie klar zu stellen, »ich meine mich«, und als sich die andere endlich abwandte und weiterging, fügte Holly leise hinzu, »denn du bist nur dämlich.«
Als sie wenig später Henry von der Auseinandersetzung mit der Schulpsychologin erzählte, rief dieser sogleich ihren Anwalt an, der ihnen damals die Erlaubnis zur Betreuung des Flüchtling-Teenagers verschafft hatte. Er schilderte ihm die neue Situation in wenigen, klaren Worten. Der Anwalt erkundigte sich zuerst über ihren eigenen Eindruck der schulischen Leistungen ihres Schützlings und Huxley gab offen zu, dass einer der Lehrer sie bereits vor einigen Wochen auf Mängel hingewiesen hatte, dass Sheliza öfters ohne Hausaufgaben erschienen war und im Unterricht immer öfters geistesabwesend wirkte. Deshalb kam es auch zur Aussprache mit der Schulpsychologin.
Der Anwalt versprach ihnen nichts, würde sich jedoch umgehend um die Sache kümmern, machte jedoch ebenso klar, dass mit dem Sozialdienst der Stadt kaum zu spaßen war. Ihre Macht wäre weit größer als die jedes Staatsanwalts oder Richters. Die Behörde konnte fast nach Gutdünken Familien auseinanderreißen und neu zusammensetzen. Und jede Klage dagegen käme stets zu spät, besaß auch nie aufschiebende Wirkung, weil man das Wohl eines Kindes eher den Beamten, als den Erziehungsberechtigten zutraute.
»Wundern Sie sich also nicht, wenn bereits morgen früh jemand an Ihrer Haustüre klingelt und Sheliza in Gewahrsam nimmt«, verabschiedete sich der Mann am Telefon.
Henry legte betroffen auf, informierte Holly. Sie riefen Sheliza aus ihrem Zimmer, setzten sich mit ihr aufs Sofa, erzählten von den Problemen in der Schule und erklärten ihr die möglichen Konsequenzen. Die junge Muslimin zeigte sich erschrocken, beinahe panisch.
»Ihr lasst das doch nicht zu?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen, denen man deutlich die Furcht sah.
»Nein, niemals«, bestätigte Holly sogleich und vehement und auch Henry nickte.
»Wir sollten erst einmal die Stadt verlassen«, entschied der Brite, »ein paar Tage in Brighton können bestimmt nicht schaden, auch wenn es dort zu dieser Jahreszeit meist regnet und der Wind kalt und in unangenehmen Böen weht.«
»Oder wir fahren gleich weiter, nach Frankreich oder nach Deutschland?«, fügte Holly hoffnungsvoll hinzu.
»Lieber nicht«, erwiderte Henry, »falls man uns sucht, wird man uns bei einer Rückkehr aus dem Ausland womöglich gleich an der Grenze verhaften.«
Sheliza hörte ihnen nachdenklich zu, war ganz in sich gekehrt.
»Also packen wir erst einmal für eine Woche. Und bereits diese Nacht verbringen wird in einem Hotel in der Nähe. Morgen früh brechen wir dann nach Brighton auf. Okay?«
Holly nickte sogleich, Sheliza zögernd. Ihre Pflegeeltern sahen sie besorgt an.
»Darf ich morgen früh noch einmal zur Moschee, bevor wir fahren?«
»Aber sicher, Sheliza«, bestätigte ihr Holly sogleich und wieder nickte Henry zustimmend.
»Doch du solltest niemanden von Brighton erzählen«, wurde sie vom Briten ermahnt.
»Nein, selbstverständlich nicht.«
Die junge Muslimin erhob sich und ging hinüber in ihr Zimmer, um zu packen. Henry und Holly blickten sich an.
»Was meinst du?«
»Sie wird es schon wegstecken.«
»Sie sah aber sehr bestürzt aus?«
»Das legt sich wieder, sobald wir aus London raus sind.«
»Armes Kind.«
Henry nickte stumm.
*
Familie Ling saß beim Abendessen, das wie immer um halb acht aufgetragen wurde. Doch nur
Zenweih und Sihena hatten Platz genommen. Das Gedeck von Shamee lag verwaist.
»Wo ist unsere Tochter?«, fragte der Hausherr beiläufig.
»Keine Ahnung. Noch nicht nach Hause zurückgekehrt«, gab Frau Ling recht kühl zurück, drehte sich dann aber zum Major Domus um und fragte diesen, »das stimmt doch, Aílton, sie ist noch nicht zurück?«
»Nein, Senhora Sihena Ling, Ihre Tochter ist noch außer Haus.«
Die beiden aßen stumm weiter. Doch nach einer Minute meinte Zenweih: »Ich mag es nicht, wenn sie unentschuldigt ausbleibt. Das Abendessen ist die einzige Zeit, die wir noch gemeinsam und als Familie verbringen. Shamee könnte wirklich etwas mehr Rücksicht zeigen.«
»Ha«, entschlüpfte Sihena ziemlich verächtlich, wobei Zenweih genauso wie Aílton und Carlos das Gefühl hatten, die Gattin hätte eher zu sich selbst gesprochen.
Als das Dinner beendet war, entschuldigte sich Sihena bei ihrem Mann.
»Ich bin müde, Liebling. Ich geh heute früh zu Bett.«
Zenweih nickte zustimmend.
»Gute Nacht, Sihena.«
»Gute Nacht, meu rei do baffo.«
Die Hausherrin rauschte an den beiden Bediensteten vorbei, strebte der breiten Treppe im Eingangsbereich zu, die sie nach oben in ihre Zimmerflucht führte.
»Noch einen Wunsch, Senhor Ling?«, fragte Aílton, während Carlos die Teller, das Besteck und die Gläser abräumte.
»Sie können mir noch einen Cognac in die Bibliothek bringen. Ich werde noch etwas lesen.«
»Sehr wohl, Senhor Ling.«
Zenweih blieb noch für einen Moment am großen Esstisch sitzen, sah sich die leergeräumte Platte mit den unbesetzten Stühlen ringsum an. Was er dabei dachte, was er empfand, das blieb hinter seiner Stirn verborgen. Sein Gesicht war maskenhaft starr, ebenso seine Augen. Sein Mund wirkte dagegen verkniffen und erschien einem deshalb grimmig. Doch so blickte der erfolgreiche Betreiber einer China-Restaurant-Kette die meiste Zeit über. Dieser Gesichtsausdruck gehörte ebenso zu ihm, wie sein Millionenvermögen. Erfolg gab es nirgendwo umsonst.
*
»Wo bleibt sie denn?«
Holly und Henry hatten längst gepackt und ausgecheckt, warteten in der Hotel-Lobby auf die Rückkehr von Sheliza, die sich verspätete.
»Ausgemacht war doch elf Uhr, oder?«, vergewisserte er sich noch einmal bei seiner Freundin, die zustimmend nickte.
»Aber du weißt doch, dass sie in dieser Hinsicht recht unzuverlässig ist«, beschwichtigte sie ihn. Trotzdem blickte Henry erneut auf seine Armbanduhr, die bereits zwanzig nach elf anzeigte.
»Ruf sie bitte an.«
Holly nahm ihr Handy hervor und suchte sich die Nummer von Sheliza heraus, drückte den Anrufbutton, hielt sich das Gerät eine Zeitlang ans Ohr und setzte es wieder ab.
»Abgestellt«, vermeldete sie mit beunruhigter Stimme.
»Hast du die Telefonnummer der Moschee?«
Holly schüttelte verneinend den Kopf.
»Oder die Adresse?«
»Sie liegt in der Harley Street. Aber welche Hausnummer?«
Henry hielt bereits sein Smartphone in den Händen und suchte sich auf der Karte die mögliche Adresse heraus.
»Scheint nicht eingetragen zu sein«, murmelte er enttäuscht.
»Vielleicht gibt’s ein Verzeichnis über sämtliche Moscheen der Stadt?«, mutmaßte Holly hilfsbereit.
»Bin schon dabei«, und der Brite fuhr mit der Spitze seines Zeigefingers über die Glasscheibe.
»Im Telefonbuch?«
»Leider nein. War auch meine erste Idee. Doch in der Harley Street finde ich keine.«
Holly sah zu, wie Henrys Gesicht immer mehr Falten warf, je länger er ergebnislos im Kästchen suchte.
»Komm, wir fahren einfach hin«, meinte nun Holly, »und wir weisen die Hotelrezeption auf die mögliche Rückkehr von Sheliza hin. Die können ihr gegebenenfalls ausrichten, dass sie hier auf uns warten soll.«
Henry war einverstanden und sie informierten den Mann hinter dem Tresen, konnten auch ihr Gepäck bei ihm zur Aufbewahrung abgeben.
Draußen riefen sie sich ein Taxi herbei und gaben die Straße an.
»Wo genau?«
»Bei der Moschee der Alawiten?«
»Und wo steht die?«
»Wenn wir dort sind, werden wir es wissen.«
Henry setzte sich auf den Notsitz, saß mit dem Rücken zum Fahrer, konnte ihn durch die halb geöffnete Scheibe so am besten ansprechen und ihm den Ort anweisen, bei dem er sie aussteigen lassen sollte. Holly saß auf der Rückbank, blickte hin und her, suchte die Gehsteige nach Sheliza ab, auch wenn die Muslimin wohl eher mit der Underground und kaum zu Fuß unterwegs war. Ihr unsteter, suchender Blick war jedoch deutliches Zeichen für die große Anspannung der Britin.
Sie langten nach wenigen Minuten in der Harley Street an und Henry konnte dem Fahrer die Ecke nennen, an der er anhalten konnte. Er bezahlte mit fünfzehn Prozent Zuschlag und bedankte sich zusätzlich.
Vor der Moschee stand Afifa und wartete wohl auf eine Bekannte. Jedenfalls taxierte sie jeden Passanten schon von Weitem, schien jedoch nicht zu finden, was sie suchte, zeigte ein verbittertes Gesicht.
»Entschuldigen Sie«, wandte sich Holly an die mit Niqab verschleierte Frau, »wir suchen unsere Pflegetochter Sheliza. Kennen Sie sie? Ist Sie vielleicht noch in der Moschee?«
Die Muslimin wandte sich schroff von der Britin ab, ohne ein Wort zu verlieren. Womöglich sprach sie kein Englisch? Doch Holly ließ sich nicht so leicht abwimmeln, ging der Frau ein paar Schritte nach, hielt sie am Arm fest.
»Bitte. Wir suchen unsere Tochter Sheliza. Kennen Sie sie? Haben Sie sie heute Morgen gesehen?«
Afifa blickte die Engländerin starr mit ihren braunen, irgendwie schmutzig wirkenden Augen an, so als wollte sie die aufdringliche Frau mit ihrem Starren durchbohren.
»Sheliza ist nicht ihre Tochter«, zischte sie dann böse, »Sie ist eine Muslimin, Sie dagegen eine Ungläubige«, stellte die Verhüllte klar.
»Ich will doch bloß wissen, ob Sie Sheliza heute schon gesehen haben und ob sie sich noch in der Moschee befindet?«
»Sheliza geht nicht mehr in diese Moschee. Schon lange nicht mehr«, antwortete die verschleierte Frau in ihrem stark gefärbten Englisch, diesmal triumphierend.
Henry und Holly blickten sich pikiert und ungläubig an.
»Und wohin geht Sie beten?«, fragte Henry nach. Statt einer Antwort wirbelte die Muslimin auf einmal herum und floh durch den Eingang in den Hof des Gotteshauses, kickte im Vorbeilaufen ihre Sandalen von den bloßen Füssen und unter die Sitzbank, die man für das Ausziehen des Schuhwerks bereitgestellt hatte, entschlüpfte ihnen barfuß in das Innere.
Henry und Holly schauten sich verwundert und verunsichert an.
*
Als Shamee auch zum Frühstück nicht erschien, fragte Zenweih seinen Major Domus nach ihr.
»Ich habe Ihre Tochter seit gestern Mittag nicht mehr gesehen. Sie verließ das Haus gegen zwei Uhr und kehrte bislang nicht zurück.«
»Wollte sie denn bei einer Freundin übernachten«, fragte der Hausherr irritiert seine Gattin.
»Nicht das ich wüsste«, meinte Sihena und widmete sich wieder ihrer Lektüre, der neuesten Ausgabe der Metropolitan, murmelte jedoch noch ergänzend, »Shamee macht ja doch, was ihr gerade in den Sinn kommt.«
Damit musste sich Zenweih einstweilen zufriedengeben. Er trank noch seine Tasse Kaffee aus, stellte sie auf den Unterteller und erhob sich.
»Ich komm heute Abend erst zum Abendessen«, verabschiedete er sich von Sihena. Die blickte nicht einmal vom Teller auf, sagte nur: »Ist in Ordnung. Wir warten mit dem Essen auf dich. Ich wünsche dir einen schönen Tag.«
Zenweih starrte nachdenklich auf die linke Gesichtshälfte seiner Gattin, die jedoch nichts zu bemerken schien. Seine Stirn zog sich in Furchen und seine Mund verhärmten sich, vielleicht aus Unwillen über die so kühle und unpersönliche Behandlung durch seine Ehefrau. Er schielte kurz zu Aílton hinüber. Der zeigte jedoch sein stets stoisches Gesicht, das keinerlei Gefühl oder Meinung ausdrückte.
»Nun gut«, sagte Zenweih mehr zu sich als zu jemand anderen und verließ das Esszimmer. Als er gegangen war, zogen sich die Mundwinkel von Sihena langsam auseinander, zeigten ein feines, spöttisches Lächeln, das wohl kaum etwas mit der aufgeschlagenen doppelseitigen Werbeanzeige von Chanel in der Metropolitan zu tun hatte.
*
Sie sprachen vor der Moschee jeden Gläubigen an, der hinein oder hinaus ging, fragten sie nach Sheliza, ob sie vielleicht wussten, wo ihre Pflegetochter sein konnte. Henry hatte auch längst schon seine Schuhe ausgezogen und war auf Socken in die Moschee getreten, hatte sich dort umgeschaut, war unverrichteter Dinge zurückgekehrt. Selbst das Sekretariat war an diesem Vormittag nicht besetzt und er fand auch keinen anwesenden, ihm bekannten Imam. Von der Muslimin, die ihnen draußen entflohen war, fand er ebenfalls keine Spur. Sie war wohl durch einen Nebenausgang verschwunden.
Endlich kam ein ihnen bekanntes Gesicht näher, eine der Alawitinnen, die wie Sheliza als syrischer Flüchtling nach Großbritannien gelangt war. Holly sprach die Frau sogleich an und diese nickte auch zustimmend.
»Ja, Sheliza kommt nicht mehr hierher. Schon seit Wochen nicht. Soweit ich gehört habe, geht sie nun irgendwo im Eastend beten. Bei den Sunniten.«
Das letzte Wort zischte sie verbittert, gab sie doch als glühende Anhängerin von al-Assad allein dieser muslimischen Glaubensgemeinschaft die Schuld am Bürgerkrieg, an all der Zerstörung in ihrem Heimatland und an der Vertreibung von Millionen Menschen.
»Und in welche Moschee? Wissen Sie das?«
»Nein. Doch es wird dieselbe sein, in die auch Afifa geht.«
Henry und Holly sahen die Frau fragend an.
»Afifa war auch Alawitin. Sie ist jedoch schon vor einem Jahr zu den Sunniten konvertiert. Und sie hat sich über Wochen immer wieder mit Sheliza unterhalten.«
»Und wo finden wir diese Afifa?«
Die Alawitin sah Henry und Holly abschätzend an. Sollte sie eine andere Muslimin an eine Christin verraten?
»Bitte«, drängte Holly, »es geht um das Wohl unserer Pflegetochter.«
Die Frau zögerte immer noch.
»Und ihrem ungeborenen Kind«, fügte Henry leise hinzu.
Die Frau mit Kopftuch blickte mit ihren braunen Augen lange in die grau-grünen des Briten. Dann nickte sie zustimmend.
»Afifa Mosul wohnt an der Upper Montagu Street, ganz am Ende zur Marylebone Road.«
»Danke«, meinten Holly und Henry und die Britin drückte noch kurz den Unterarm der Alawitin, bevor sie zum Straßenrand gingen und sich ein Taxi herbeiwinkten.
Sie stiegen ein und Henry nannte die Straße und die Ecke. Der Fahrer schien über die kurze Strecke recht enttäuscht. Vier Pfund und zwei Minuten später stiegen sie vor einem dreistöckigen Mietshaus aus, lasen die acht Klingelschilder an der Türe und Holly drückte den richtigen Knopf, der zu einer der beiden Wohnungen im Souterrain gehören musste. Sie stiegen auch gleich die kurze Treppe hinab, als sich eine der Türen unten öffnete. Eine verschleierte Frau streckte ihren Kopf heraus, erkannte die beiden Briten und verschwand sogleich wieder, drückte die Haustüre hörbar zu und schloss ab.
Henry stemmte sich mit dem Rücken gegen die gegenüberliegende Mauer und trat so kräftig er konnte gegen das Türblatt auf Höhe des Schlosses. Nach drei Tritten zersplitterte der Holzrahmen und die Türe sprang auf. Dahinter stand diese Afifa mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen, im Moment unfähig, um Hilfe zu rufen oder sich gegen das Eindringen der beiden Fremden anderweitig zu wehren. Holly ging vor, bedachte Henry mit einer Armbewegung, dass dieser draußen bleiben sollte. Der Brite zog das Türblatt, soweit er es vermochte wieder ins Schloss, drehte dem Eingang seinen Rücken zu, verschränkte seine Arme vor der Brust und spielte den Zerberus, blickte nach links zur zweiten Wohnungstür im Souterrain hinüber, hinter der jedoch alles ruhig blieb, schaute auch in die Gesichter der wenigen Passanten, die vorbeigingen und ihn von oben herab betrachteten. Nach drei oder vier Minuten kehrte Holly zu ihm zurück und sie gingen ruhig die Treppe zur Straße hoch, winkten sich ein neues Taxi heran und bestiegen es.
»Zur sunnitischen Moschee in der Brick Lane«, befahl Holly dem Fahrer. Der drehte sein Gesicht fragend zu ihnen um.
»Welche Hausnummer?«
»Das weiß ich nicht.«
»In der Brick Lane gibt es keine Moschee, soweit ich weiß«, meinte nun der Fahrer achselzuckend.
Henry überlegte, ob sie zurück zu dieser Afifa gehen und die Frau noch einmal eingehender befragen sollten.
»Dann fahren Sie uns erst einmal dahin. Wir fragen uns dann dort durch«, entschied jedoch Holly und der Taxifahrer fuhr an.
Sie schwiegen fast den ganzen Weg über, gingen ihren eigenen Gedanken nach, machten vielleicht auch schon Pläne, wie sie im Eastend von London diese sunnitische Moschee finden konnten.
»Diese Afifa sprach von einer sehr kleinen Moschee. Womöglich in irgendeinem Wohnhaus.«
Henry nickte stumm.
»Wir werden sie schon finden.«
Der Taxifahrer ließ sie an der Ecke zur Fashion Street aussteigen und Henry bezahlte ihn schweigend.
»Wie gehen wir vor«, wollte Holly wissen. Henry antwortete noch nicht, sondern sah sich um.
»Komm mit«, meinte er dann und ging schräg über die Fahrbahn davon, steuerte den Mini Market auf der anderen Straßenseite an. Ein sichtlich gelangweilter Angestellter stand hinter der Kassentheke, betrachtete den zuerst eintretenden Henry ohne Interesse. Doch als er die mehr als aparte Holly erblickte, begannen seine Augen zu funkeln. Henry schätzte den Mann als Pakistani oder Nordinder ein, streckte ihm wortlos eine zwanzig Pfund Note entgegen. Dieser nahm den Geldschein zögernd entgegen, blickte den Briten fragend an.
»Wir benötigen eine kleine Auskunft, Sir«, gab er dem Kassierer den Grund für das Geld bekannt, »es soll hier in der Gegend eine kleine, sunnitische Moschee geben. Entweder direkt an der Brick Lane oder in einer der Seitenstraßen.«
Der junge Pakistani oder Inder nickte.
»Sie meinen bestimmt die Moschee des verrückten al-Muzaffar, oder?«
»Verrückt?«, fragte Henry, statt eine Antwort zu geben.
»Ja, soll so ein verbohrter Salafist sein, aus Ägypten, glaub ich.«
Holly schien alarmiert, Henry zumindest beunruhigt.
»Und wo liegt diese Moschee?«
»Na in der Princelet Street. Muss das … warten Sie … ja, es ist das zweite oder das dritte Haus rechts. Die Moschee liegt in der dritten oder vierten Etage.«
Henry und Holly bedankten sich bei dem Mann und verließen das Geschäft. Bis zur Princelet Street war es nicht weit. Holly Peterson blickte, während sie gingen, immer wieder in Henrys Gesicht, erkannte darin eine feste Entschlossenheit. Als sie die Nebenstraße erreicht hatten, kamen drei verschleierte Frauen aus dem zweiten Gebäude. Sie steuerten deshalb dieses Haus an, fanden auch ein Klingelschild mit dem Namen al-Muzaffar, drückten die unverschlossene Türe auf und betraten den Flur. Eine schmale Treppe führte in die oberen Etagen und die beiden Briten gingen sie gemächlich hoch. Holly hielt sich nun zwei Stufen hinter Henry. Ein Mann mit weißem, gehäkeltem Käppi auf dem Kopf trat aus einer der Wohnungstüren, erstarrte beim Anblick der beiden Briten, schaute sie stumm fragend und irgendwie auch vorwurfsvoll an. Sie gingen jedoch schweigend an ihm vorbei und weiter hoch. Holly spürte die Augen des Mannes bohrend auf ihrem Rücken, fühlte sich unbehaglich und erst wieder leichter, als sie ein Stockwerk höher dem Starren endgültig entkommen war.
In der dritten Etage stand die Wohnungstüre weit auf. Ein paar Stühle waren im Flur aufgereiht. Unter ihnen lagen Schuhe. Ein bärtiger Muslime kam aus einem der Zimmer, blieb überrascht stehen, blickte den Ankömmlingen forschend und fragend entgegen.
»Entschuldigen Sie bitte«, Henry blieb ausgesprochen höflich, »ist das hier die Moschee von Imam al-Muzaffar?«
Der Mann antwortete ihm nicht sogleich, versuchte immer noch, die beiden Ungläubigen einzuschätzen. In einem leidig schlechten Englisch meinte er dann doch noch: »Ja, das ist die Moschee von Saif ad-Din. Was wollen Sie von ihm?«
»Wir suchen unsere Pflegetochter, Sheliza bin-Elik. Kennen Sie sie?«, fragte Henry höflich nach.
»Sheliza ist nicht hier«, beantwortete der Mann gleich zwei Fragen auf einmal.
»Wissen Sie denn, wo sie ist?«
Hoffnung schwang in der Stimme des Briten mit. Doch der Muslime schüttelte verneinend und ablehnend den Kopf.
»Könnten wir vielleicht mit Imam al-Muzaffar sprechen?«, fragte Holly ebenso höflich wie Henry zuvor. Doch der Mann tat keine Anstalten, auf die Frage der Britin zu antworten, sagte stattdessen kalt zu ihrem männlichen Begleiter Henry, »Sie sollten jetzt gehen«, und fügte nach einer kurzen Pause ein »bitte« hinzu, was wie ein Befehl klang.
*
Shamee tauchte auch an diesem Abend nicht zum Essen auf und Zenweih begann sich, echte Sorgen zu machen. Seine Frau Sihena dagegen lachte nur über sein ernstes Gesicht.
»Die ist bei irgendeiner Freundin hängen geblieben. Ganz bestimmt. Du weißt doch, wie sie ist. Wir können morgen in ihrer Schule anrufen und fragen, ob sie in der Klasse sitzt.«
Zenweih stocherte in seinem Teller mit der Vorspeise herum, einem Carpaccio aus zartem Rindfleisch, das mit ein wenig aromatisiertem Olivenöl beträufelt nach Limonen duftete und mit schwarzem Pfeffer gewürzt war.
»Wenn du meinst?«
Seine Gattin antwortete ihm nicht, legte das Besteck auf den halb aufgegessenen Teller und rückte mit ihrem steifen Oberkörper fünf Zentimeter weiter vom Tischrand weg. Aílton bediente sie an diesem Abend allein, denn Carlos hatte frei. Der Major Domus trat lautlos hinzu und servierte den Teller ab, entfernte sich mit ihm, um den Hauptgang für die beiden in der Küche unten zu bestellen.
Die Lings pflegten eine gemischte Esskultur. Selbstverständlich liebten sie weiterhin die chinesischen Speisen, ließen immer wieder Köche aus einem ihrer Restaurants zu ihnen nach Hause kommen, um echte kantonesische Küche genießen zu können. Gleichzeitig liebten sie jedoch auch den brasilianischen Stil mit viel Fleisch und geschmorten Früchten, versuchten sich auch öfters an europäischen Gerichten aus dem Mittelmeerraum, die von Marta besonders gerne gekocht wurden, weil die ihr besonders exotisch vorkamen.
Sihena nippte am Rotweinglas. Das Etikett der Flasche wies ihn als einen Chilene, einen Malbec aus, doch das interessierte sie nicht. Sie empfand den Wein vor allem als zu schwer zum leichten Carpaccio, wusste jedoch, dass Zenweih ihn sehr mochte.
»Der Wein erdrückt das Essen mit seiner Fülle.«
Sie sprach den Tadel aus, wie sie wohl auch bei einer Freundin über den letzten Platzregen gelästert hätte, der ihr einen Einkaufsbummel verdorben hatte, kühl bis kalt, herablassend bis lästerlich. Zenweih zuckte zusammen, stierte auf seinen Teller, auf dem er mit der Gabel die letzten beiden hauchdünnen Fleischscheiben zusammenschob, bevor er sie aufnahm und in den Mund steckte. Während er kaute, griff er nach seinem Glas und spülte den Bissen mit Wein hinunter, kaute trotzdem noch nach.
»Ich finde, er passt ausgezeichnet«, belehrte er seine Gattin ebenso kühl und beinahe feindlich.
»Wie du meinst«, kanzelte sie ihn ab, blickte an ihm vorbei.
Seit ihre Kinder mehrheitlich ausgeflogen waren und ihr eigenes Leben führten, kam es kaum noch zu echten Tischgesprächen zwischen dem Ehepaar. Nur wenn es sich um Geschäftliches handelte oder sich in Politik und Wirtschaft des Landes eine Veränderung abzeichnete, dann kamen sachliche Diskussionen und Erläuterungen hoch, von denen auch Carlos immer wieder profitiert hatte und deren Inhalt er an Pedro Alavalon verkaufen konnte, der ihn auf diese Weise jedoch gleichzeitig über die Familie Ling aushorchen konnte.
»Wir müssen die Bäume im hinteren Teil des Gartens zurückschneiden lassen«, wechselte Sihena das Thema und anbahnenden Streit, lenkte ihre Gedanken auf ein neues Gebiet.
»Hmm.«
»Was sagst du?«
»Ich sagte Ja.«
»Und? Soll ich das in die Wege leiten?«
Zenweih sah seine Ehefrau an, mit der er vier Kinder aufgezogen und mit der er über die letzten zwanzig Jahre die Vergrößerung ihrer Restaurant-Kette vorangetrieben hatte. Sie saß mit stocksteifem Rücken am Tisch und blickte ihn unnahbar und abwartend an. Ihr Oberkörper sah knochig und mager aus, Brüste waren kaum vorhanden. Unwillkürlich fragte sich Zenweih, wann er mit Sihena das letzte Mal geschlafen hatte. Es musste letzten Herbst gewesen sein, im März oder April. Er erinnerte sich gut an die graue Haut auf ihrem Rücken, als er sie von hinten stieß, so, wie sie es von ihm verlangt hatte. Er mochte diesen Doggy Style überhaupt nicht, weil ihr schlaffer Knaben-Arsch kaum Polster schuf und er mit seinem Becken deshalb stets schmerzhaft mit ihren Knochen zusammenstieß, was ihm nach kurzer Zeit jede Lust nahm. Deshalb kam sie auch nicht zum Höhepunkt, verkrampfte sich bloß bis zum Äußersten, verlangte von ihm, dass er sie mit seiner Zunge bediente, ebenso unwürdig und gleichsam einem Hund, wie Zenweih befand. Meistens musste sie dann doch noch zusätzlich mit dem eigenen Zeigefinger ihre Klitoris stimulieren, um irgendwann, nach seinem Gefühl endlos langen Minuten, endlich zum Orgasmus zu gelangen. Für Zenweih war dies das Zeichen, von ihrem Körper endlich ablassen zu dürfen. Oft rollte er sich gleich danach auf seiner Seite des Betts zusammen und schlief kurz danach ein, während Sihena noch lange neben ihm wach lag.
Sie dachte in diesen Momenten an die glücklichen und erfüllten Tagen zurück, die ersten Ehejahre, als sie noch keine Kinder geplant hatten und sie sich voller Elan in ihre Geschäfte stürzten, gleichwertige Lebenspartner, die sich nichts schenkten oder sich einander alles schenken konnten.
Damals war Zenweih oft sehr liebevoll gewesen, hatte sich Zeit beim Sex gelassen, erforschte mit viel Freude ihren Körper, suchte die passenden Stellen, probierte die richtigen Stimulationen aus, bis sie völlig in ihm und mit ihm aufgehen konnte. Doch nach der Geburt des ersten Sohnes begann seine Leidenschaft zu sinken. Erst unmerklich und schleichend, durch Kopfschmerzen oder einen allzu vollen Terminkalender begründet. Sie schrieb das sinkende Interesse zuerst ihrer körperlichen Veränderung zu. Ihre Scheide war nicht mehr so eng und stimulierend wie zuvor und er hatte Mühe, in ihr zu kommen. Doch das korrigierte sie mit der Massage seines Hodensacks während des Koitus und das funktionierte auch ganz gut, denn sie gebar ja noch einen zweiten Sohn und danach zwei Töchter in den Folgejahren. Doch das frühere Begehren in seinen Augen erlosch zusehends, verschwand aus seinem Gesicht und so auch für immer aus ihrem Leben.
Sich begehrt fühlen, vom eigenen Ehemann oder anderen Männern, welche Frau wollte darauf freiwillig verzichten? Dies gehörte einfach zur Weiblichkeit, war ein Teil der Natur. Doch Zenweih versagte ihr dies, ging immer unpersönlicher mit ihr um. Selbstverständlich kam Sihena ihm bald einmal auf die Schliche, fand die eine oder andere Affäre ihres Ehemanns heraus. Da war diese süße, achtzehnjährige Kellnerin aus ihrem Restaurant an der Sete de Setembro. Die war ihm ein paar Monate lang Gespielin gewesen. Zenweih hatte ihr sogar eine hübsche 3-Zimmer-Wohnung eingerichtet und besuchte sie einmal pro Woche, meistens am Mittwochnachmittag, bevor ihre Abendschicht begann. Sihena stellte ihn nicht zur Rede, denn in dieser Zeit bemühte sich ihr Ehegatte ganz besonders um ihre Aufmerksamkeit, schlief auch wieder regelmäßig mit ihr, war zuvorkommend und zärtlich wie kaum je zuvor. Ein schlechtes Gewissen machte aus jedem mittelmäßigen Ehemann einen brauchbaren Liebhaber. Und nach über zehn Ehejahren war dies doch bereits weit mehr, als die meisten anderen Gattinnen beanspruchen durften.
»Ja. Gib doch dem Gärtner Bescheid.«
Sihena nickte, dachte einen Moment lang darüber nach, mit wem ihr Ehemann derzeit wohl schlief. Doch es war ihr egal.
»Ich werde die Küchenmannschaft an der Avenida Floriano komplett auswechseln. Die arbeiten nicht effizient genug, produzieren auch viel zu viel Abfall«, teilte ihr Zenweih etwas Geschäftliches mit, das Sihena nicht weiter interessierte.
»Abfall ist Diebstahl an uns«, stimmte sie ihm trotzdem zu.
Aílton kam mit zwei Tellern mit Wärmehaube von unten hoch, stellte den einen vor Sihena Ling ab, ging dann zum Hausherrn, wechselte dort den leeren Vorspeisenteller mit dem Hauptgang aus. Seine Arme waren zu kurz, um beiden Hauben gleichzeitig zu lüften. So hob er sie zuerst bei Zenweih an und ging mit ihr zur Hausherrin hinüber, nahm auch diese weg. Marta hatte die schmalen Tagliatelle selbst hergestellt und ließ sie mit gegarten Schrimps und an einer Prosecco-Rahm-Soße servieren. Spaghetti con i camberetti alla crema di prosecco hatte Marta ihr Gericht genannt und freute sich am langen Namen, den jedoch weder Zenweih noch Sihena kannte und sie auch nicht interessierte. Doch die Komposition duftete wunderbar, nach Meer, nach Strand, nach Freiheit und Lebenslust. Sihena rümpfte ihre Nase, denn sie schätzte Meeresfrüchte ganz allgemein nicht so besonders, doch dienstags stammte der Hauptgang abends stets aus dem Meer, seit sie vor fünfzehn Jahren in dieses Haus eingezogen waren.
Zenweih dagegen freute sich an der sämigen Soße mit den klein gehackten Kräutern und ihrem leichten Knoblauch-Duft. Sie verband die salzigen Nudeln kulinarisch mit dem zarten Fleisch der Schrimps, schuf so die perfekte Symbiose zwischen Meerwasser und Meerestier, wie ein Funke des Lebens selbst. Er nahm einen Schluck Wein, sog noch einmal den Duft des Tellers in sich, nahm voller Vorfreude die Gabel auf, begann sie in den Nudeln zu drehen.
Sihena dagegen sortierte die Schrimps auf die Seite, griff zum Messer und zerschnitt die Tagliatelle zu mundgerechten Stücken.
»Bitten richten Sie Marta aus, sie habe sich heute einmal mehr selbst übertroffen.«
Das Lob des Hausherrn wurde vom Major Domus mit einem Kopfnicken quittiert. Er würde es gegenüber der Köchin mit keinem Wort erwähnen. Wie dumm doch Zenweih Ling war? Wie wenig er doch von der brasilianischen Seele verstand, auch wenn er in diesem Land geboren und aufgewachsen war? Setzte man Marta Gonzales zu oft zu große Flöhe in den Kopf, käme sie bloß auf die Idee, für ihre Leistung mehr verdienen zu müssen. Womöglich würde sie sich sogar um eine neue Anstellung bemühen und im schlimmsten Fall auch erhalten.
Aílton verstand seine Arbeit als Organisator des Haushalts der Lings. Dazu gehörte auch, verlässliche Angestellte auszuwählen, sie einzuarbeiten und möglichst lange zu halten, um nicht unnötige Zeit und Geld in sie zu investieren.
Carlos war in diese Strategie ebenso eingeweiht, vergaß jedes lobende Wort des Hausherrn zu den Leistungen aus der Küche oder auch des Zimmermädchens so rasch, wie er sie vernahm, hatte begriffen, dass sie beide den Puffer zwischen den beiden Frauen und den Lings waren, ein Filter, der Gutes wie auch Böses stets abgeschwächt, aufgeweicht oder überhaupt nicht weitergab.
»Wir Hausangestellte sind wie ein Mikro-Kosmos«, hatte ihm Aílton einmal erklärt, »wir sind ein lebender Organismus und jeder Teil mit dem anderen verbunden und in ewig gültigen Gesetzen gefangen. Wir müssen diese Gesetze leben und ihnen folgen, denn jede Zuwiderhandlung würde unweigerlich im Chaos enden.«
*
Alabima lag nackt auf einer der drei Liegen in der Sauna im Keller, schwitzte bei über neunzig Grad Hitze aus allen Poren, fühlte sich matt und schläfrig, eingelullt und behütet. In ein paar Minuten würde sie aufstehen und draußen ins große Becken mit dem eisigen Wasser tauchen, ihren Kreislauf in Schwung bringen. Doch bis dahin war noch etwas Zeit, zum Überlegen, aber auch zum Träumen.
Wie so oft, wenn sie allein in der Sauna lag, dachte sie an ihre Beziehung zu Jules, wie sie früher war, wie sie sie heute empfand, wie es mit ihnen beiden weitergehen konnte.
Immer noch stand der große Vertrauensbruch zwischen ihnen, als Jules von ihrem früheren Liebhaber erfuhr, sie jedoch nicht auf ihn ansprach und stattdessen für Wochen einfach wegfuhr, um erst mit sich selbst ins Reine zu kommen. Doch auch nach seiner Rückkehr schnitt er dieses Thema nie an, verhinderte jede ehrliche Aussprache, rannte sogar zweimal aus dem Haus, als sie davon sprechen wollte. Darum hing ihre frühere, kurze Affäre weiterhin wie ein Damoklesschwert über ihnen beiden und ihrer Beziehung.
Nein, sie hatte keine Angst, dass Jules sie verließ oder gar verstieß. Ihr Ehemann kannte sehr wohl seine eigenen Fehler, hatte sie ihr auch mindestens zum Teil ehrlich und offen gebeichtet. Sie hatte ihm verziehen, auch mit ihrem Herzen, nicht zuletzt wegen ihres eigenen Treuebruchs. Doch ihr damaliger Ausrutscher wurde ihr von ihm wohl immer noch nicht verziehen, war nur teilweise gesühnt, mit der langen Untersuchungshaft, die ihr ein übereifriger Staatsanwalt verschafft hatte. Doch von Jules selbst kam bislang kein Wort, weder ein Vorwurf noch eine Vergebung.
Ohne Ehre gab es keine Heimat.
Darüber war sich Alabima während den Wochen im Gefängnis klar geworden. Doch Jules hatte ihr diese Ehre genommen, hatte sie heimlich wohl des Mordes verdächtigt oder ihr die Planung der Tat zumindest zugetraut, hatte sie nicht in seine Gedanken einbezogen und stattdessen hinter ihrem Rücken nach Aufklärung gesucht, ihr nicht länger vertraut. Doch ohne Vertrauen gab es keine Ehre und ohne Ehre keine Heimat. Und was war ein Leben ohne Heimat? Ohne Wurzeln, die einen festhielten, wenn der Wind auffrischte, die einen aber auch stützten, wenn der Blitz einschlug?
Die Äthiopierin bemerkte, dass sie kaum mehr schwitzte. Um nicht zu überhitzen musste sie aufstehen und die Sauna verlassen, sich im Tauchbecken abkühlen und danach im Liegeraum entspannen und einen Liter Wasser trinken.
Aber sollte sie überhaupt aufstehen? War es nicht besser, der Ungewissheit der Zukunft zu entfliehen? Einfach hier liegen bleiben, den zunehmenden Durst ertragen, die heiße Luft weiterhin in sich aufsaugen, bis das Hirn überhitzte und die Kontrolle über den Körper verlor?
Was würde wohl Jules empfinden? Genugtuung? Ihren Tod als Sühne für ihren Treuebruch und so ihre Affäre mit dem Studenten endlich akzeptieren?
Würde er über ihren Tod weinen?
Alabima glaubte es nicht.
Sie dachte an ihre Tochter Alina.
Mit nur sechs Jahren die eigene Mutter zu verlieren, das war hart. Über diesen Gedanken wurde Alabima schwermütig und noch trauriger, fühlte sich verloren. Sie weinte ohne Tränen, schluchzte leise. So einfach war es mit dem Sterben also doch nicht. Man hinterließ stets eine Lücke unter den Lebenden. Und für einige von ihnen spürte man die Verantwortung, konnte sie weder abstreifen noch einem anderen aufdrängen.
Alabima dachte an Jules und an den Gehirnkrebs, den der Schweizer vor zwei Jahren besiegt hatte. Wie schwer musste es ihm gefallen sein, noch einmal dem sicher geglaubten Tod zu entgehen? Sich mit dem bereits abgeschlossenen Leben erneut auseinander zu setzen? Sich ihm aufs Neue zu stellen? Die Äthiopierin konnte in diesem Moment tief in die Seele von Jules hineinblicken, erkannte seinen inneren Kampf, für das Weiterführen seines Lebens oder für die Erlösung durch den eigenen Tod.
Plötzlich stemmte sie sich von der Liege hoch und verließ die Sauna, stellte draußen die Heizung ab, ging hinüber zum Becken und stieg ohne Zögern ins kalte Wasser, spürte, wie die Hitze aus ihrem Leib getrieben wurde, wie ihr Blut zu pulsieren begann, sie mit neuem Leben ausfüllte. Sie betrat kurz die Dusche, hüllte sich danach in den bereit hängenden Bademantel, ging hinüber in den Ruheraum, legte sich auf eine der gepolsterten Liegen und schloss ihre Augen.
Sie hörte ihren Atemzügen zu, versuchte ihren Herzschlag zu spüren. Das Leben war schön. War das Leben schön?
*
Die beiden standen wieder unten an der Princelet Street und berieten sich.
»Die Polizei können wir nicht einschalten. Dafür wird Sheliza noch zu wenig lange vermisst«, stellte Henry klar, »bevor nicht 48 Stunden vergangen sind, unternehmen die Behörden nichts.«
»Aber bis dahin kann es doch längst zu spät sein?«
»Bislang wissen wir doch erst, dass Sheliza in den letzten Wochen zu dieser sunnitischen Moschee ging und wahrscheinlich auch heute Morgen hier war.«
Holly sah Henry fragend und auffordernd an.
»Ich will damit sagen, dass sie derzeit wohl überall sein könnte.«
»Aber wenn sie tatsächlich konvertiert ist? Ausgerechnet zu den Sunniten? Du hast doch gesagt, es wären Sunniten gewesen, die für den Tod ihrer Eltern verantwortlich waren?«
»Ja, das ist auch einer der Punkte, die ich noch nicht verstehe«, gestand ihr Henry, »doch auch Sherif ist Sunnit. Womöglich hat das alles eher mit ihm zu tun?«
»Und was unternehmen wir jetzt?«
»Viel können wir nicht tun.«
Holly sah ihren Lebenspartner ohne Verständnis an, meinte dann: »Aber du bist Henry Huxley? Du hast mit Jules schon die tollsten Abenteuer erlebt und schlimme Gefahren überstanden. Und nun fällt dir nichts mehr ein?«
»Danke für die Blumen, Holly. Doch in diesem Fall sind uns vorerst die Hände gebunden.«
»Wir könnten uns gewaltsam Zutritt zur Moschee verschaffen.«
Die Augen der aparten Frau funkelten angriffslustig und zornig, als sie sich an die Abfuhr durch diesen hochnäsigen Muslimen erinnerte.
»Sheliza ist kaum mehr dort. Ich denke, in diesem Punkt hat uns der Mann sogar die Wahrheit erzählt.«
»Und wenn wir diesen verrückten Imam ausquetschen?«
»Du hörst dich an wie eine CIA Agentin, die auf Terroristen losgehen will.«
»Und?«
»Bislang wissen wir doch bloß, dass Sheliza nicht mehr zu uns ins Hotel zurückgekehrt ist. Dass sie irgendwo gegen ihren Willen festgehalten wird, davon kannst du nicht ausgehen, ebenso wenig, dass sie heute Morgen hierhergefahren ist.«
»Aber es muss doch einen Grund für ihr Ausbleiben geben?«
»Daran denke ich, seit wir diese Afifa vor der Moschee angetroffen haben.«
Wieder forschte Holly im Gesicht des Briten.
»Und zu welchem Schluss bist du gekommen?«
Henry verzog seine Mundwinkel zu einem matten, traurigen Lächeln.
»Ich habe noch keine Antwort gefunden.«
Holly blickte ihm noch eine Sekunde lang an, dann nestelte sie ihr Smartphone aus der Jackentasche, schaltete es ein und begann im Internet zu surfen. Während dessen rief Henry im Hotel an und erfuhr dort, dass die junge Muslimin bislang nicht zurückgekehrt war. Nach einer Weile, verkündete die Britin: »Die nächste Polizeiwache ist nicht weit entfernt«, und marschierte auch schon los. Henry schloss zu ihr auf, sagte jedoch nichts.
Auf dem Revier mussten sie nicht warten, wurden gleich beim Betreten von einem der Polizisten hinter dem Tresen angesprochen. Holly erzählte vom Verschwinden Shelizas, erklärte dem Beamten ihren Status als Flüchtling aus Syrien und die Rolle von Henry und ihr als Pflegeeltern. Sie verschwieg allerdings die Schulprobleme und auch die wahrscheinliche Konvertierung zur sunnitischen Glaubensrichtung, konzentrierte sich auf die Aussagen von Afifa Mosul und des Bärtigen in der Moschee des verrückten Imam al-Muzaffar. Der Polizist hatte ihr wenig interessiert zugehört, zumindest bis der Name des Geistlichen gefallen war. Denn da horchte er auf und sah Holly das erste Mal nicht leicht spöttisch und ein wenig überheblich, sondern überrascht und gar ein wenig alarmiert an.
»Was hat Ihre Pflegetochter mit Imam al-Muzaffar zu schaffen?«, fragte er sie direkt.
»Das weiß ich nicht. Wir haben erst vor gut einer Stunde erfahren, dass Sheliza seit einigen Wochen zum Beten in diese Moschee geht.«
Henry mischte sich nun das erste Mal ein.
»Was hat es mit diesem Geistlichen denn auf sich?«, fragte er den Beamten.
»Ich will Sie nicht beunruhigen. Aber Chalid al-Muzaffar steht in Verdacht, Kämpfer für den Bürgerkrieg in Syrien anzuwerben.«
Holly und Henry schauten sich kurz an. Sie zeigte in ihrem Gesicht blankes Entsetzen, er höchste Unruhe.
»Sheliza ist schwanger, im siebten Monat«, beeilte sich Holly nun eine möglicherweise wichtige Tatsache dem Polizisten zu erzählen, »selbst unter ihrer Abaya ist die Bauchkugel deutlich zu sehen.«
»Und der Vater?«, wollte der Beamte wissen, »lebt der in Syrien?«
Henry winkte ab.
»Der Vater ist ebenfalls Flüchtling. Aus Aleppo, soweit ich weiß. Kennengelernt haben sich die beiden erst in der Türkei.«
»Doch er könnte heute in Syrien kämpfen?«
Henry zuckte unbestimmt mit den Schultern.
»Haben Sie ein Foto der Frau? Besitzt sie ein Handy? Haben Sie sie zu erreichen versucht?«, wurden sie nun vom Beamten gefragt und Holly zog ein Bild von Sheliza aus der Brieftasche und reichte es ihm: »Ja, sie hat ein Handy, doch es ist derzeit wohl abgeschaltet.«
Er nahm die Vermisstenanzeige auf, fragte auch nach der exakten Schreibweise von Sheliza bin-Eliks Namen und über welche Ausweispapiere sie verfügte, notierte sich die Handynummer.
»Und was unternehmen Sie nun?«, wollte Holly nach dem Unterschreiben vom Beamten wissen. Der hob seine Achseln und blickte die Frau bedauernd an.
»Viel können wir im Moment nicht tun.«
»Sie könnten die Moschee durchsuchen?«, schlug Holly vor, doch der Polizist schüttelte sogleich ablehnend den Kopf.
»Wo denken Sie hin, Miss Peterson? Kein Richter wird uns aufgrund der vorliegenden Fakten einen Durchsuchungsbefehl für ein Gotteshaus unterschreiben.«
»Dann sind wir völlig nutzlos hierhergekommen?«, fragte sie den Beamten zornig.
»Nein. Ich werde die Daten zur vermissten Person in den nächsten Minuten in den Computer eingeben. Falls sie irgendwo aufgegriffen oder kontrolliert wird, haben wir gute Chancen, dass man sie entdeckt und uns ihren Aufenthaltsort meldet.«
Holly schaute den Beamten an, als hätte der zwei Köpfe oder hätte Chinesisch gesprochen.
Schon wollte sie eine scharfe Entgegnung loswerden, da spürte sie die Hand von Henry auf ihrem Rücken. Sie blickte ihn kurz an, sah in sein ruhiges Gesicht und ließ ihre Schultern kraftlos sinken.
»Danke, Constable«, meinte sie nur, bevor sie mit Henry die Polizeiwache verließ.
*
Zenweih Ling gab am dritten Tag nach dem Verschwinden seiner Tochter die Vermisstenanzeige auf. Keine der Freundinnen oder Bekannten von Shamee wusste etwas über den Verbleib der Siebzehnjährigen. Zenweih rechnete mit dem Schlimmsten oder zumindest mit einer Entführung, hoffte jedoch auch die nächsten Tage über vergeblich auf eine Kontaktnahme durch Gangster mit Lösegeldforderungen. Auch Sihena gab sich besorgt, doch Zenweih konnte in ihrem Gesicht keine echte Anteilnahme und auch keine Furcht erkennen. Unterkühlt bis kalt war stets ihre Miene, weit mehr darauf bedacht, ihre Haltung zu bewahren, als mütterlich Gefühle zu zeigen.
Auch Mei und Chufu und die anderen Geschwister von Shamee waren längst informiert worden, konnten sich ebenso wenig einen Reim zum Verschwinden machen. Man wartete eine ganze Woche lang auf einen befreienden Anruf der Entführer, auf die Geldforderung für eine Freilassung. Doch weiterhin blieb jede Nachricht aus.
Eines Morgens meinte Mei zu Chufu: »Wir beide sollten endlich etwas in Sachen Shamee unternehmen und selbst nach Antworten suchen. Diese untätige Warterei macht mich noch wahnsinnig.«
»Denk an Kairo«, ermahnte sie Chufu.
»Was meinst du damit? Was hat Kairo mit dem Verschwinden von Shamee zu tun?«, gab sie scharf zurück.
»Ich mein nur«, beschwichtigte Chufu, »auch dort hatten wir beide keinen Erfolg, wenn du ehrlich bist.«
»Dann rufen wir halt Henry und deinen Vater zu Hilfe. Das hätten wir vielleicht von Anfang an tun sollen.«
Doch Chufu winkte erneut ab.
»Du weißt doch, dass Henry und Holly schon genug mit ihrer schwangeren Sheliza am Hals haben. Und mein Vater…?«
Er führte seine Argumentation nicht weiter aus, doch Mei Ling verstand ihn auch so und nickte zustimmend.
»Also nur wir beide.«
Chufu sah sie bekümmert an.
»Diesmal haben wir doch einen gewaltigen Vorteil auf unserer Seite«, meinte Mei und lächelte ihren Freund zuversichtlich an.
»Und welchen?«
»Na, hier in Brasilien verstehen wir die Leute wenigstens.«
Chufu schüttelte seinen Kopf und meinte: »Also ich für meinen Teil verstehe oft nicht einmal meine Freundin.«
Sie gaben sich einen zärtlichen Kuss, setzten sich mit einem Schreibblock ins Wohnzimmer aufs Sofa und begannen mit einem Brainstorming, sammelten erst einmal alles an Daten und Fakten zu Shamee, was ihnen nur in den Sinn kam. Leider wussten die beiden zu diesem Zeitpunkt noch nichts über den Angriff in der Boutique, als Shamee von drei Männern bedrängt wurde und man sie als Lügnerin bezeichnete. Sihena schätzte den Vorfall wohl nicht als wichtig genug ein, um ihn gegenüber Zenweih oder ihren anderen Kindern zu erwähnen.
*
Sie waren in ihr Appartement zurückgekehrt, hatten sich zwei Tassen Tee zubereitet und in der Wohnküche an den Tresen gesetzt.
»Können wir wirklich nichts weiter unternehmen? Bloß noch abwarten und hoffen?«
Holly konnte sich nicht mit der Untätigkeit abfinden. Henry antwortete nicht, nippte an der Tasse, sah nachdenklich drein.
»Vielleicht sollten wir Jules informieren?«
»Und wie soll uns Jules in diesem Fall helfen?«
Henrys Stimme klang weit bissiger, als er es gewollt hatte und Holly zuckte zusammen.
»Bitte entschuldige. Ich dachte bloß…«
»…dass es ein alter Mann nicht mehr bringt?«
Nun enthielt Henrys Stimme wieder genügend Schalk, so dass auch Holly lächelte.
»Also gut. Was hast du dir in der Zwischenzeit ausgedacht?«
Henry zögerte noch kurz, bevor er seine Überlegungen darzulegen begann.
»Sheliza hat wahrscheinlich nur auf Zureden dieser Afifa Mosul die sunnitische Moschee im Eastend besucht. Doch Sunniten hatten die islamistischen Kämpfer nach al-Busayrah gerufen, waren also indirekt für die Ermordung ihrer Eltern und Geschwister verantwortlich. Es muss ein sehr triftiger Grund bestehen, warum Sheliza auf diese Afifa hörte und ihr folgte.«
»Sherif, der Vater des Kindes, ist doch Sunnit?«
»Richtig. Und ich denke, dass dies auch der Grund sein könnte, warum sich Sheliza für die sunnitische Glaubensrichtung zu interessieren begann.«
»Du meinst, weil sie sein Kind unter ihrem Herzen trägt?«
Henry nickte und wirkte dabei bekümmert.
»Und in dieser Moschee fiel sie dann diesem verrückten Imam in die Hände?«
»Dieser Chalid al-Muzaffar gilt wohl im Eastend als Hassprediger und er wirbt Dschihadisten für die al-Nusra-Front oder die ISIS an. Verrückt ist er jedoch bestimmt nicht, Holly.«
»Aber du denkst, Sheliza wird von ihm oder seinen Männern festgehalten?«
Henry schüttelte verneinend den Kopf.
»Nein, das macht kaum Sinn.«
»Was dann?«
»Die Mehrheit der Bevölkerung in al-Busayrah ist doch sunnitisch, wie uns Sheliza erzählt hat.«
Diesmal nickte Holly, wartete auf weitere Erklärungen, doch Henry blickte sie nur abwartend an und im Gesicht der Frau begann es zu arbeiten, spiegelten sich ihre Gedanken. Da war zuerst eine tiefe Nachdenklichkeit, die wenig später von einem plötzlichen Einfall abgelöst wurde, der jedoch sogleich wieder einer starken Skepsis wich, bevor der blanke Schrecken darin stehenblieb.
»Du denkst doch nicht etwa…?«
»Doch«, meinte Henry lapidar und wirkte dabei ganz ruhig, doch Holly sah ihm die große Bitterkeit an.
*
»Sieh es doch als eine willkommene Abwechslung zu unserer Abschlussarbeit an.«
Mei war Feuer und Flamme für den Plan, auch wenn Chufu weiterhin skeptisch blieb.
»Warum willst du unbedingt Dr. Watson spielen?«
»Wieso Watson? Wohl eher bin ich Sherlock Holmes und du mein philippinischer Assistent.«
»Aber die Idee stammte doch im Grunde genommen von mir?«
»Nun sei nicht so kleinlich, Watson«, quittierte die Chinesin den Einwand ihres Freundes.
»Hast du überhaupt genügend Geld dafür?«, mäkelte er weiter herum, doch Mei nickte sogleich, »meine Eltern haben für jedes der Kinder einen Sparfonds eingerichtet. Und seit ich volljährig bin, kann ich über das Geld frei verfügen. Zumindest theoretisch.«
»Was heißt theoretisch und wie viel ist es überhaupt?«
»Ich glaube, es sind etwa eine halbe Million Real.«
»Ist das eine Glaubenssache?«
Einen Moment lang blickte Mei irritiert, bevor sie lächelte und ihm antwortete.
»Nein, aber so genau habe ich den Saldo nicht im Kopf, Schlaumeier.«
»Und wieso theoretisch?«
»Weil ich noch nie versucht habe, von diesem Konto Geld abzuheben, ganz einfach.«
»Aber du besitzt die Vollmacht darüber?«
»Glaub schon.«
»Werd jetzt bloß nicht religiös.«
Als Antwort schlug ihm Mei mit ihrer kleinen, rechten Faust mittelstark gegen die linke Schulterkugel.
»Also gut. Klären wir erst einmal ab, ob du an dein Geld überhaupt herankommst. Danach sehen wir weiter.«
Sie gingen gemeinsam zur Bank und Mei erhielt dort die Auskunft, dass die Fonds, in der ihr Geld fest angelegt war, in den letzten Monaten leider stark an Wert verloren hatten, so dass ihr Vermögen auf rund die Hälfte zusammengeschrumpft war. Doch das kümmerte die Chinesin kaum, verlangte sie doch den sofortigen Verkauf der Anlagen, erhielt vom Bankangestellten die Auskunft, sie könnte in drei bis fünf Tagen über das Geld verfügen. Mei blickte den Mann irritiert an.
»Diese Fonds kennen spezielle Bedingungen für den Ausstieg der Anleger. Eine davon ist die Karenzfrist von bis zu fünf Arbeitstagen, damit der Verkauf des Fonds-Vermögens ordentlich abgewickelt werden kann. Sie verstehen?«
Mei verstand zwar nicht wirklich, schaute jedoch Chufu an und als dieser nickte, gab sie sich zufrieden.
Wieder zurück in ihrer Wohnung schauten sie sich im Internet nach Dienstleistern um, fanden problemlos Dutzende von Anbietern.
»Eigentlich müssten wir doch eher ein paar Bettler anstellen«, meinte Chufu augenzwinkernd, »der Form halber, meine ich.«
Mei lächelte ihn wissend an.
»Such doch mal im Internet unter Baker Street Boys.«